Okko Herlyn, „Was ist eigentlich evangelisch?“

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Paul Gerhard Schoenborn
Dellbusch 298, 42279 Wuppertal

Okko Herlyn, „Was ist eigentlich evangelisch?

Neukirchener-Aussaat-Verlag, Neukirchen-Vluyn 2015, 191 Seiten,14,99 Euro,

ISBN 978-7615-6241-3 (Print), ISBN 978-7615-6242-0 (E-Book)

Das Cover der Printausgabe des Werkes hat eine Bauchbinde. Auf der ist zu lesen:Theologie als Lesegenuss, geht das? Okko Herlyn liefert den Beweis. „Oha, eine starkeAnpreisung!“ dachte ich. Aber es war nicht zuviel versprochen. Ich habe Okko Herlynsneuestes Buch: „Was ist eigentlich evangelisch?“ in einem Zug durchgelesen. Der Autor,pensionierter Theologieprofessor aus Bochum, als Emeritus noch immer gefragter Predigerund Referent und nicht zuletzt Maßstäbe setzender Kirchenkabarettist, versteht seinHandwerk. Er holt seine Leser in jedem Kapitel durch Alltagserfahrungen ab: durch Erörternvon einfach so dahingesagten Redensarten, durch kleine Berichte von Gesprächen, die ergeführte hat: mit Bodo an der Theke, mit einer jungen Katholikin beim RegensburgerKatholikentags 2014, mit dem, was er beim Trampen oder in einem Traugespräch zu hörenbekam.

Wenn er dann zu seinen theologischen Informationen kommt, fällt seine Fähigkeit zurElementarisierung auf. Jeder Gutwillige kann ihn verstehen, und darauf kommt es ihm auchan. Er verwendet eine klare und verständliche Begrifflichkeit, grenzt sich ohne Aggressivitätgegen andere Positionen ab, formuliert niemals „churchy“ oder wie man früher gesagt hätte:er vermeidet durchweg die „Sprache Kanaans“. Im Gegenteil, er verwendet unverkrampftAlltagssprache bei der Entwicklung theologischer Gedanken.

So kommt Okko Herlyn leicht ins Einvernehmen den Adressaten des Buches: Menschen, dieMitglieder evangelischer Gemeinden sind, mögen es aktive Mitarbeiter oder „treueKirchenferne“ sein. Die Erfahrung zeigt, dass sehr viele, die sich als evangelische Christenverstehen, ihre Probleme damit haben, sich selbst oder anderen klarzumachen, was dasdenn bedeutet, Protestant zu sein und auf Formularen als eigene Konfession „evangelisch“ anzugeben. Ihnen will das Werk Orientierung geben, wenn die Frage auftaucht: „Was istdenn  nun eigentlich evangelisch?“

Das Werk enthält siebzehn gut gegliederte Kapitel. Im ersten Kapitel wird ausführlich geklärt,was das Wort „Evangelium – evangelisch“ beinhaltet. Die weiteren fünf Kapitel handeln vonden reformatorischen Grundüberzeugungen: allein die Schrift – sola scriptura; allein Christus– solus Chrisus; allein aus Gnade – sola gratia; allein durch Glauben – sola fide.

Okko Herlyn legt deutlich und bis zum Ende des Buchs das größte Gewicht auf dasreformatorische „sola scriptura“. Evangelisch sein heißt zuerst und vor allem: sich orientierenam Wort Gottes. Aus ihm folgt alles weitere, es bestimmt und stützt alles andere.„‚Evangelisch’ kommt von ‚Evangelium. Insofern kann man evangelisch grundsätzlich nur imHören der biblischen Botschaft sein. Deshalb steht in einem evangelischen Gottesdienstunbedingt die Predigt, d.h. die Auslegung eines biblischen Textes im Mittelpunkt. Äußerlichdrückt sich das so aus, dass wir in vielen evangelischen Kirchen als Blickfang nicht das Kreuzoder irgendeine künstlerische Darstellung vorfinden, sondern eine aufgeschlagene Bibelvorne auf dem Altar bzw. auf dem Abendmahlstisch. Sie erinnert an den reformatorischenGrundsatz ‚sola scriptura. Allein die Schrift. Evangelisch sein geht nicht ohne dasAufschlagen der Bibel“ (S. 21). Okko Herlyn kommt immer wieder darauf zurück, sowohl alsGrundsatz, sozusagen als cantus firmus, als auch indem er die Klärung von Einzelfragen vombiblischen Befund her vornimmt. Er erwähnt, wenn es notwendig ist, Differenzen unter denprotestantischen Konfessionen, betont aber durchweg das reformatorisch Gemeinsame undVerbindende. Gelegentlich werden Abgrenzungen zur römisch-katholischen Lehrevorgenommen. Vorrangig aber ist für Okko Herlyn das „sola scriptura“.

Von der reformatorischen Grunderkenntnis, dass der Mensch allein durch Gottes gnädigeZuwendung in Christus, sola gratia, gerechtfertigt werde, behaupte man heute oft – so OkkoHerlyn –, sie sage den Menschen der Gegenwart nichts mehr. Denn sie sei wohl dieerlösende Antwort auf Probleme der Menschen zur Zeit Luthers gewesen, aber das geltenicht mehr für uns heute. Okko Herlyn hält dagegen: Aber Vorsicht! Nur weil uns einebestimmte Begrifflichkeit fremd geworden ist, muss die damit gemeinte Sache noch langenicht erledigt sein. In der Sache hat das ‚sola gratia’ eine erstaunliche Aktualität“ (S. 44).

Luther war von Angst umgetrieben, dem fordernden Gott nicht zu genügen, die nach seinemVerständnis von Gott geforderten Werke nicht leisten zu können. Davon befreite ihn dieBotschaft des Evangeliums von Jesus Christus: Wenn du an Jesus Christus glaubst, bist du,so wie du bist, Gott recht. Du bist von Gott geliebt und angenommen, ohne dass dubestimmte Vorleistungen erfüllen musst, die dich total überfordern. Okko Herlyn verweist aufdie mancherlei „Götter“, die reichlich Opfer und zwanghafte Leistung von den Menschen derGegenwart fordern, ferner auf den Druck, den Ansprüche der Selbstinszenierung undSelbstoptimierung auf sie ausüben – und welche befreiende Wirkung von der Botschaftausgeht, angenommen zu sein, ohne etwas leisten und vorweisen zu müssen: Es ist eintiefes, , befreiendes Aufatmen, das von dieser reformatorischen Erkenntnis über dieJahrhunderte hinweg noch  zu uns herüberweht … ‚Sola gratia – allein aus Gnade’ – was füreine wichtige, befreiende Botschaft, die da der christlichen Gemeinde anvertraut ist, geradeheute, in Zeiten, in denen die Parolen von einem auf Deubel-komm-raus ‚gelingenden Leben,die Parolen von ‚Hauptsache Spaß, ‚Hauptasche gesund, ‚Hauptsache Erfolg’ inzwischen zuTyrannen geworden sind, unter denen Menschen zusehends leiden, auch wenn ihre Keep-smiling-Masken etwas anderes weismachen wollen“ (S. 44f).

„Sola fide“, allein der Glaube „meint die vertrauensvolle Annahme des Evangeliums“ (S, 52).Daran schließen sich mancherlei Fragen an, etwa die nach „Glauben und Verstehen (KapitelVII), nach „nüchterner Frömmigkeit“ (Kapitel VIII), nach dem evangeliumsgemäßenVerständnis des Gebets (Kapitel IX) und dem Tun des Gerechten (Kapitel X). Spannend undlehrreich sind die drei Kapitel, die sich mit dem Gottesdienst (Kapitel XI), Taufe undAbendmahl (Kapitel XII) und der Kirchenmusik (Kapitel XIII) befassen. Drei weitere Kapitelloten aus, was „allgemeines Priestertum der Gläubigen“ (Kapitel XIV), „Kirche von unten“ – Gemeindeleitung von der Basis her (Kapitel XV) und „Kirche für andere“ (Kapitel XVI) inevangelischem Sinn ausmacht.

Das Werk endet mit einer Zugabe – wie meist seine Auftritte als Kirchenkabarettist.„Evangelium und Humor“ (S. 183ff) ist ein Essay, der es in sich hat. Man erwartet aufgeräumtHeiteres, kriegt aber zunächst Saures. Und das ist auch verständlich. Denn wenn das gilt,was nach Okko Herlyn „eigentlich evangelisch“ ist und die kirchliche Wirklichkeit prägensollte, dann ergeben sich in Hinblick auf die real existierenden evangelischen Kirchen undGemeinden erhebliche Dissonanzen:

„‚Hauptsache locker’ – nach Jahrhunderten einer Kirche des Ernstes soll es nun offenbargenau andersherum gehen: Lockerheit, Leichtigkeit, Spaß als angemessene Methode, um inZeiten der Spaßgesellschaft die Sache der Kirche besser rüberzubringen. … In demZusammenhang ist zu beobachten, dass unter evangelischen Pfarrerinnen und Pfarrern dasInteresse an theologischen Inhalten und sachlichen Auseinandersetzungen merklich abnimmtzugunsten eines gesteigerten Interesses an einer möglichst attraktiven, ‚flockigen, eben mehrlockeren Darstellung des Evangeliums. … Show-Elemente halten Einzug: Begrüßung á laPrime Time, Talk am Altar, Interviews mit dem Publikum, Beamer und Powerpoint.Hauptsache locker. Kirche als Spaßfaktor in Zeiten einer Spaßgesellschaft  das scheintplausibel. Aber plausibel nach welcher Logik? Könnte es sein, dass wir mit dem neuenSpaßfaktor Kirche bereits in eine Falle getappt sind? In die Falle eines allgemeinenMarktgesetzes, wonach eine Ware sich besser verkauft, wenn sie einem bestimmten Bedarfentspricht“ (S. 184f).

Im Gegensatz dazu entwickelt Okko Herlyn vom Hören auf die Schrift ein Gegenkonzept, dasnicht nur für Kirchenkabarettisten gilt: Der Apostel Paulus sagt: „Wir sind Narren um Christiwillen“ (1 Korinther 4,10). Das will sagen: wir haben vom Evangelium her eine anderePerspektive, wir haben die Möglichkeit, auf Distanz zu gehen und den Zeitgeist in Frage zustellen: Seit Alters haben die Narren den Mächtigen – ohne Rücksicht auf die eigene Person,den Spiegel vorgehalten: humorvoll, aber mitunter auch beißend und treffsicher. Das wärenoch nicht die schlechteste Art von Glaubenshumor, die die christliche Zivilcourage besäßeund den heute Mächtigen spitz und treffend den Spiegel vorhielte, statt sich zum willfährigenErfüllungsgehilfen einer übermächtigen Vergnügungsindustrie machen zu lassen“ (S 188).Möchten das doch alle beherzigen, die in der einen oder anderen Weise die biblischeBotschaft in die Gegenwart vermitteln!

Meist gibt Okko Herlyn gegen Ende des jeweiligen Kapitels Anregungen, wie Gemeindenoder Gemeindegruppen die dargelegten evangelischen Perspektiven konkret in die Praxisumsetzen können. Deswegen lohnte es sich, das eine oder andere Kapitel bei einemPlanungswochenende eines Presbyteriums oder einer Mitarbeiterrüste zum Ausgangspunktvon Gruppenarbeiten zu machen.

Mein Fazit: Ein solides Sachbuch für jedermann und jede Frau, die sich von einemtheologischen Fachmann verständlich informieren lassen wollen, was nun „eigentlichevangelisch“ ist – ob sie nun zu den „treuen Kirchenfernen“ gehören oder nicht. Aber auch eindie Praxis anregendes Buch für aktive Gemeindemitglieder.

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