Auch die Leere des Universums hält manche Lehre bereit

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(Henning Genz, Die Entdeckung des Nichts – Leere und Fülle im Universum, rororo, Hamburg 1999, 360 zu lesende Seiten plus 37 Seiten Anhang)

Karl Graupeter
Comeniusstraße 16, 67071 Ludwigshafen

Das Vakuum ist faszinierend! Es ist nämlich nicht wirklich leer, es ist angefüllt mit Strahlung, mit Energien und vor allem mit Möglichkeiten. Es ist, als würde sich die Lehre der alten Philosophen nun doch endlich als wahr und gerechtfertigt erweisen: Das Seiende verabscheut das nicht Seiende. Darum muß die Leere schnell und spontan angefüllt werden mit allerlei Aktivität: Teilchen, Strahlung und Bewegung. Oder aber: Versuche man sich doch einmal ein “Nichts” vorzustellen – schon ist es nicht mehr “Nichts” sondern ein “Etwas” und damit vom “Nichts” verschieden, das es gerade eben noch sein sollte.
Henning Genz ergänzt ein weiteres Mal die Reihe der Bücher aus dem Fachbereich der Physik, die allgemein verständlich sein sollten, es aber kaum sind – vorausgesetzt, man versteht unter “allgemein verständlich” einen Leserkreis von über 50% derjenigen Menschen, welche der deutschen Sprache in Wort und Schrift mächtig sind. Aber auch eine Pfarrerin oder ein Pfarrer muß sich ganz schön ranhalten, wenn sie oder er verstehen möchte, worauf die Ergebnisse der Elementarteilchenphysik in den letzten Jahren hinweisen.

Das Verständnis des “Nichts” von Thales von Milet bis Einstein

Aber der Reihe nach:
Seit Stephen Hawking 1988 “Eine kurze Geschichte der Zeit” veröffentlicht hat, sind viele derartigen Bücher erschienen, Hawking ist teilweise überholt, aber der Verständlichkeit des Themas wurde nicht viel hinzugefügt. Ehrlich: Paul Davies (Die Unsterblichkeit der Zeit) oder Kip Thorne (Gekrümmter Raum und verbogene Zeit) waren noch ein wenig leichter zu verkraften, zumal Genz nicht einfach bei der experimentellen und theoretischen Elementarteilchenphysik der Gegenwart bleibt, sondern auch die ganze griechische Schule der Vorsokratiker, Parmenides, Anaxagoras, Pythagoras, Platon, Aristoteles und Augustinus bemüht – um nur einige zu nennen. Vielleicht soll man aber auch Lust gewinnen, sich mit der Vorstellung vom “Nichts” in der Philosophie und dem Glauben der alten Kirche zu beschäftigen: Alles das wird herangeführt und erklärt – manchmal etwas langatmig:
Die Geschichte von der Vorstellung des Vakuums umfaßt beinahe 2/3 des Gesamtwerkes. Dafür werden all die schönen Experimente zum Thema beschrieben, die in der Schule noch in der Lage waren, die Mittelstufenschüler zu fesseln.
Eingestehen sollte man sich vor aller Kritik, wie sehr unser Verständnis der Leere und des Vakuums abhängig war von der Philosophie der Antike, von der Lehre der Kirche und von einer Anschauung, die sich über den “Horror vacui” ein Brücke baute, die in die Irre führte: Das Vakuum ist nichts erschreckendes, es ist nichts verbotenes, es ist die Lokalisierung des Seienden mit faszinierenden Gesetzmäßigkeiten. 

Das Vakuum der Gegenwart: Ein großer Zoo von Teilchen und Strahlen

Außerordentlich interessant wird die Sache im steigenden Maße im letzten Drittel des Buches, wenn es um quantenmechanische und relativistische Anschauungen geht. Demnach beinhaltet des Vakuum die Möglichkeit, jederzeit Energie zur Verfügung zu stellen. Viel Energie für kurze, wenig Energie für lange Zeit. Diese Energie wiederum kann Teilchen zur Verfügung gestellt werden, die es grundsätzlich im Vakuum ständig in bunter Vielfalt gibt, denen aber gerade jene Energie fehlt, um eine wirkliche Existenz anzunehmen – darum werden diese Teilchen auch virtuelle Teilchen genannt. “Creatio ex nihilo” als kontinuierlich andauernder Prozeß, die Schöpfung kann ständig neue Materie hinzugewinnen, aus dem Nichts heraus – quasi als Kredit, der demnächst wieder zurückgefordert werden wird: Die Gesamtbilanz ist bei derartigen lokalen Schöpfungsakten immer “0”, positiv zur Verfügung gestellte Energien werden durch negative an anderen Orten des Vakuums ausgeglichen und dadurch, daß sich auch die entstandenen Teilchen in einer ausgleichenden Reaktion wieder auslöschen: Für jedes (negativ geladene) Elektron z.B. gibt es den Platz eines (positiv geladenen) Positrons. Nimmt es diesen Platz wieder ein, sind beide, Elektron und Positron nicht mehr vorhanden – oder in den Bereich der virtuellen Teilchen zurückgekehrt.
So enthält das Vakuum auch den virtuellen Leser dieser Zeilen noch einmal – immerhin als Möglichkeit – oder Herrn KP Cherdron, wie gesagt, das Vakuum, das Nichts, ist an Faszinosum kaum noch zu überbieten. 
Um es noch ein wenig mathematisch-physikalisch auf die Spitze zu treiben: Es wird vermutet, daß die Gesamtenergie des Universums eigentlich Null ist (oder in der Nähe von Null), das Seiende ist demnach nichts als eine – vorübergehende – Schwankung im eigentlich Nicht-Seidenden. 

Theologische Relevanz des “Nichts” – ?
Welche Auswirkungen hat das auf unsere Theologie, welch erleichternde Anstöße könnten Theologen alleine aus diesen Möglichkeiten ziehen: Falls alles “0” ist, ist eben alles “0”, kleine lokale Unebenheiten kann man da außer acht lassen, man muß es schon universal betrachten, diese kleinen lästerlichen Streitigkeiten immer wieder in unserer bescheidenen Ecke des Universums und in unserer Landeskirche, “Konflikte können (zwar) nicht immer gelöst werden”, aber mit ein wenig universal fundierter Toleranz könnte man doch schon zur Tagesordnung übergehen: Ist eine Sache nur lange genug unter den Teppich gekehrt oder mit dem Mantel der “Brüderlichkeit” gecouvert, wird die Zeit schon das ihrige tun, die Bilanzen ausgleichen und niemand wird mehr Fragen stellen und Antworten geben müssen.

Unsere geliehene Energie – das Gleichnis von den anvertrauten Kilojoule
Auch das “Higgs”-Feld sollte einen Theologen nicht unberührt lassen: Seit das Universum in seiner 10-33. Sekunde (0,-32 Nullen-1. Sekunde nach dem “Big Bang”) die lächerliche Temperatur von 1015 Grad unterschritten hat (ob Kelvin oder Celsius spielt bei diesen Dimensionen keine Rolle mehr), hat sich das so genannte Higgs-Feld gleichmäßig im Universum ausgebreitet und dafür gesorgt, daß 1.) Teilchen mit Massenzuweisung existieren und 2.) jene Masseteilchen auch die Möglichkeit eingeräumt erhalten, sich mit einer Geschwindigkeit von weniger als c (299790 km/s, Lichtgeschwindigkeit) fortzubewegen – oder sogar einfach stille zu stehen – welch beglückende Möglichkeit für eine kirchliche Verwaltung.
Unser Glück: So können wir uns wenigstens einen guten Tag wünschen, auch wenn wir es nicht so meinen; so können wir verweilen, nachdenken (?), beharren, dickköpfig sein, all das, was einem Photon bestimmt nicht, einem Neutrino wahrscheinlich nicht zustehen. 
So hat das Higgs-Feld unserem Universum eine beachtliche Energie zugeführt: Seit Einstein sollten wir ja wissen, daß die Energie einer gegebenen Masse aus dem Produkt dieser Masse mit dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit errechnet wird, und das sind bei ca. 75 kg Lebendgewicht pro Oberkirchenrat doch eine ganze Menge: 6,74 x 1015 Kilojoule – eine Atombombe müßte erblassen vor Neid, könnte man diese Energie einfach freisetzen, bringt es die Atombombe bei etwa 10 kg Uran “nur” auf etwa 8,2 x 108 Kilojoule – der erwähnte Oberkirchenrat sollte doch das 8 Millionenfache an Energie freisetzen können. So bleibt diese Feuerkraft gebunden bis zum Ende aller Zeiten, bis also das Vakuum die Energiebilanz einfordert, einfach ausgleicht, was ausgeglichen sein sollte – ausgleichende Gerechtigkeit im physikalischen Sinn, versteht sich. 
Es sollte sich jeder Mensch vor Augen führen, daß er eine große Menge geliehener Energie darstellt, die eines Tages zurückgefordert werden würde, erinnert uns das nicht an ein Gleichnis im 25. Kapitel des Matthäusevangeliums? O welche Weisheit verborgen in den Parametern von Raum und Zeit! 

Der Paravent
Gottes Nicht im klaren ist man sich allerdings bisher, ob dieser Bilanzausgleich wirklich stattfinden wird, alles ist möglich bisher, jedenfalls solange, bis man die letzten Parameter des Universums erforscht hat.
Nebenbei: Könnte man das Higgsfeld nicht auch als den Vorhang Gottes verstehen, hinter dem er sich für alle Zeiten vor den neugierigen Blicken seiner winzigen Geschöpfe verbirgt? Als Energiefeld ist es jedenfalls geeignet, uns einerseits Existenz zu verleihen, andererseits aber die Hintergründe dieser Existenz unerklärbar zu machen – denn die Temperatur 1015 Grad, oberhalb derer das Energiefeld kristallisiert und nicht mehr überall vorhanden sein wird, spottet selbst über unsere guten alten Sonne und jedem anderen Gestirn des bekannten Universums. Die Gelder zur Erreichung dieser Temperatur werden jedenfalls immer noch gesammelt – Kollekte zum Verständnis unserer Welt. 

Fragen an den Theologen 
Schick ist, daß selbst die Theorie der Schwarzen Löcher nicht fehlt. Über die neueren Vorstellungen des Elementarteilchenaufbaus kann man genauso etwas lesen (Stichwort: Quarks; davon begann man Ende der 70er Jahre zu reden) wie über Spekulationen, ob das Universum in sich zusammenfallen (der “Big colapse” nach dem “Big Bang”) oder für immer expandieren würde – beides ist, wie gesagt, möglich und interessanter Weise sogar ähnlich wahrscheinlich. [Nur haben jüngste astronomische Beobachtungen die Position der Verfechter eines “kalten” Todes des Universum gebessert: An manchen Himmelsobjekten stellte man eine Zunahme der Geschwindigkeit in der Fluchtrichtung des Universums fest: Kein Kollaps; wir werden uns im Nichts aus den Augen verlieren. Auch ganz tröstlich, wenn man sich im “kleinkarierten” Streit an einem fast unendlich winzigen Ort des Universums nicht einigen kann, Anm. d. Verf.] 
Theologisch von Relevanz: Gott und das Higgs-Feld (dazu müßten sich schon die Theologen Gedanken machen, das will Genz ganz bewußt nicht); Creatio ex nihilo in einem kontinuierlichen schöpferischen Prozeß; die Möglichkeit von allem Seienden ist an jedem Ort des Universums potentiell enthalten; die Gültigkeit der Naturgesetze wird für keinen Ort des Universums aufgehoben, aber diese Gültigkeit umfaßt mehr, als wir bisher meinten – welche Streiche sind unserem Schöpfer möglich, die wir noch nicht vorhersehen können; manche Naturgesetze gelten darum nur für unseren kleinen Raum, weil das Higgs-Feld die Symmetrie des Universums gebrochen hat und an den dabei entstandenen Verwerfungslinien Gesetze für gebrochene Symmetrie gelten – wir sind Bevorzugte einfach durch unsere spezielle Lage im Universum, was sagt das über eine gütige Vorsehung; eine einheitliche Theorie von allem und jedem (Theorie Of Everything) ist zwar denkbar, hat aber nur Gültigkeit bis zur 10-44. Sekunde der Existenz unseres Universums – danach zerfallen alle großen Theorien zu Stückwerk und können, wegen der geringen Energien im größer werdenden Raum, nicht mehr vereinigt werden: Soviel zur Sehnsucht des Menschen, Stückwerk zusammenzuflicken – und: Gott kann man nicht in die Karten sehen, weil der “Big Bang” alle Informationen eines “vorher” für alle Zeiten vernichtet hat.
Wie schön. Wie anspornend für einen Menschen, der sein “dennoch” ins “leere” All schreit in der unglaublichen Anmaßung: Materie denkt über sich selbst nach und versucht, sein “woher” bis ins Letzte zu ergründen – und schafft es “nur” bis in die 10-44. Sekunde nach Entstehung der Welt – da kommt Freude auf. 

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