Religionsfreiheit als Leitbild. Staatskirchenrecht in Deutschland und Europa im Prozeß der Reform

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Dr. Walter Schöpsdau
Chrodegangstraße 10, 64653 Lorsch

Hartmut Kreß (Hg.), Religionsfreiheit als Leitbild. Staatskirchenrecht in Deutschland und Europa im Prozeß der Reform (Ethik interdisziplinär 5), LIT Verlag Münster 2004, 350 S.

Der europäische Einigungsprozeß hat nicht nur Rückwirkungen auf das Staatskirchenrecht der alten Mitgliedstaaten, z. B. im Arbeitsrecht; durch den Beitritt von Ländern mit orthodoxen Mehrheitskirchen kommt es auch zu einer Begegnung heterogener Staatskirchenrechte, die grundsätzliche Klärungen verlangt. Das in der EU-Verfassung niedergelegte europäische Religionsverfassungsrecht, ruht auf drei Säulen:

– der Achtung der Stellung der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten mit der gleichzeitigen Verpflichtung der Union zu einem „offenen, trans­parenten und regelmäßigen Dialog mit ihnen” (Art. 51),

– der Konzeption freiheitlich-paritätischer Pluralität der Religionen, die sich in Diskriminierungsverboten niederschlägt, und 

– der Garantie der negativen und positiven Religionsfreiheit als Grundrecht.

Der normativen Grundlegung eines modernen Religionsrechts aus evangelischer und katholischer Sicht sind die beiden ersten Beiträge des von dem evangelischen Sozialethiker an der Universität Bonn herausgegebenen Bandes gewidmet. Im zweiten Teil untersuchen Theologen, Juristen und Politiker einzelne Problemfelder in Deutschland, während der dritte Teil die Situation in den Niederlanden, der Schweiz und England und die staatskirchenrechtliche Reformansätze in Polen, Bulgarien, Rumänien und Rußland in den Blick nimmt. Auswahl und Qualität der Beiträge übermitteln einen vorzüglichen Überblick über sämtliche mit dem Einigungsprozeß verbundenen religionsrechtlichen Probleme.

Das Grundrecht der Gewissens- und Religionsfreiheit, das nach Kreß (S. 21-58) als „nor­ma­tive Grundlage der modernen Freiheitsidee überhaupt” gelten kann, hat ethisch in der Toleranz ein begriffliches Äquivalent. Nach einer Skizze der ideen- und rechtsgeschichtlichen Entwicklung legt Kreß dar, daß das Anliegen der Religionsfreiheit und Toleranz religionsübergreifend bereits aus der Binnenperspektive der Religionen und Konfessionen selbst zu begründen und diese Seite der religiösen Traditionen bewußter herauszustellen sei. Die These Gustav Menschings, wonach die monotheistischen Universalreligionen grundsätzlich exklusiv und intolerant seien, wird für das Judentum durch die von Kreß eingehender gewürdigte Religionsphilosophie Moses Mendelssohns (1729-1786) widerlegt; für das Christentum erinnert Kreß an die Einsicht des jungen Schleiermacher, daß „Duld­samkeit aus dem Begriff der Religion entspringt”, für den Islam an die Charta des Islam des Zentralrats der Muslime in Deutschland vom Jahre 2002, die auch den Religionswechsel oder das Recht, keine Religion zu haben, anerkennt.

Dadurch bahne sich innerhalb der Toleranzidee ein Paradigmenwechsel an von einer pejorativen, formalen oder indifferenten Toleranz zu einer aktiven „interreligiösen Toleranz auf gleicher Augenhöhe”, die unter Umständen in „materiale, dialogische” Toleranz münde und wechselseitige Bereicherung einschließe. Auch im Blick auf die bioethischen Dissense in der Gesellschaft sei kultivierte argumentative Auseinandersetzung und Toleranz im Sinn der Akzeptanz anderer Überzeugungen notwendig, wie sie beispielsweise in der Toleranzkultur der niederländischen Gesellschaft verwirklicht sei. Eine adäquate Toleranzkultur dürfe allerdings nicht zur Vergleichgültigung führen, sondern habe „den Dialog mit anderen und das Bemühen um die eigene, reflektierte Standortbestimmung zu verbinden”.

Im einzelnen sieht Kreß „gute Gründe”, auf den Gottesbezug in der EU-Verfassung zu verzichten, da er für Angehörige von Religionen ohne Gottesbegriff oder für religiös Indifferente die Funktion der Selbstbegrenzung von Macht nicht erfülle und mit der Sicherung der individuellen Grund- und Freiheitsrechte nicht in Einklang zu bringen sei. Für das Erfordernis einer tragfähigen Wertebasis dürfe der weltanschaulich neutrale Staat nicht auf eine zivilreligiöse Basis zurückgreifen. Bei der Kopftuchfrage begründe die Logik der Grundrechte einen Vorrang der Deutungsperspektive der Betroffenen selbst, der keine objektive Deutungskompetenz des Staates, was für den einzelnen subjektiv als religiös zu gelten habe, gegenüberstehe. Der freiheitliche Rechtsstaat kann allerdings auf Grenzziehungen und Mißbrauchseindämmungen nicht verzichten; so könne es nicht überzeugen, daß in Kanada islamischen Gruppen neuerdings die Regelung von Rechtsstreitigkeiten nach der Scharia gestattet wird.

Mit der Erklärung zur Religionsfreiheit hat das Zweite Vatikanische Konzil, so der katholische Bonner Moraltheologe Gerhard Höver (S. 59-77), ein „Sein-Sollendes, das in der Würde der Person begründet ist”, betont; es geht nicht mehr um „Toleranz, die ein Nicht-sein-Sollendes duldet”. Die Forderung der Religionsfreiheit hebe die moralische Pflicht des einzelnen, die Wahrheit zu suchen und anzunehmen, nicht auf, setze vielmehr gerade ein unbedingtes sittliches Beanspruchtsein voraus, das die Würde der Person ausmacht. Nach dem vom Konzil „tiefer begriffenen Verhältnis von Theonomie und sittlicher Autonomie” wachsen beide nicht im umgekehrt proportionalen, sondern im gleichsinnigen Verhältnis. Die Verpflichtung gegenüber der Wahrheit binde aber nicht nur den einzelnen, sondern auch die staatliche Gemeinschaft. Die katholische Kirche erkennt die Laizität des Staates nur an, soweit sie „als Autonomie der zivilen und politischen Sphäre gegenüber der religiösen und kirchlichen – aber nicht gegenüber der moralischen Sphäre” verstanden wird, woraus sich allerdings Konflikte ergeben, wenn spezifisch katholische Positionen als universale naturrechtliche Wahrheiten geltend gemacht werden. In der Situation des heutigen Pluralismus geht es für Höver darum, „hin­sichtlich der wechselseitigen Voraussetzung von Wahrheit und Freiheit den moralischen Status der Wahrheit selbst […] gegenüber neuen Formen eines ‘intoleranten Laizismus’ zu verteidigen”.

Das ergibt ein anderes Urteil über den Gottesbezug der EU-Verfassung als bei Kreß. Der Staat habe „auch in einem positiven Sinne die Religionen an der Gemeinwohlverantwortung zu beteiligen”, was nach den Grundsätzen „der distributiven, nicht der kommutitativen Gerechtigkeit”, also proportional und nicht einfach paritätisch zu geschehen habe. Damit wird von Höver „eine indirekte Kompetenz des Staates im Bereich des Religiösen” zugestanden, „nämlich die Proportion der Religion zum Gemeinwohl als rechtserheblich zu erkennen”, was konkret das Bekenntnis zu den christlichen Wurzeln in der EU-Verfassung und die Verpflichtung zu einem strukturierten Dialog mit den Kirchen impliziere. Das Prinzip der „distributiven Gerechtigkeit” spielt auch in dem Beitrag über das polnische Staatskirchenrecht (S. 293-304) eine Rolle. Danach dürfe die in der polnischen Verfassung von 1997 garantierte Gleichberechtigung der Kirchen und Religionsgemeinschaften „nicht im Sinne eines extremen Egalitarismus verstanden werden, der auf einer Gleichsetzung der Gleichberechtigung mit einer identischen Behandlung aller Religionsgemeinschaften ohne Rücksicht auf die zwischen ihnen bestehenden Unterschiede beruhen würde”. Nur wo sie gleiche Attribute besäßen, seien sie identisch zu behandeln; wo der Staat ein Attribut einer Kirche achtet, das die anderen Kirchen nicht besitzen, beispielsweise den Status des Heiligen Stuhls als Persönlichkeit des öffentlichen Rechts in den internationalen Beziehungen, werde folglich die Gleichberechtigung nicht verletzt.

Das in Europa ziemlich isoliert dastehende deutsche Kirchensteuersystem, dessen Problemen und Widersprüchlichkeiten der Frankfurter Staatsrechtler Hermann Weber (S. 81-103) nachgeht, wird zwar durch den Art. 51 der EU-Verfassung geschützt, gerät aber durch die zwischenstaatliche Mobilität der Arbeitnehmer in zusätzliche Akzeptanzschwierigkeiten. Eine infolge des Europarechts zu erwartende Erhöhung der indirekten Steuern in Deutschland, die eine Senkung der direkten Steuer nach sich ziehen wird, wird auch die Kirchensteuer treffen. Denn aus der Kirchensteuergarantie des Grundgesetzes läßt sich kein Anspruch der Kirchen herleiten, daß der Staat sein Steueraufkommen in einem so starken Maße über direkte Steuern lenken müßte, daß die Kirchensteuer als nur unbedeutende Zuschlagsteuer erhoben werden könnte, die weitgehend unbemerkt bleibt. Um aus der „An­nex­steuerfalle” mit ihren kirchlich nicht willkommenen Ungerechtigkeiten herauszukommen, empfiehlt Weber den Umstieg auf das System einer Kultussteuer nach italienischem, spanischem und ungarischem Vorbild, bei dem die Steuerpflichtigen einen Teil ihrer Einkommensteuer entweder kirchlichen oder anderen sozialen Zwecken zuwenden können. Dadurch entfalle zugleich ein Anreiz zum Kirchenaustritt, da durch ihn keine Einsparungen mehr erzielt werden.

Bei den durch den Islam in Deutschland aufgeworfenen religionsrechtlichen Problemen sieht der Staatskirchenrechtler Stefan Muckel (S. 119-139) zwei Auslegungstendenzen. Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, daß die Grundrechte des Art. 4 nicht einem Gesetzesvorbehalt unterliegen, sondern nur aufgrund der Grundrechte Dritter oder anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechtswerte eingeschränkt werden können. Konsistenter erscheint Muckel der Gegenvorschlag, der die durch Art. 140 ins Grundgesetz inkorporierte Bestimmung des Art. 136 Abs. 1 der Weimarer Reichsverfassung als qualifizierten Gesetzesvorbehalt deutet, der die Ausübung der Religionsfreiheit von der Beachtung der allgemeinen Gesetze abhängig macht. Als solche Gesetze, die sich nicht gegen die Ausübung der Religionsfreiheit als solche wenden, könnten etwa Vorschriften des Friedhofs- und Bestattungsrechts gelten, soweit sie dem Gesundheitsschutz und nicht nur der Landschaftspflege oder der Stadtplanung dienen. Ein Kopftuchverbot könne nicht mit der staatlichen Neutralität begründet werden, da die Lehrerin an der öffentlichen Schule nicht nur den Staat repräsentiere, sondern juristisch auch für sich selbst stehe und, sofern sie das Kopftuch aus religiösen Gründen trage, im staatlichen Bereich berechtigt sei, ihre Grundrechte auszuüben.

Ralf B. Abel, von 1996-1998 Mitglied der Enquete-Kommission des Bun­destages „Sog. Sekten und Psychogruppen”, geht (S. 141-165) am Beispiel juristischer Auseinandersetzungen mit der Scientiology-Organisation den Grundlinien der deutschen Rechtsprechung nach, die unter Zugrundelegung des von der Verfassung gemeinten oder vorausgesetzten Religionsbegriffs der religiösen Selbsteinschätzung von Scientology nicht gefolgt ist und sich dabei in einem europäischen Konsens bewegt. Doch selbst wenn es sich bei Scientology um eine Religionsgemeinschaft handeln würde, können Maßnahmen wie kritische Information seitens der Behörden oder Beobachtung durch den Verfassungsschutz gerechtfertigt sein, sofern der Schutz kollidierender Grundrechte Dritter oder anderer Rechtsgüter wie der freiheitlich-demokra­tischen Grundordnung eine Einschränkung des Schutzes des Art. 4 erfordern kann.

Auf die weiteren Beiträge des Bandes kann nur hingewiesen werden. Man erfährt unter anderem, daß die niederländische Verfassung keine expliziten Aussagen zum Verhältnis von Staat und Kirchen kennt und die Verfassungsmäßigkeit parlamentarische Gesetze nicht gerichtlich oder gar durch ein Verfassungsgericht wie in Deutschland überprüft werden kann, sondern sich durch den Gesetzgebungsprozeß selbst ergibt. Das komplizierte Religionsrechts in der Schweiz weist u. a. die Besonderheit auf, daß der Körperschaftsstatus nicht der römisch-katholischen Kirche als solcher, sondern von ihr zu unterscheidenden staatskirchenrechtlichen Körperschaften auf kommunaler oder kantonaler Ebene zukommt. Zu diesem Zweck werden den kanonischen Pfarreien öffentlich-rechtliche Kirchengemeinden zugeordnet, die auf kantonaler Ebene zu Kantonalkirchen zusammengefaßt werden und dort evtl. mit anderen römisch-katholischen Kantonalkirchen den Diözesen gegenüberstehen. Der Beitrag über Staat und Kirche in England sieht das eigentliche Problem nicht im „Establishment” der Church of England, das ihr vielfältige Möglichkeiten eröffne, sondern in der Ungleichbehandlung anderer Kirchen und denkt an Formen eines ökumenischen „shared establish­ment”, das deutlich machen könnte, daß „die englische Kirche” mehr als nur die anglikanische Kirche umfaßt. Das polnische System der Trennung von Staat und Kirche bei gleichzeitigem Zusammenwirken zwischen Staat und Religionsgemeinschaften zum Gemeinwohl ähnelt sehr dem deutschen Modell. Die Präambel der Verfassung nennt Gott als „Quelle der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen”, achtet aber auch die Überzeugung von der Existenz „anderer Quellen” dieser Werte. Ebenso läßt ihre Umschreibung der Verantwortung „vor Gott oder dem eigenen Gewissen” alternativen Begründungen Raum, auch wenn für die Vermittlung der objektiven Werte, die das Recht legitimieren, primär die Religionsgemeinschaften in Frage kommen. Das umstrittene bulgarische Religionsgesetz von 2002 bekräftigt – in dieser Reihenfolge – die Gewissens- und Glaubensfreiheit, die traditionelle Rolle der Orthodoxen Kirche in der Geschichte Bulgariens und die Wertschätzung von Christentum, Judentum, Islam und den übrigen Religionen. Es gerät aber mit sich selbst in Widerspruch, weil es zugleich die 1992 eingetretene Spaltung der Bulgarisch Orthodoxen Kirche durch einseitige Parteinahme gegen die Schismatiker zu beenden sucht und im Gegenzug die Kirche als Ersatzautorität zur Festigung des politischen Systems in Anspruch nimmt. Hier wirken orthodoxe Traditionen des Verhältnisses von Staat und Kirche („Symphonia”) fort, die sich stark vom westlichen Modell unterscheiden und auch in Rumänienbisher die Verabschiedung eines 1999 vorgelegten pluralistischen Religionsgesetzes scheitern ließen. In Rußlandentspricht solchen Tendenzen im ideologischen Bereich eine neue Empfänglichkeit für die wiederbelebte „russische religiöse Philosophie”, von der eher eine tragende einheitliche Wahrheit als kritische Reflexion von weltanschaulichen Wahrheitsansprüchen erwartet wird.

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