Die Säkularisierungstheorie von Charles Taylor
Dr. Walter Schöpsdau
Chrodegangstraße 10, 64653 Lorsch
Die lange Zeit fast kanonische Säkularisierungsthese, wie sie erstmals von Max Weber formuliert wurde, hat angesichts der fortdauernden Präsenz oder gar der Wiederkehr von Religion in der modernen Gesellschaft ihre unangefochtene Stellung verloren. Die ungebrochene Gegenwart von Religion, wenngleich nicht unbedingt in ihrer traditionellen kirchlichen Gestalt, geht im nordatlantischen Kulturkreis jedoch mit einem Wandel in ihrem Auftreten und in ihrer gesellschaftlichen Funktion einher. Im Blick auf diesen Vorgang ist der Begriff der Säkularisierung als Problemanzeige nach wie vor brauchbar.
Den Hintergründen des Transformationsprozesses auf die Spur zu kommen ist das ambitionierte Ziel des kanadischen Sozialphilosophen Charles Taylor in seinem knapp 1300 Seiten starken, an Materialreichtum überbordenden Opus, dessen Titel Ein säkulares Zeitalter mit seinem unbestimmten Artikel bereits deutlich macht: Wer „Säkularisierung“ sagt, macht sich anheischig, eine Geschichte zu erzählen, in der sich Deskription und Deutung nicht trennen lassen.
Säkularisierung als Wende nach innen
Versteht man unter Säkularisierung den Umstand, dass in der funktional differenzierten Gesellschaft Gott aus der Öffentlichkeit verschwunden ist bzw. nur noch eine Rolle im Teilsystem ‚Religion’ spielt, so dürfte leicht ein Konsens über ihre Genese erreichbar sein. Die abendländische Trennung von Kirche und Staat, Religion und Politik ist in der mittelalterlichen Auseinandersetzung zwischen Papst und Kaiser angebahnt und wird durch die Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts beschleunigt, die mit der Einsicht enden, dass ein Zusammenleben im konfessionspluralen Gemeinwesen die Einklammerung der Wahrheitsfrage und die Selbstbeschränkung der politischen Ordnung auf die Sicherung von Recht und Frieden voraussetzt.
In einer zweiten Bedeutungsnuance besagt Säkularisierung, dass religiöser Glaube und Praxis nachlassen oder Menschen sich überhaupt von Gott abwenden. Dass damit die Säkularität der westlichen Welt noch nicht getroffen ist, lehrt ein Blick auf die USA, wo die kirchlich-religiöse Praxis gegenüber früheren Jahrzehnten sogar noch zugenommen hat. Selbst wenn hier der Kirchen- und Synagogenbesuch so hoch wäre wie der Moscheebesuch in Pakistan, müssten die USA als eine säkulare Gesellschaft gelten. Denn auch in einer christlich geprägten Gesellschaft des Westens stellt der Glaube grundsätzlich eine Option neben anderen dar, wovon in islamischen Gesellschaften bislang keine Rede sein kann. Das westliche Menschenrechtsverständnis schützt die Religionsfreiheit, es kennt nicht den Schutz der Religion.
Damit ist diejenige Bedeutungsebene von Säkularität erreicht, der Taylors Untersuchung nachgeht: Was ist passiert, dass wir nicht mehr in einer Gesellschaft leben, in der es unmöglich war, nicht an Gott zu glauben, sondern in einer Gesellschaft, in der dieser Glaube auch für religiöse Menschen nur eine von mehreren Optionen darstellt und von der selbst glaubende Menschen zugeben, dass sie für verantwortliches Leben und Handeln nicht unabdingbar ist? Taylor selbst erzählt seine Geschichte als Katholik, aber unter Würdigung der Gegenbewegungen vom Nominalismus über die Reformation bis zum „ausgrenzenden Humanismus“ eines Rousseau, Voltaire oder Camus, zur „immanenten Gegenaufklärung“ der Romantiker oder der Inhumanisten Nietzsche, Charles Maurras in Frankreich und Ernst Jünger in Deutschland. Die Kernthese der Untersuchung ist nicht völlig neu, aber selten in solch phänomenaler Breite vorgeführt worden: Die Säkularisierung kam gerade daher, dass man mehr Religion wollte.
Das erinnert an das Urteil über die Reformation, mit dem sich der eigentlich stramm anti-reformatorisch eingestellte Wiener Seelsorger Clemens Maria Hofbauer zu Beginn des 19. Jahrhunderts Ärger in seiner Kirche einhandelte: „Die Spaltung kam, weil die Deutschen das Bedürfnis hatten und haben, fromm zu sein.“ Taylors Diagnose lautet: Säkularisierung bedeutet „Exkarnation“ und begann mit einer Intensivierung des religiösen Glaubens. Sie macht die Religion zu einer Sache der gewissenhaften persönlichen Entscheidung und gibt sich mit der Hinnahme eines sinnhaft geordneten Kosmos, in dem sich Göttliches inkarniert, und einer Gott und Welt umschließenden Seinsanalogie nicht mehr zufrieden. Der Hintergrundrahmen eines möglichen Glaubens an Gott veränderte sich dahin, dass eine „radikale Reflexivität“ bestimmte Erfahrungen unmöglich macht und „Naivität […] heute niemandem mehr zu Gebote [steht] – dem Religiösen genauso wenig wir dem Irreligiösen“[1].
Zurückgewiesen ist damit die verbreitete Subtraktionsthese, wonach die Entstehung von Irreligiosität einfach die Folge des wissenschaftlichen Fortschritts wäre, der den transzendenten Horizont wegwischte und nur noch innerweltliche Belange wie das menschliche Wohl übrig ließ, um das sich in den modernen Gesellschaften alles drehe. Die These erklärt nicht, warum sich der moderne Humanismus dem Ideal universeller Gerechtigkeit und Wohltätigkeit verpflichtet fühlt. Ein solches Ethos ist nicht etwas, das bei der Subtraktion früherer Ziele und Loyalitäten zum Vorschein käme, sondern nur zu verstehen aus einer spirituellen Auffassung der Moderne von sich selbst, die einer Transformation religiöser Inspirationen gleich kommt.
Die Entdeckung immanenter spiritueller Ressourcen
Diese Beobachtung ist nicht weit entfernt von Nietzsches Urteil, dass der Sieger über den christlichen Gott nicht der naturwissenschaftliche Fortschritt, sondern die christliche Moral selbst war, die sich zu solcher intellektueller Sauberkeit sublimiert hatte, dass jeder Gedanke an eine dem einzelnen geltende persönliche Fürsorge eines Gottes „allen feineren Gewissen als unanständig, unehrlich, als Lügnerei, Feminismus, Schwachheit, Feigheit“ gelten müsse[2]. Die Rede vom Tod Gottes bezeichnet nicht einfach ein Subtraktionsergebnis, sondern „ein aus epistemischen und moralischen Anschauungen geschnürtes Paket“, das dem heroischen Selbstbild des „Mutigen“ schmeichelt, der unangenehmen Wahrheiten ins Gesicht schaut, auf bequemen Trost verzichtet und darin seine wahre Größe zeigt. Bei Camus trägt das Schauspiel der menschlichen Intelligenz, die sich in der Gewissheit des Scheiterns vor einer teilnahmslosen Wirklichkeit illusionslos für das Gute engagiert, einen Zug des Erhabenen, während der Atheismus eines Richard Dawkins seinen Überlegenheitsgestus daraus bezieht, dass er eine Geschichte erzählt, in der „die desengagierte wissenschaftliche Forschung mit einer Geschichte über das couragierte Erwachsenenalter verflochten wird“[3].
Die Geschichte der „Exkarnation“ begann mit einer von Taylor in Majuskeln als REFORM bezeichneten Tendenz, die im mittelalterlichen Nominalismus aufbricht und im Namen der Souveränität Gottes den Realismus der Universalien ablehnt: Es würde die Freiheit Gottes einschränken, wenn er nicht umhin könnte, nur das zu wollen, was durch die „Natur“ des von ihm geschaffenen Menschen (und nicht durch das, was Gott will) als sein Wohl bestimmt ist. Die Revolte gegen den Aristotelismus und eine auf der Teleologie der Natur basierende Ethik bewirkte eine „Objektivierung“ und „Distanzierung“ gegenüber der weltlichen Wirklichkeit, bei welcher der normative Aspekt der Dinge verlorengeht und zuletzt die Realität in „fact“ und „value“ auseinander bricht.
Zeitgleich mit dem Nominalismus drängte die Reform auf Hebung des religiösen Niveaus der Massen, lehnte volksreligiöses Brauchtum und kirchliche Vollzüge, die ex opere operato die Macht Gottes in Gebrauch zu nehmen schienen, als magisch ab und forderte die persönliche religiöse Hingabe, womit sie aber gerade eine „anthropozentrische Wende“ heraufbeschwor. Die vom 4. Laterankonzil verordnete jährliche Beichte und Kommunion der Gläubigen zielte auf eine Disziplinierung, zu der um 1500 auch das Programm einer Zivilisierung der Lebensweise hinzutrat. Bei Calvin bedarf es noch der Gnade, um der Zügellosigkeit zu wehren, ähnlich wie etwa heute ein lateinamerikanischer Landarbeiter sein Alkoholproblem durch Bekehrung in einer Pfingstkirche zu überwinden hofft oder der farbige Jugendliche durch Anschluss an die Nation of Islam der Drogenkultur entkommen will.
Paradoxerweise erweckten Reformeifer und Disziplinierung ein Gefühl der eigenen spirituellen Kraft, welches das gläubige Abhängigkeitsbewusstsein überlagert und am Schluss auch die Gnade als nicht mehr unbedingt nötig erscheinen lässt. Im Deismus des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts ist eine Beziehung Gottes zu uns nur in Gestalt einer von ihm geschaffenen unpersönlichen Ordnung der Dinge denkbar, in der das gottgewollte Ziel des Menschen auf die Verwirklichung einer Ordnung zusammenschrumpft, in der die Zwecke der vielen zu wechselseitigem Nutzen ineinandergreifen. Eine von Gott dem Menschen zugedachte Verwandlung, die das irdische Gedeihen transzendieren würde, schwindet aus dem Blickfeld; die schon von der Reformation eingeleitete Rehabilitation des gewöhnlichen Lebens erfasst nun auch den Bereich der sinnlichen Begierden.
Ein wachsendes Welt- und Selbstvertrauen und die Erfahrung der eigenen spirituellen Ressourcen erlauben, den Ort höchster moralischer Inspiration ganz im Bereich der Immanenz zu finden, ohne auf Gott Bezug zu nehmen. Es spielt dabei keine Rolle, ob das Motiv der selbstlosen Wohltätigkeit eher durch Aufklärung und Disziplin erzeugt wird oder spontan in einer ursprünglich guten Natur entspringt wie bei Rousseau oder in einer Kombination von beidem wie im kantischen Idealismus. In der Entdeckung „dieser innermenschlichen Quellen der Wohltätigkeit“ erkennt Taylor „eine der größten Errungenschaften unserer Zivilisation und die Stiftungsurkunde der modernen Ungläubigkeit“[4].
Die Ambivalenz des Vorgangs, der mit der religiös induzierten „Wendung nach innen“ begann, gestattet somit keine pauschalen Urteile. Am wenigsten ist die Mündigkeitserzählung der Neuzeit für den Aristoteliker und Kommunitaristen Taylor dort nachvollziehbar, wo sie die „Ethik ohne jegliche Bezugnahme auf das Gute zu rekonstruieren sucht“[5] und vor einem blinden, tauben und stummen Universum die moralischen Normen aus autonomer sittlicher Vernunft zu bestimmen beansprucht. In einem kantischen oder einem utilitaristischen Universum reagiert der barmherzige Samariter nicht mehr auf einen Anruf der Person, sondern handelt nach universalisierbaren Normen, wie sie das moralische Vernunftgesetz fordert. Eine solche Regelmoral interessiert sich nur für normative Aspekte des pflichtgemäßen und richtigen Handelns; Fragen des guten Lebens, der höheren ethischen Motivation oder der Werthaftigkeit der Objekte unser Liebe sind ohne die Prämisse einer moralischen Ontologie nicht mehr verstehbar.
In der von der katholischen Moraltheologie aufgenommenen antiken Tradition wurzeln Normen dagegen in dem, was der Mensch ist, und müssen aus seiner „Natur“ erhoben und definiert werden. Dass die Aura des moralischen Imperativs bei Hume, Kant oder gar Nietzsche eine bessere Erklärung finde als durch Bezugnahme auf Gott und den Kosmos, kann Taylor nicht finden. Die Fleischwerdung Gottes stifte eine neue Form der Zusammengehörigkeit zwischen dem Samariter und dem Juden und „reicht […] bis in das Netzwerk, das wir die Kirche nennen“[6]. Auch durch ästhetische Phänomene wie die gotische Kathedrale, Dante oder Bach ist der Unglaube aufgefordert, eine nicht-theistische Tonlage zu finden, in der man auf diese Werke reagieren kann, „ohne dass es kümmerlich wirkt“.
Freilich scheint die Faszination der Romantik gerade darin zu bestehen, dass sie eine subtilere Sprache gefunden hat, die allen „ontologischen Verpflichtungen“ aus dem Wege geht. Kunst wird nicht mehr als Mimesis begriffen, sondern als freischwebender schöpferischer Akt. Hierher gehört auch das Phänomen der Postmoderne, die den Gedanken eines maßgebenden Zustandes verwirft und von der ontischen Ordnung nichts übrig behalten möchte als die Anerkennung von ‚Differenzen’. Der postmodern proklamierte „Heroismus der grundlosen Gabe“ hat keinen Platz für ontologische Wechselseitigkeit, wie sie für die katholische Auffassung vom Verhältnis der Gemeinschaft und des Partikularen typisch ist.
Was auf dem Spiel steht
In Taylors Theorie kommt dem Karneval bzw. der Kategorie des Festlichen überhaupt eine Schlüsselfunktion zu, weil darin eine Ontologie durchschlägt, in deren Rahmen Raum und Zeit nicht als leere Behälter erfahren werden, sondern von heiligen Orten und höheren Zeiten durchsetzt sind und eine tiefere Gemeinschaft bezeichnen und bewirken. Eine höhere Zeit sammelt die normale Zeit und bewirkt, dass der Karfreitag 2010 näher am Tag der Kreuzigung Jesu ist als an einem beliebigen anderen Tag, der ihm auf der Zeitlinie unmittelbar vorausgeht. Rituale der Umkehrung wie der Karneval machen bewusst, dass die Ordnung selbst von der Energie eines Urchaos zehrt, das durch sie gefesselt wird. Die Ordnung steht in einem komplementären Verhältnis zu etwas jenseits der Ordnung. Zur Welt des Festes gehört ein Gefühl der Komplementarität, der wechselseitigen Notwendigkeit der Gegensätze, von einander widerstreitenden Zuständen, die nicht simultan erlebt werden können.
Es ist zwar auch eine alltägliche Erfahrung, dass zwei Dinge wie Arbeit und Ruhe nicht zur gleichen Zeit möglich sind, aber jene Gegensätzlichkeit spielt auf der moralischen und spirituellen Ebene. Die religiösen und sozialen Eliten wollen hingegen die Gesellschaft nach einem Ideal von Eindeutigkeit und einem keine Beschränkung duldenden Kodex ummodeln und huldigen einer Auffassung der Welt, in der sich die geheimnisvolle Komplementarität von Ordnung und Chaos überlebt hat. Politische Korrektheit und Nulltoleranz gegenüber dem widersprechenden Prinzip deuten auf eine „Auslöschung der Komplementarität“, durch welche die säkulare Gesellschaft den Guten die Konfrontation mit dem Bösen erspart[7]. Der Kosmos mit seinen Polaritäten von Oben und Unten, Ordnung und Chaos wandelt sich zum homogenen Universum mit einer eindeutigen Struktur.
Etwas von der ontologischen Geräumigkeit eines noch nicht homogenisierten Kosmos spiegelt sich in Taylors vorsichtigen Einschätzungen, die auch abweichenden Positionen ihr Recht widerfahren lassen. Er leugnet nicht die Berechtigung der Reformation und die Verdienste der Aufklärung, sieht aber im Purismus und im Egalitarismus der Reformatoren auch eine „protototalitäre Verlockung“ und einen ersten Schritt zu der „bornierten, homogeneren Welt“, in der wir heute leben[8]. Es hätte alles vielleicht anders kommen können, wenn auf der einen Seite die katholische Kirche des 16. Jahrhunderts durch den Geist von Erasmus statt von Johannes Eck repräsentiert worden wäre und auf der anderen die Protestanten auf sakrale Bräuche nicht so reagiert hätten, als handelte es sich um Gräuel und Götzendienst im Angesicht Gottes. Das Christentum als Glaube an den fleischgewordenen Gott würde gerade etwas ihm selbst Wesentliches verleugnen, „solange es an exkarnierenden Formen festhält“[9].
In manchem berührt sich die Theorie einer durch den Protestantismus intensivierten Exkarnation mit dem, was Manfred Lütz in seinem Bestseller Gott reißerisch und teilweise historisch irreführend[10]als Gegensatz zwischen katholischem Vollmenschentum und protestantischer Dürftigkeit, katholischer Weite und abstraktem Entweder-Oder à la Kierkegaard behauptet. Taylors Urteile diffamieren aber niemals, was er kritisiert; sein Ziel, „die Neuzeit vor ihren besonders vorbehaltlosen Befürwortern zu schützen“[11], verlangt den entschlossenen Schritt in eine Reflexivität, wo man auch der Frage einer möglichen kulturhistorischen Relativierung des christlichen Wahrheitsanspruchs nicht ausweichen kann.
Die Alternative, vor der wir nach Taylor stehen, lässt sich so beschreiben: Wie weit erscheint uns die über das menschliche Gedeihen hinaus reichende Transformationsperspektive eines Franziskus von Assisi als Erfüllung des menschlichen Wesens oder halten wir sie für eine sinnlose Entsagung und einen Anschlag auf das bürgerliche Prinzip des gegenseitigen Nutzens? Taylor ist überzeugt, dass die Nachfrage nach Religion in der Gesellschaft des westlichen Kulturkreises nicht verschwinden wird und die Attraktivität der Transformationsperspektive bestehen bleibt, solange die Gefahr einer Vernachlässigung der verpflichtenden Formen menschlichen Gedeihens nicht aus dem Blick gerät. Christentum und Buddhismus jedenfalls kommen sich darin nahe, dass sie beide mit einer spirituellen Transformation jenseits der Ebene des ökonomisch oder therapeutisch herstellbaren menschlichen Gedeihens rechnen.
Wer den Kern des Säkularisierungsproblems in der Frage sieht, warum der Glaube an Gott heute etwas anderes bedeutet als im Jahre 1500, kann nicht rein deskriptiv antworten und den Aspekt der Wahrheit oder Falschheit der Traditionen ausblenden. Die Wahrheitsfrage ist für Taylor geradezu die Stelle, wo von einem „Einfluss Gottes auf unser Leben“[12] gesprochen werden kann. Denn bezüglich der Gottesfrage „stehe ich keineswegs ohne eigene Ressourcen da. Ich kann nämlich selbst religiös sein, ein Gefühl für Gott haben und spüren, wie er auf mein Dasein einwirkt; und daran kann ich die behauptete Widerlegung messen“[13].
Gibt es ein Zurück aus radikaler Reflexivität?
Für evangelische Leserinnen und Leser kommt Taylors Einordnung der Reformation wenig überraschend. Ein nominalistischer Hintergrund der lutherischen Unterscheidung zwischen der Ordnung der Natur und der Gnade, zwischen dem verborgenen und dem offenbaren Handeln Gottes wurde in der Theologiegeschichte immer gesehen, wenn er auch auf katholischer Seite leicht überschätzt wird. Evangelische Theologie sieht im nominalistischen Erbe nicht nur eine Belastung. Auch Taylor urteilt differenzierter als Benedikt XVI. in seiner Regensburger Rede. Luther hat die Freiheit nicht philosophisch, sondern von der Theologie des Kreuzes her gedeutet und die Vernunft nicht erkenntnistheoretisch, sondern soteriologisch kritisiert[14].
Trotzdem kommt Luther im neuzeitlichen Prozess der Subjektivierung eine prominente Stelle zu. Zwar verdankt sich die Objektivität des im Glauben geschenkten extra nos dem von Gott kommenden Wort der Rechtfertigung, aber damit rücken alle theologischen Themen unter den Aspekt der subjektiven Heilsgewissheit, was gelegentlich auch unverblümt ausgesprochen wird: Das „Großmachen der Sünde“[15] soll den Menschen „klein“ und Gott „groß“ machen, und solche Entmächtigung des Menschen dient zugleich der eigenen Heilsgewissheit, denn „es ist sicherer, Gott zu viel zu geben als dem Menschen“[16]. Wird Gott aber noch in seiner Gottheit gedacht, wenn er im Horizont der subjektiven Gewissheitsfrage thematisiert wird?
In ein ähnliches Dilemma gerät, wer in einer Situation radikaler Reflexivität für eine Konzeption der Wirklichkeit wirbt, die der Kluft zwischen menschlichem Subjekt und Natur voraus liegen soll, weil Mensch und Kosmos gemeinsam am göttlichen Logos partizipieren. Denn jeder Rückruf dieser Art operiert innerhalb eines Reflexionsverhältnisses des Ich gegenüber der Natur und gerät damit in die Problematik des von Kleist in seinem Essay „Über das Marionettentheater“ beschriebenen Unterfangens, eine ehemals ursprüngliche Naivität durch einen Akt des Bewusstseins wieder erreichen zu wollen. Taylors schonungslos in alle Zonen exkarnierender Subjektivität vordringenden Erkundungen machen die Kleistsche „die Reise um die Welt“; dass sich auf diesem Wege aber der „Stand der Unschuld“ einer Gott und Welt umschließenden Synthese schwerlich wieder gewinnen lässt, ist ihm nicht verborgen.
Der geordnete Kosmos, in dem das Subjekt sich aufgehoben wusste, präsentiert sich nach der aufgeklärten Wende zum Subjekt selbst als eine Option subjektiver Welt- und Selbstdeutung, die ihre Plausibilität im Streit mit anderen Optionen erweisen muss. Auf dem Boden radikaler Reflexivität ist die Feststellung, dass es tatsächlich „gute Religion“ gibt[17] und die christliche diesen Anspruch erheben darf, nicht abschließend zu begründen. Sie muss es auch nicht, sofern in diesem Diskurs jedem Teilnehmer die Ressource gelebter Religiosität zur Verfügung steht, wo ich „spüren“ kann, wie Gott „auf mein Dasein einwirkt“.
Die Untersuchung wechselt hier auf die Ebene des persönlichen Zeugnisses und gibt die Entscheidung an die religiöse Erfahrung weiter, die jeder machen kann. Das ist nicht weit entfernt von Schleiermachers Lokalisierung der Gottesgewissheit am Ort der Frömmigkeit, nur dass die Transformationsmacht Gottes nach dem, was Taylor zuvor gesagt hat, nicht von der Idee des mit der Natur des Menschen gegebenen Guten, von der Idee der Inkarnation und der Communio sanctorum in der sakramentalen Kirche getrennt zu denken ist. In dieser Fassung ist für Taylor das Potential der theistischen Perspektive größer als die spezifisch neuzeitlichen Verstehens- und Handlungsraster des Naturalismus der desengagierten Vernunft oder der Expressivismus der Romantik in ihren Spielarten.
Ob die letzten beiden als zuverlässige Moralquellen für eine Ethik des Wohlwollens taugen, die als höchste moralische Errungenschaft der Neuzeit gelten muss, lässt sich wiederum einem Erfahrungstest unterziehen: Wenn die Forderung der Moral auf nichts weiter beruht als auf Pflichtbewusstsein, Schuldgefühl oder Hochgefühl der eigenen Kraft, dann ist die Folge nicht nur eine angestrengte Heuchelei. Wohlwollen droht auch in Aggressivität umzuschlagen: Was macht den einzelnen Menschen so unantastbar, dass er in kein Abwägungskalkül eingehen kann? Dem Engagement für Menschen in Not, für Lebens- und Umweltschutz sitzt seit Nietzsche und Dostojewskij ein Stachel im Fleisch: Sind die Menschen es überhaupt wert, dass man sich um sie kümmert? Engagieren wir uns am Ende nur, weil es auch um unser Interesse geht oder weil wir alle in einem Boot sitzen? Wenn die Empfänger unseres Wohlwollens nicht „Wesen von Wert“ sind, dann erniedrigt es die Empfänger und lässt die immer wieder erfahrene Ohnmacht der Helfer in Hass auf die unvollkommene, sündhafte Welt umschlagen[18].
Dieser Diagnose hat eine an der reformatorischen Rechtfertigungslehre orientierte Theologie nichts hinzuzufügen. Damit relativiert sich auch die Differenz zwischen einer ‚inkarnatorischen’ einer ‚exkarnierenden’ Sicht, die so zu bestimmen wäre: Steht in aristotelisch-katholischer Tradition ‚Natur’ zwischen dem Menschen und Gott als sein metaphysisches ‚Wesen’, mit dem er von innen her eins werden soll und welches dadurch für ihn zur „Trägerin einer ethischen Botschaft“[19] wird, so bezeichnet ‚Natur’ in evangelischer Theologie dasjenige, was der durch die Rechtfertigung befreite Blick in die Wirklichkeit gleichsam mit Gott im Rücken und von ihm her als Schöpfung wahrnimmt. Um am Menschen, nicht zuletzt auch an uns selbst Wohlgefallen zu finden, bedarf es des göttlichen „Siehe, es war sehr gut“, das kein empirisches oder analytisches, sondern ein schöpferisches Urteil darstellt. Taylors Überlegungen bewegen sich im Gewissheitshorizont dieses argumentativ wie praktisch uneinholbaren Ja, dem sie ihre noble Fairness und innere Weite verdanken.
[1] Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter [engl. Orig. 2007], Frankfurt a. M. 2009, 33. 35. 46. 59. Von den Rahmenbedingungen unserer Vorstellungen vom Selbst und vom Guten und vom Verlust der „moralischen Ontologie“ handelt Taylor auch in: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität [engl. Orig. 1989], Frankfurt a. M. 1994.
[2] Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Ausg. Schlechta Bd. 2, 227f (§ 357).
[3] Ein säkulares Zeitalter,944.
[4] Ebd. 438.
[5] Quellen des Selbst, 856.
[6] Ein säkulares Zeitalter, 1222.
[7] Ebd. 1181f.
[8] Ebd. 1278.
[9] Ebd. 1277.
[10] Lütz idealisiert z. B. die Haltung der katholischen Kirche zu Vernunft und moderner Wissenschaft vor der Folie von Äußerungen Melanchthons und Luthers zu Kopernikus, verschweigt aber, dass der Monogenismus bis 1950 verpflichtende katholische Lehre blieb und Teilhard de Chardin vom Lehramt gemaßregelt wurde (Manfred Lütz, Gott. Eine kleine Geschichte des Größten [TB-Ausgabe], München 2009, 103f. 113. 127).
[11] Quellen des Selbst, 10.
[12] Ein säkulares Zeitalter, 719.
[13] Ebd. 948.
[14] Hans-Martin Barth, Die Theologie Martin Luthers. Eine kritische Würdigung, Gütersloh 2009, 115f.
[15] Luther, Römerbriefvorlesung [1515/1516] WA 56, 157.
[16] Luther, Großer Galaterkommentar [1535], WA 40 I, 131.
[17] Ein säkulares Zeitalter, 1175.
[18] Quellen des Selbst, 890-893.
[19] Internationale Katholische Theologenkommission: „Auf der Suche nach einer universellen Ethik: ein neuer Blick auf das Naturgesetz“ (2008), § 69.
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