Werner Kahl: Jesus als Lebensretter

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Paul Gerhard Schoenborn
Dellbusch 298, 42279 Wuppertal

Werner Kahl: Jesus als Lebensretter. Westafrikanische Bibelinterpretationen und ihre Relevanz für die neutestamentliche Wissenschaft (New Testament Studies in Contextual Exegesis – Neutestamentliche Studien zur kontextuellen Exegese, hg. von Johannes Beutler, Thomas Schmeller und Werner Kahl, Bd. 2), Peter Lang-Verlag, Frankfurt a. M. 2007, 532 Seiten – ISBN 978‑3‑6,31‑55140‑0 br.

Werner Kahl, 1962 geboren in Essen; 1992 Doctor of Philosophy im Bereich New Testament Studies an der Emory University in Atlanta, Georgia (USA), seit 2006 Studienleiter der Missionsakademie an der Universität Hamburg, legt hier seine Frankfurter Habilitationsschrift vor. Er kennzeichnet den Ausgangspunkt seiner Untersuchungen folgendermaßen: Nach einer rund 150-jährigen, eng mit der Kolonialgeschichte verflochtenen Missionierung Afrikas meldeten sich heute afrikanische Theologen und Theologinnen als Subjekte mit einer eigenen Stimme im weltweiten Diskurs um die Auslegung der Bibel zu Wort. In der postkolonialen Zeit seit ungefähr 1960 sei das afrikanische Christentum stark gewachsen und habe sich bemerkenswert gewandelt. Es sei zum Teil „gegen massive Widerstände von Leitungsgremien europäischer Missionskirchen charismatisch indigeni­siert worden“ (18). Hunderte von „African Independent (Indigenous, Initiated) Churches“ seien entstanden. Dabei seien Bibelübersetzungen in den jeweiligen Volkssprachen und eine populäre, nicht akademisch kontrollierte Bibellektüre der Motor ihrer Entstehung gewesen.

Verstehendes Wahrnehmen

Werner Kahl will deswegen nicht nur akademische Interpretationen des Neuen Testaments kritisch untersuchen, sondern auch Zeugnisse des populären afrikanischen Schriftgebrauchs, der – im Gegensatz zur europäischen akademischen Exegese – ein besonderes Anliegen afrikanischer Theologen und Theologinnen sei. Er definiert seine Forscherhaltung erstens als „verstehende(s) Wahrnehmen, also Nachvollziehen des Wie und Warum jeweiliger Interpretationen im Kontext einer differenten Lebenswirklichkeit“ und zweitens deren „differenzierte Verhältnisbestimmung zum neutestamentlichen Text“ (19). Er beschränkt seine Untersuchung auf Ghana, wo er zwei Jahre Feldforschung betrieben und als Dozent für Neues Testament an der University of Ghana in Legon gearbeitet hat.

Um die eigenen Forschungen richtig einzuordnen, gibt Werner Kahl zunächst einen ausführlichen Überblick über die Entwicklung und Rezeption afrikanischer Bibelauslegung. Das Schwergewicht – nach einer Durchmusterung der afrikanischen Auslegungshistorie – liegt bei der Erörterung dessen, was in aktuellen – nicht zuletzt auch befreiungstheologischen – exegetischen Werken sichtbar wird. Für Werner Kahl ist offensichtlich: Entgegen einem früher gepflegten Vorurteil liegt das Hauptgewicht der afrikanischen Bibellektüre nicht so sehr auf dem Alten, sondern auf dem Neuen Testament. Hinzu kommt die Einsicht nicht nur von Bibelauslegern, sondern auch von Ethnologen, dass eine große Affinität des afrikanischen Wirklichkeitsverständnisses (Kosmologie einschließlich der Erfahrung numinoser Mächte) zu derjenigen der antiken Welt des Mittelmeerraumes besteht. Anders als im Alten Testament vorausgesetzt, gelten in den African Indepentend Churches und charismatischen Gemeinden wie zum Teil im Neuen Testament Dämonen als unabhängig wirkende, widergöttliche Mächte. Persönliche, soziale wie nationale Katastro­phen werden auf sie, nicht auf Gott zurückgeführt. Durch Jesus Christus wird den Gläubigen Partizipation an göttlicher Allmacht und damit die Mittel zur Überwindung sämtlicher gegenwärtiger Probleme ermöglicht, und zwar durch Besiegung der sie hervorrufenden Dämonen (vgl. 111).

Erleben der Nähe Gottes in konkreten Lebensbezügen

Im Anschluss an die Erörterung einer Studie von Itumeleng J. Mosala (Südafrika) über das Lukasevangelium als Literatur der Bourgeoisie hält Werner Kahl zum Beispiel als Erkenntnis auch für Exegeten aus dem nordatlantischen Bereich fest, man dürfe neutestamentliche Texte nicht auf vermeintlich theologisch‑universale Wahrheiten reduzieren. „Die frühchristlichen Zeugnisse sind vielmehr Ausdruck eines Erlebens der Nähe Gottes in konkreten Lebensbezügen, und diese gilt es nach ökonomischen, politischen, kulturellen usw. Gegebenheiten auszuleuchten. Nur so er­schließt sich das Referenzsystem, innerhalb dessen sich die Verfasser und die Re­zipienten der frühchristlichen Schriftzeugnisse bewegen“(94) Man dürfe aber den afrikanischen Lebenskontext nicht naiv in den zu rekonstruierenden antiken hineintragen, denn damit leistete man einer unkritischen Vereinnahmung der biblischen Schriften Vorschub.

Umgang mit neutestamentlichen Wundergeschichten

Die „offizielle“ christliche Religion des Abendlandes habe seit nunmehr 150 Jahren das Weltbild der säkularen Wissenschaften übernommen und schließe die Wirksamkeit personaler numinoser Kräfte als Quelle der Lebensförderung aus. Dem afrikanischen wie dem antik-mediteranen Weltbild eigne – so Werner Kahl – selbstverständlich auch logische Rationalität und Konsistenz. Aber beide bezögen im Gegensatz zum sogenannten „modernen Weltbild“ der westlichen Welt das Wirken personaler numinoser Mächte in ihre Plausibilitätsstruktur ein. Für westliche Exegeten, die ernsthaft diese Differenz wahrnehmen, ergäben sich kognitive Dissonanzen, etwa in Bezug auf „vorösterliche“ Heilungstaten Jesu. Sie konstantieren dann allenfalls eine „paranormale Begabung“ Jesu (195f).

Populäre Interpretationen des Neuen Testaments in Ghana

Bei seiner ausführlichen Untersuchung populärer Interpretationen des Neuen Testaments in Ghana stellt Werner Kahl zunächst allgemein zur Religiosität von Afrikanern fest: „Religiosität ist nicht etwa auf intellektuelle Aktivität beschränkt – etwa als Anerkenntnis eines Glaubenssystems –, sondern sie erfasst den ganzen Menschen in all seinen Lebensbezügen, das heißt neben seinen denkerischen Fähigkeiten auch sein Fühlen und Handeln. Religion ist darüber hinaus weder eine primär individuelle noch private, sondern gemeinschaftliche und öffentliche Angelegenheit. Das ganzheitliche Erleben und Praktizieren von Theologie und Glauben findet seinen prägnanten Ausdruck im ekstatischen afrikanischen Tanz als körperliche Manifestation des Erfülltseins mit dem Geist Gottes. Lebenswirklichkeit wird erfahren als unlöslich mit der numinosen Sphäre verwoben. Das heißt: der Glaube an die unmittelbare Präsenz und konkrete Wirksamkeit von Gott, Ahnen, Dämonen und/oder Geistern mitten im Leben wird vorausgesetzt“ (231).

Der Alltag der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit in Ghana ist bestimmt durch die ständige Bedrohtheit des Lebens aufgrund von Krankheiten, Naturkatastrophen und materieller Not. Sieht man von der schmalen superreichen Oberschicht ab, so steht dem Ghanaer durchschnittlich täglich weniger als ein Euro zur Verfügung. Daher kommt der Verbindung mit lebensrettenden und -erhaltenden Kräften allergrößte Bedeutung zu.

Gegenwärtig bekennen sich neunundsechzig Prozent der ghanaischen Bevölkerung zum Christentum – mit ansteigender Tendenz, was auf die aggressiven Kampagnen charismatischer Kirchen zurückzuführen ist (222). Die Bibel ist im alltäglichen Leben unübersehbar präsent. Ihr „kommt eine große Popularität zu. Auf den Busfahrten zwischen dem Zuhause und der Arbeitsstelle, in den Pausen am Arbeitsplatz, das heißt, überall, wo sich Zeit und Gelegenheit bieten, studieren Christen die Bibel als Wort Gottes. Sie führen sie ständig bei sich. Es handelt sich bei der Bibel für gewöhnlich … um eines der wenigen Bücher im Besitz eines ghanaischen Christen. Sicher aber ist die Bibel das meistgelesene Buch in Ghana“ (254). Die Wertschätzung der biblischen Botschaft spiegelt sich in Liedern, Gebeten, Tänzen, Weisheitssprüchen, Autoaufschriften wider. Das Neue Testament wird als „more powerful“ dem Alten Testament vorgezogen. „Die Mächtigkeit Gottes wird … vor allem in den Erzählungen der Wundertaten Jesu greifbar“ (256). Die Allmacht Gottes erweist sich konkret in Wohltaten, die das Leben fördern. In der Präsenz des Geistes Gottes erhält man Anteil daran. „ In der Verbundenheit mit diesem Geist erwarten die Gläubigen konkrete Manifestationen des segensreichen Einwirkens der göttlichen Power in ihrem Leben“ (257) und zugleich die Abwehr widergöttlicher dämonischer Mächte, die das Leben bedrohen.

Jesus als Lebensretter

Werner Kahl zitiert und analysiert eine große Zahl volkstümlicher Lieder und Gebete. Sein Werk ist regelrecht eine Fundgrube solcher populären Glaubenszeugnisse. Sie aktualisieren die lebensrettende Vollmacht Jesu für die Gläubigen (292):

The royal blood has bought me,

The royal blood has saved me,

The blood has made me beautiful,

It has set me free.

The blood of Jesus,

There is power in it.

There is power, power, wonder working power

In the blood of the lamb.

There is power, power, wonder working power

In the precious blood of the lamb.

Man muss sich bei der Lektüre vergegenwärtigen, wie ein solches Lied immer und immer wieder wiederholt wird und man tanzend und in Trance die lebensstärkende Kraft des Geistes Gottes erfährt: Jesus ist der Lebensretter.

Werner Kahl zeigt auf, wie in den letzten Jahrzehnten, und nicht nur in Ghana, sondern in ganz Afrika eine Lektüredisposition entstanden ist, die aus den Bibeltexten das Versprechen materieller Wohlstandes herausliest: „Wiedergeborene“ Gläubige sind für den Empfang von Erfolg bestimmt „You are born again to win, not to loose“ (267). Die Erwartung der „Lektüregemeinschaft“ richtet sich nicht auf ein transzendentes Heil, sondern massiv auf die Veränderung der präsenten Lebensbedingungen durch Gott.

„Prosperity Gospel“?

Die scheinbare Nähe der Horizonte der antiken Bibeltexte und der ghanaischen Wirklichkeit verstelle oft, so Werner Kahl, die besonderen Akzente der biblischen Botschaft. Bei Bezugnahmen auf Wunderheilungserzählungen des Neuen Testaments zum Beispiel werde der Aspekt der power Jesu in den Mittelpunkt gestellt, während eine im Erbarmen oder im Mitleid gründende Motivation Jesu zur Heilung außen vor bleibe. Auch das Thema der Feindesliebe werde kaum aktualisiert, weil sich nach traditionellem Verständnis hinter dem menschlichen „Feind“ auch der „Satan“ verbergen könne (339). Bei aller wohlwollend-teilnehmenden Interpretation der ihm vorliegenden Texte konstatiert und problematisiert Werner Kahl die Gefahr einer benutzenden Vereinnahmung der neutestamentlichen Texte durch ein sogenanntes „Prosperity Gospel“.

Akademische Interpretationen des Neuen Testaments in Ghana (343-492) zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Tendenzen der populären Bibellektüre respektieren und aufnehmen. Wissenschaftliche Bibelexegese ist eng mit dem Kirchenleben verbunden. Zwar sind viele der professionellen Exegeten auch westlich geschult, aber ihr Bemühen geht nicht dahin, nordatlantischer Theologie zum Durchbruch zu verhelfen. Nein, sie sind bestrebt, populäre Evangeliumslektüre zu korrigieren und zu vertiefen. Dabei entsteht seit den neunziger Jahren unter den afrikanischen wissenschaftlichen Exegeten eine, wie Werner Kahl sie nennt, „Überlebenstheologie“, die sich in Aufnahme biblischer Impulse an den Bedürfnissen der absolut Armen ausrichtet. Der im Neuen Testament wenig vertretene Würdetitel Jesu Christi als des „sotér“ spielt im Sinne von „Lebensretter“ eine überragende Rolle. An ihm ausgerichtet entsteht eine „deliverance theology“ – eine Errettungstheologie – in Absetzung von einer „liberation theology“ – einer Befreiungstheologie.

Herausforderung für Theologie und Kirche in unserem Land

Werner Kahls Habilitationsschrift ist mehr als eine Spezialuntersuchung, die höchstens Missionstheologen interessieren kann. Ich betrachte sie in mehrfacher Hinsicht als eine Herausforderung.

Nennen möchte ich erstens die methodologisch-hermeneutische Information für alle, die reflektiert – meist von Berufs wegen – Texte der Bibel lesen und interpretieren. Denn bei Textwahrnehmung und Textauslegung passiert nach Darlegung heutiger Hermeneutik mehr als Feststellung und Weitergabe des „objektiven“ Inhalts.

Zweitens Werner Kahls Darlegungen vermitteln massiv eine konkret-ökumenische Perspektive. „Die Zeit der Herrschaft des weißen Mannes ist vorbei“, hat Ernst Käsemann schon vor einer Generation prophetisch immer wieder gesagt. Die nordatlantische Christenheit öffnet sich bis heute dieser Einsicht nur zögerlich. Das liegt an mancherlei Gründen: Absolutsetzen der eigenen theologischen Tradition und Wissenschaftspflege, eurozentistisches, auf Finanzreichtum gestütztes Überlegenheitsgefühl, Blindsein und Taubsein für die Andersheit der Anderen. Und nicht zuletzt: Bedrohungsängste. Afrika ist für uns nicht mehr weit weg. Afrikanische Migranten leben dicht bei uns, wir begegnen ihnen jeden Tag. Manche von uns haben sogar schon die Vitalität und Geisterfülltheit ihrer Gottesdienste, ihrer Lieder und Verkündigung miterlebt.

Drittens werden wir mit Fakten im gegenwärtigen Afrika konfrontiert, Sachverhalte, die massiv vorhanden sind, ob sie uns gefallen oder auch nicht: Unübersehbar ist die rasante Ausbreitung eines vielgestaltig charismatischen, pfingstlerischen Christentums in Afrika, aber auch in Lateinamerika. Ferner die konkrete, auf Wunder hoffende Inanspruchnahme Gottes im Glauben von Menschenmassen, deren persönliche Nöte so groß sind, dass wir sie uns im Grunde nicht vorstellen können. Es wäre eine zynische Verkennung einer eingebildeten eurozentristischen Christenheit, hierüber als von einem religiösen „Opium des Volkes“ zu urteilen, in das sich afrikanisches Christentum rückverwandelt. Weiter: In den letzten Jahrzehnten kommen „außer-abendländische“ kulturelle Traditionen nach einer Zeit der kolonialistischen Zurückdrängung und Überfremdung wieder zur Geltung und erweisen sich wie vordem stark und lebensförderlich. Das ist mehr als ein ethnologisch interessantes Phänomen. Es sind Merkmale einer starken Kultur, die sich wieder befreit. Und last not least werden wir gründlich informiert, dass eine methodisch kontrollierte, eigenständige afrikanische Bibelexegese heranwächst, die sich abkoppelt von nordatlantischen Auslegungstradionen.

Werner Kahls Werk „Jesus als Lebensretter“ hat das Zeug, ein Standardwerk im missionstheologischen und bibelhermeneutischen Bereich zu werden.

Der Autor ist Pfarrer i.R. der Evangelischen Kirche im Rheinland.

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