Paul Gerhard Schoenborn
Dellbusch 298, 42279 Wuppertal
Dieses Buch handelt von einer „Friedensfrau” der Nachkriegszeit, die als echte Protestantin eigene Wege des gewaltlosen Widerstands und der Versöhnung zwischen den Nationen ging. Eva Bormann, geboren 1912, kämpfte in der frühen fünfziger Jahren gegen die Remilitarisierung und Aufrüstung der gerade sich konstituierenden Bundesrepublik. Sie – Frau eines Pfarrers, der 1943 in der Sowjetunion fiel – trat unter Protest aus ihrer Kirche aus, weil diese die Aufrüstung im „kalten Krieg” unterstützte und ihr Wächteramt gegenüber dem Staat – jedenfalls in der Friedensfrage – nicht wahrnahm. Sie baute später mit ungebrochenem christlichem Mut ein Trainingszentrum für gewaltfreie Aktionen auf, half tatkräftig Friedensaktivistinnen in Nordirland, reiste hochbetagt mit einer internationalen Friedensgruppe nach Bagdad, um den ersten Irakkrieg abzuwenden. Weil die christliche Friedenbewegung der achtziger Jahre in der evangelischen Kirche Raum zur Entfaltung bekam, trat sie wieder offiziell in die Kirchen ein. Sie wurde, was man gut nachvollziehen kann, als ein zwar menschenfreundlicher, aber dennoch irritierender Störfaktor im niedersächsischen ländlichen Milieu angesehen. Deshalb bearbeitete man den Antrag von Friedensfreunden, ihr das Bundesverdienstkreuz zu verleihen, mehr als zögerlich. Aber schließlich wurde sie doch damit ausgezeichnet, diese Friedensfrau, die am Abend des Volkstrauertages 1949 die Kränze vom Krieger-Ehrenmal entfernt hatte, auf dem auch der Name ihres Mannes stand, die 1987 die Obrigkeit provoziert hatte, indem sie die Volkszählung boykottierte – und beide Male Verfahren wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses auf sich gezogen hatte.
Wer dieses Buch liest, für den wird die Nachkriegsgeschichte aus einer ungewöhnlichen Perspektive lebendig. Es gab eben noch etwas anderes als nur Wiederaufbau, Demokratisierung, beginnenden Wohlstand. Da waren Menschen, die die bitteren Lektionen der Jahre 1933 bis 1945 durchbuchstabierten und sich aktiv gegen die später viel beklagte Restaurierung jener Jahre stemmten. Die Zeitgeschichtlerin Beate von Miquel kommentiert das in einem klugen einleitenden Essay.
Doch wie kam gerade Eva Bormann dazu, solche doch für eine Pfarrwitwe ungewöhnlichen persönlichen Konsequenzen aus den Erfahrungen der NS-Zeit zu ziehen? Der Leser erfährt Erstaunliches. Eva Bormann war, wie ihr Mann, ein Gefängnispfarrer, wie so viele andere zugleich Christus- und Hitler-gläubig gewesen; beide gehörten zur Glaubensbewegung Deutsche Christen. Walter Bormann sah es als seine Christenpflicht an, in Hitlers Krieg zu ziehen. Die Witwe verstand seinen Tod zunächst – ganz im Banne der damals vorherrschenden idealistisch-christlichen Opferideologie – als einen notwendigen Beitrag zur Verteidigung von Volk und Heimat und versuchte, sich damit zu trösten.
Aber – eine ungewöhnliche Art von Trauerbewältigung – sie blieb über ihr Tagebuch in Verbindung mit dem Toten. Sie schrieb ihm darin von 1943 bis 1958 Briefe, indem sie sich ihm gegenüber ausspricht: über ihren alltäglichen schwierigen Überlebenskampf, über die vier gemeinsamen Kinder, über ihre Gedanken zu dem, was sie nach und nach über die Verbrechen der NS-Diktatur wahrnehmen muss, über die damit in ihr anhebenden Umdenkungsprozesse. Sie spricht mit dem für sie lebendigen Toten über die aggressiven Wahlkämpfe, über das erneute Versagen der Kirche, die den Staat nicht auf die Folgen seines Tuns aufmerksam machen will, über ihre innere Wandlung von der „Deutschen Christin” zur evangelischen Friedensfrau. Schließlich beendet sie förmlich das Gespräch mit dem Toten, dem „kleinen Du”, weil sie sich nun dem „großen Du” der Menschheit zuwenden wird, das nichts nötiger hat als inneren und äußeren Frieden.
Friedrich Grotjahn wurde schon vor vielen Jahren auf diese ungewöhnliche Protestantin aufmerksam. Er ist mehr als nur der Herausgeber dieses Buches. Er ist über weite Partien auch erzählender Berichterstatter, hat eine Auswahl aus den Bormann-Aufzeichnungen transkribiert, gliedernd Akzente gesetzt und einfühlsam die Texte kommentiert. Er interpretiert das, was in Eva Bormanns Innerem vorgeht und was sie fünfzehn Jahre lang mit ihrem geliebten Toten bespricht, als Erfahrungen einer Mystik, und zwar von christlicher Mystik. Denn sie erfährt dabei – und das beglückt und beseligt sie in Herz und Gemüt und sie schreibt es auch so nieder – ihren geliebten Toten als in Gottes Ewigkeit lebend und darum ihr nah. Und zugleich geht es ihr dabei um einen verantwortlichen, der realen Welt zugewandten Lebenskampf in der Nachkriegsgegenwart. Es ist möglich, dass Friedrich Grotjahn mit dem hermeneutischen Schlüssel „Mystik” Eva Bormann tiefer verstanden als diese sich selbst. Aber gerade dadurch wird die Unbedingtheit dieser Friedensfrau verständlich, die anderen Mystikerinnen der christlichen Tradition bis hin zu Dorothee Sölle in nichts nachsteht. „Ich habe mir geschworen, nicht zu schweigen.”