Feinde Luthers: Ein Ludwigshafener Essay zum Lutherjahr 2017

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D. Dr. Friedhelm Borggrefe
Horst-Schork-Straße 66, 67069 Ludwigshafen

„Bei dem ganzen Lutherwirbel, der da jetzt gemacht wird, muss man eigentlich daran denken, dass Erasmus viel wichtiger für uns ist.“ Mit dieser Bemerkung überraschte mich pünktlich zum Anfang des Reformationsjahres 2017 eine treue Protestantin auf dem falschen Fuß. Denn ich hatte die Reformationsgeschichte anders im Kopf und bei meiner Ausbildung vor 65 Jahren bei dem Berliner Kirchenhistoriker Karl Kupisch treu und brav gelernt: Die Feinde Luthers sind Erasmus von Rotterdam, Karl V., Thomas Müntzer, Ignatius von Loyola (Karl Kupisch, Vier historische Lebensbildnisse, 1952). Doch meine Gesprächspartnerin hatte Recht. Moderne Kirchengeschichte setzt andere Akzente. Alle vier Persönlichkeiten lassen sich heutzutage, vor allem im Lichte der Versöhnungstheologie und des ökumenischen Harmoniebedürfnisses der beiden Großkirchen in Deutschland, nicht mehr im gängigen Freund-Feind-Schema begreifen. Der kalte Krieg zwischen den Konfessionen ist beendet. Und kirchenpolitisch ist man gut beraten, wenn man sich gegenseitig freundlich begegnet und fair miteinander umgeht. Bei genauerem Hinsehen schrumpft auch der Riese Luther im Vergleich mit diesen Gegenspielern erheblich.

Erasmus und Luther

Besonders die Biographie und die Wirkungsgeschichte des Erasmus können sich sehen lassen. Der kleine Luther aus dem Legoland der kirchlichen Propaganda von heutzutage, hunderttausendfach als Playmobil verkauft, und der große Erasmus aus Nederland, mit seinen jungen 600.000 europäischen Stipendiaten 2016, so ein Vergleich hat was. Da steht auf dem Kirchentag im Mai 2017 vor vielleicht 300.000 Protestanten  an der Elbe vergleichsweise  klein der Provinztheologe Martin Luther mit seiner Bibel auf dem Denkmalsockel als Symbol des Protestantismus in Wittenberg, während der große Erasmus in Rotterdam täglich von über 100.000 Holländern logistisch gebraucht wird; er ist seit 1996 eine moderne europäische Brücke über den Rhein und die Maas, ein Event für Touristen, 136 Meter hoch, 800 Meter lang und Mittelpunkt vieler Spektakel, beispielsweise von Hollywoodfilmen, Red Bull Air Races, Tanzveranstaltungen und der Start der Tour de France 2010.

Vor 500 Jahren waren Luther und Erasmus zwei Augustinermönche. Beide verließen das Kloster, der eine, voller Skrupel, wurde kleiner Professor der Heiligen Schrift in Wittenberg, der andere galt schon früh als Multitalent. Er war zuhause an Adelshöfen in Städten wie Paris, Basel, Freiburg, Löwen. Tätig als Berater, Erzieher, Schriftsteller und Philosoph, Kirchenreformer und Kritiker in den Niederlanden, England, Belgien, Frankreich, Italien, Deutschland und der Schweiz. Luther der Deutsche. Erasmus der Europäer. Luther polarisierte mit der Bibel als Waffe, Reformation bedeutete für ihn Auseinandersetzung. Er war Kämpfer, Bauernkrieger, Juden- und Türkenfeind. Erasmus war am liebsten Pazifist, der eher Tolerante und Vorsichtige, der im Labyrinth der Welt auch schon einmal zwei Meinungen nebeneinander gelten ließ, Vater der versöhnten Vielfalt.

Aber damals wie heute sind zwischen ihnen zwei Welten, unfreier und freier Wille. Luther betrachte seine Kampfschrift „De servo arbitrio“ und seinen Katechismus als die wichtigsten Werke. Da finden wir den Provinztheologen von der Elbe in der Auseinandersetzung mit dem Humanistenfürsten am Rhein. Der junge Luther hat es so zusammengefasst: „Der Mensch kann von Hause aus nicht wollen, dass Gott Gott sei; im Gegenteil, er will lieber, dass er selbst Gott sei und dass Gott nicht sei.“ Für ihn ist der Mensch nicht vom freien Willen gelenkt, sondern vom Teufel geritten. Und der alte Erasmus, wie jeder moderne Mensch, ist überzeugt von der Leistungsfähigkeit und Urteilskraft menschlicher Vernunft. Für pfälzische kirchliche Verhältnisse ist er ein echter Liberaler! Er hatte ganz einfach gefragt: „Wie kann ein Mensch Böses wirken, wenn er nichts nach seinem Willen und alles mit Notwendigkeit tut? (Erasmus von Rotterdam, Vom freien Willen, Göttingen, 1988, S. 81/83) Und warum lobt die Bibel den Gehorsam (oboedientia) der Gläubigen, „wenn wir für Gott zu den guten und in gleicher Weise zu den bösen Werken nur ein solches Spielzeug sind, wie die Axt für den Zimmermann?” (ebd., S. 89) Und er verstand „unter dem freien Willen die Kraft des menschlichen Willens, mit der der Mensch sich zu dem hinwenden kann, was zum ewigen Heil führt, oder sich davon abwenden kann“.

Heutzutage hinterfragen auch die Neurowissenschaftler und mit ihnen Philosophen und Theologen ganz neu und aus anderen Gründen solche Thesen und differenzieren zwischen Willens- und Handlungsfreiheit, führen ein in komplizierte Begrifflichkeiten wie „Determinismuskompatibler Kompatibilismus“, „externe und interne Willensgebundenheit“ und „Indeterminismus“ (Markus Mühling, Willensgebundenheit und notwendige Kontingenz, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie, 2013, S. 161-187; Wolfgang Achtner, Willensfreiheit in Theologie und Neurowissenschaften, Darmstadt, 2010; Andreas Klein, Willensprüfung auf dem Prüfstand, Neukirchen, 2009; Joachim Bauer, Selbststeuerung, Die Wiederentdeckung des freien Willens, München 2015. ) und wehren sich gegen die Alternative frei/unfrei, sondern fragen neu nach dem Wohin und Woher und dem Wie von Willensentscheidungen und suchen nach neuen Begründungen für eine selbstgesteuerte Verantwortungsethik angesichts des Lutherbildes von Gottes Allmacht, die auch Macht hat, das Böse zuzulassen und vorher zu bestimmen.

Wenn ich richtig lese, spielt heute das Wort „kompatibel“ in der Diskussion um Erasmus, um Humanismus und Reformation, Willensfreiheit und Determinismus in all seinen naturwissenschaftlichen, philosophischen und theologischen Spielarten eine große Rolle. Das würde Erasmus gefallen. Er selbst lässt in seiner Willensdenkschrift, der „Diatribä“, wie er sie nennt, nämlich für Luthers These von der Unfreiheit des Willens auch noch Platz und meint: Paulus sei trotz seiner Lehre von der Prädestination (Römer 9) Zeuge der Wahrheit. Das sind heute Gedanken, die in vielen Varianten in der Theologie und noch mehr in der Kirchenpolitik und beispielsweise auch in der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen (ACK) eine große Rolle spielen. Während die alten Liberalen die Frage des unfreien Willens der lutherischen Rechtfertigungslehre schlichtweg nicht stellten, wie der pfälzische Katechismus zeigt, halten die Ökumeniker des 20. und 21. Jahrhunderts solche Gegensätze oft einfach für „kompatibel“.

Erasmus heute hätte sich, kirchenpolitisch betrachtet, zwar gewundert, aber zugleich auch große Freude gehabt an der Romreise einer Delegation der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) vom 4. bis 7. Februar 2017. Da stand im Mittelpunkt des Aufenthaltes eine Privataudienz bei Papst Franziskus. Ganz gewiss hätte sich Luther selbst den Besuch lutherischer Bischöfe, Kirchenpräsidenten, evangelischer Frauen und Männer in Rom allerdings wohl kaum vorstellen können. Für Luther vor 500 Jahren war das Amt des Papstes grundsätzlich Symbol des Antichristen, weil er sich als Stellvertreter Christi über die Autorität der Heiligen Schrift stelle. Dieser Papst Franziskus aus dem 21.Jahrhundert wird jedoch heute gelegentlich schon als Luther redivivus präsentiert. In Ludwigshafen jedenfalls wurde er am Januar 2017 in der Hemshöfer Dreifaltigkeitskirche als solcher gefeiert, wenn anlässlich des 25. Jubiläums der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen gesagt wurde: „In Franziskus wurden viele Hoffnungen der Reformation erfüllt“. Margot Käßmann, die Lutherbotschafterin der EKD, hatte bereits am 6. Mai 2016 bei einem Interview in Köln ähnlich und deutlicher formuliert: „Dieser Papst Franziskus ist ein Reformator der Kirche“ (domradio.de). Und die Delegations-Teilnehmer von 2017, die anlässlich des 500. Reformationsjubiläums in den Vatikan eingeladen waren, erklärten: „Dieser Besuch war gekennzeichnet von großer Herzlichkeit und Wärme und einer Leidenschaft für die Ökumene“ – so hat Kirchenpräsident Christian Schad seine persönlichen Eindrücke von der Romreise in Worte gefasst. Kirchenpräsident Schad ist evangelischer Vorsitzender des Kontaktgesprächskreises zwischen der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz und Vorsitzender der Union Evangelischer Kirchen in Deutschland (UEK). Er hob hervor, dieses Reformationsjubiläum sei das erste, bei dem das reformatorische Erbe nicht in Abgrenzung zur katholischen Kirche herausgestellt werde. Vielmehr sei es für das Oberhaupt der katholischen Kirche heute Anlass, ausdrücklich „die geistlichen und theologischen Gaben zu schätzen, die wir von der Reformation empfangen haben“, so der Papst während der Audienz wörtlich. Der Integrationswille und die Inklusionsbereitschaft der katholischen Kirche waren schon bei den Hus-Feierlichkeiten 2015 deutlich geworden. Da hatte Papst Franziskus den böhmischen Reformator Jan Hus (1369-1415) gewürdigt. Der „renommierte Prediger“ und Rektor der Prager Universität sei lange Zeit „Streitobjekt“ unter den Christen gewesen, aber heute sei er zu einem „Anlass des Dialoges“ geworden (Radio vaticano, 15.6.2015).

Die alten Fragen nach der Theodizee, der Prädestination und der Willensfreiheit wollen jedoch immer neu bedacht sein, übrigens nie ohne neue Irrtümer und neue Fragen zu produzieren! Der Humanist Erasmus hatte dem Reformator Luther mit der Herausgabe des in der griechischen  Sprache bearbeiteten Neuen Testaments 1516 die Grundlage reformatorischer Theologie zur Verfügung gestellt. Ihm ging es um die Restitutio Christianismi, die innere Erneuerung der Christenheit durch Bildung, eine mit der Tradition der mittelalterlichen Kirche kompatiblen Kirche. Er konnte sagen: „Da der Glaube die einzige Tür zu Christus ist, so muss es die erste Regel sein, über Christus und die von seinem Geist überlieferten Schriften die rechte Kenntnis zu haben“ ( Erasmus, Aus dem Handbüchlein des christlichen Streiters [1503] Erste Regel). Reform, Restitutio, Erneuerung, wie immer man die Veränderungsprozesse bezeichnen will, sind für Erasmus nichts anderes als eine kirchenpolitische Bildungsfrage. Für Luther ging es radikal um die nach Gottes Wort reformierte Gemeinde.

Luther und Ignatius von Loyola

Wenn ich über die „Feinde Luthers“ nachdenke, muss ich mich auch auf einen katholischen Freund, einen Jesuiten, besinnen. Der sagte jüngst zu mir:„Wollen wir nicht mal etwas zum Thema Ignatius und Luther machen?“ „Ignatius von Loyola?“ Bevor ich ihm zusagte, habe ich zunächst einmal ganz einfach in die Regionalseiten der katholischen Kirchenzeitung, des Pilger (45/2016), geschaut. Dort hatte sich dieser Freund, Pater Johannes Spermann SJ, Direktor des Heinrich-Pesch-Hauses in Ludwigshafen, klar geäußert zur Theologie des Ignatius unter der Überschrift „Gott in allen Dingen finden – eine Grundhaltung, die Glauben und Lebensalltag verändert“. Da wurde im Rahmen der Kampagne „Mein Gott“ des bundesweiten Katholischen Medienverbandes die Gottesfrage gestellt und ein Grundelement der Spiritualität des Ignatius und des von ihm gegründeten Jesuitenordens zur Sprache gebracht. Und gleich zu Anfang meiner Lektüre fand ich den Satz: „Ignatius war wie Luther auf der Suche nach der Antwort, wie er Gott gnädig stimmen kann.“ „Ignatius war wie Luther“: Da war er wieder, der Integrationsgedanke. Wittenberg und Rom „kompatibel“. Aber, so finde ich, das war nun gerade nicht die Frage Luthers. Ihm ging es nicht um eine Strategie, wie man Gott umstimmen kann, uns seine Gnade zu schenken. Luther fragte theologisch, ob es grundsätzlich eine Chance gibt zu erfahren, dass Gott sich dem Menschen zuwendet.

Mein katholischer  Gesprächspartner erklärte weiter: Dass der ehemalige Militär Ignatius als „Hochleistungsasket“ mit seiner ersten Idee, alle großen bisherigen Heiligen im Übermaß durch Fasten und Beten zu übertreffen „ziemlich“ – also nicht völlig – „auf die Nase fiel“. Das Projekt scheiterte. Und er erzählte weiter: Dass Ignatius „am Fluss Cardoner saß und eine tiefe Intuition hatte. Eine Erfahrung, die ihm visionär verdeutlichte, wie alles in der Liebe Gottes miteinander verbunden ist. Alles innerlich nur so überströmt von der Anwesenheit Gottes. Was er sieht, beschreibt die Übung „Zur Erlangung der Liebe“ im „Exerzitienbuch“. Es ist wirklich schön zu lesen, wie man durch Exerzitien „lernt, innerlich wahrzunehmen, wie die Stimme Gottes in einem klingt, schmeckt, sich anfühlt. Man muss lernen, diese Stimme Gottes von der Stimme des eigenen Egos und anderer Stimmen, die an und in einem zerren, zu unterscheiden. Da kommen Bauch und Kopf zusammen ins Spiel. Wir nennen das die ‚Unterscheidung der Geister’.“  Ich spürte, wie sich in mir etwas wehrte gegen diesen von der Mystik geprägten Methodismus. Und ich fragte mich: Wo bleibt bei „dieser Kunst, auf Menschen zuzugehen und den Willen Gottes zu erkennen, der in ihre eigenen Lebensumstände eingeschrieben ist“ (Emonet s.u. S.170) das sola scriptura der Reformation? Johannes Spermann berichtete in diesem kleinen Artikel für die Ludwigshafener Katholiken schließlich von seinen persönlichen Erfahrungen bei den Tagesreflexionen und Exerzitienzeiten. „Lass die Liebe in dich rein. Das ist auch immer Übung. Wenn Gott nicht nur mich, sondern auch die anderen und die ganze Schöpfung liebt, wie verhalte ich mich dann?“ Mein Freund hatte mir auf diese Weise den Leitspruch des Ignatius nahe gebracht: „In allem Gott lieben und dienen“. Soli deo gloria!

Luther und Ignatius. Das war für mich bis jetzt nur eine historische Frage, aber heute ist es eine politische. Pierre Emonet, „Ignatius von Loyola – Legende und Wirklichkeit“ (Würzburg, 2015), dieses grundehrliche und spannende Buch eines Schweizer Jesuiten, interessierte mich, um die Fragen nach dem Gründer des Jesuitenordens ein wenig zu klären. Es brachte mich gleich auf der ersten Seite (S. 7) auf die Spur, Ignatius stammte aus „einer politisch engagierten Familie“. Emonet zeigt einen engagierten, äußerst disziplinierten Menschen „zwischen individueller Freiheit und Institution, zwischen dem Besonderen und Universalen, zwischen Ideal und alltäglicher Wirklichkeit“ (S. 11). Er versucht, den Spanier, der immer von starkem Willen und Disziplin geprägt war, ohne „goldene oder schwarze Legenden“ zu schildern. Da gibt es neben der Schilderung einer turbulenten Jugend, soldatischem Mut und Ehrgeiz auch ein wunderbares Kapitel „Der Pilger auf der Couch“, das den Werdegang des Ignatius aus psychoanalytischer Libido angetriebenen phallischen Narzismus schließen lässt, davon zeugen sein Bedürfnis er Sicht beschreibt und schildert, wie „das Verhalten des jungen Hidalgo auf einen von sta nach Bewunderung, sein Verhalten gegenüber Frauen, sein aggressiver Stolz und seine herrische Art“ (S. 55ff.). Die „Große Wende“ wird beschrieben, als Ignatius als junger Offizier schwer verwundet im Kampf gegen die Franzosen „vollständig ergriffen wird von den Dingen Gottes“. „Eine Nacht war er wach und sah deutlich das Bild unserer Herrin mit dem heiligen Jesuskind, bei deren Anblick über einen beachtlichen Zeitraum er sehr übermäßige Tröstung empfing“ (S. 27). Da lese ich von Ignatius, dem „Pilger, der seine eigene Geschichte neu las, um darin die Wege zu entdecken, die Gott ihn geführt hatte“ (S. 167), von seiner Begeisterung für die Nachfolge Christi und seine außerordentliche Hellsichtigkeit sich selbst gegenüber, die ihm ermöglichten, seine Leidenschaften in den Dienst der Kirche zu stellen“ (S. 168). Und ich erfahre, wie aus einer kleinen Pariser Studentengruppe bei seinem Tod ein Orden entstanden war mit mehr als eintausend Jesuiten, die in 13 Provinzen arbeiten an der Erneuerung der Kirche, an einer „Inkulturation der christlichen Botschaft“ (S. 171). „Keine Legende eignet sich, den baskischen Ex-Edelmann, der für Christus entflammt war, wirklich auszuloten“ (S.171).

Der Vergleich zwischen Luther und Ignatius zeigt, dass es beiden um eine Erneuerung der Kirche geht. Anders als bei Luther spielt bei Ignatius die Erfahrung eine große Rolle. Er ist kein Schrifttheologe, spricht kaum Latein, wenig Italienisch. Die für seine Lebensentscheidungen wichtigen Bücher sind nicht die Bibel, sondern die „Vita Christi“ von Ludolf von Sachsen und die „Nachfolge Christi“ von Thomas a Kempis. Er will Jesus erfahren, reist ins Heilige Land mit Freunden, ist arm wie Jesus, bricht alle Zelte ab zur feudalen, militärischen Vergangenheit. Er organisiert wie Jesus eine Zwölfergruppe, stellt sich dem Papst, dem Stellvertreter Jesu, zum Dienst der Kirche zur Verfügung. Während Luther und die reformatorische Bewegung dem Papst den Gehorsam verweigerten, „verpflichtete sich der Jesuitenorden, dem Papst in allem zu gehorchen, was er uns im Namen Christi befehlen zu sollen gedenkt“ (S. 107). Dieses Gehorsamsgelübde blieb im Leben des Ignatius nicht frei von Spannungen. Die Beziehungen zu den vier Päpsten in seiner Lebenszeit waren des Papstes höchst unterschiedlich. Die kirchenpolitische Dimension des Ignatius beschreibt Emonet in seinem Schlusskapitel treffend: „Mehr als die bei seinem Tod in 13 Provinzen aufgeteilten 1000 Jesuiten, mehr als die Kollegien und die zu seinen Lebzeiten gegründeten Niederlassungen (es waren über hundert), mehr als die 7000 Briefe die er an alle möglichen Adressaten auf der Erde richtete, stellt die evangelische Kühnheit, die ihn dazu führte, mit dem Zeitgeist zu brechen, um jenen wirksamere Hilfe zu bringen, die sich im Dienst des Schöpfers engagieren wollten, ohne die Welt, in der sie lebten und liebten, verlassen zu müssen. Ignatius von Loyola profilierte sich als der große Erneuerer, der die Kirche in die Neuzeit führte“ (S. 177).

„Ich bin allen alles geworden, um auf jeden Fall einige zu retten“, mit diesem Pauluswort (1. Kor 9, 22) lässt sich das Wirken des Ignatius als Reformer seiner Kirche vielleicht auf einen Hauptnenner bringen. Egon Friedell, österreichischer Kulturhistoriker (1878-1938), beschrieb die „Söhne des Heiligen Vaters“ gröber, und bei meinen Reisen in die Diaspora Ostmitteleuropas, in die alten Habsburger Länder, fand ich persönlich es immer wieder bestätigt.

„Söhne des Heiligen Vaters“ „waren die glänzendsten Kavaliere, die strengsten Asketen, die aufopferndsten Missionare und die gerissensten Kaufleute, die ergebensten Dienstboten und die gewieftesten Staatslenker, die weisesten Seelsorger und die geschmackvollsten Theaterregisseure, die tüchtigsten Ärzte und die geschicktesten Mörder. Sie bauten Kirchen und Fabriken, leiteten Wallfahrten und Komplotte, vermehrten die Lehrsätze der Mathematik und der Dogmatik, unterdrückten die freie Forschung und machten selber eine Reihe wichtiger Entdeckungen. Sie waren im wahrsten Sinne des Wortes zu allem fähig.“

Und wenn ich mit meinem jesuitischen Freund wirklich einmal einen Termin finden und über Luther und Ignatius „etwas machen“ sollte, dann müsste ich mit ihm auch über die Wirkungsgeschichte der beiden sprechen. Es tun sich ja bis in die Gegenwart hinein immer wieder auch tiefe Abgründe auf, vor denen man nur erschrecken kann. Als ich an der Aufarbeitung der NS-Zeit unserer pfälzischen Kirche mitwirkte, entdeckte ich, einfach so beim googeln: Heinrich Himmler, katholisch getauft, Reichsführer SS, besaß die umfangreichste Bibliothek über Jesuiten, hatte seinen „Orden unterm Totenkopf“ nach den Prinzipien der SJ aufgebaut, der SS Führungsstab traf sich einmal im Jahr auf der Wewelsburg bei Paderborn zur Meditation nach jesuitischem Vorbild. Hitler: „Ich seh ihn [Himmler] schon als unseren heiligen Ignatius.“

Luther und Thomas Müntzer

Im Blick auf Thomas Müntzer (1489-1525) und die Zwickauer Propheten sowie die Thüringer Bauernkriegsgemeinden von 1525 entdeckte ich 2017 im Hinterhof einer Ludwigshafener Autowerkstatt eine „schwärmerische“ Gemeinde aus dem afrikanischen Umfeld, Menschen, die auf der Flucht vor Hunger und Gewalt hier eine neue Heimat suchten. Laut trommelten sie den Heiligen Geist herbei. Laut und lärmvoll wurde getanzt und gesungen. Frauen und Männer beteten emphatisch. Allgemeines Priestertum wurde gelebt, alle, die es wollten, konnten das Wort ergreifen bei der Bibelauslegung. „Jesus“ war das Zauberwort in allen Variationen. Der Pastor, ausgebildet auf einer Bibelschule in Nigeria und in einem Bibelkurs der kirchlichen Hochschule in Erlangen, war ein Lagerarbeiter in Mannheim und lebte mit seiner Familie in einem Ludwigshafener Hochhaus. Organisatorisch waren sie aufgebaut wie ein offener Verein. Finanziell trugen sie sich durch „den Zehnten“. Elektronisch waren sie alle vernetzt auch mit dem gottesdienstlichen Leben in ihrer afrikanischen Heimat.

In unserer Stadt leben heute über 1500 Afrikaner. Ludwigshafen wird immer bunter. Im öffentlichen Leben in unserer Stadt begegnen wir heute vielen Menschen aus dem subsaharischen Afrika. Viele sind Christen. Asylsuchende auch aus afrikanischen Ländern und Gegenden sind über die Flüchtlingsrouten bis zu uns gelangt. Sie bringen aus einer anderen Religionslandschaft und aus ihren Traditionen viele Fragen mit. Viele von ihnen sind ja Christen. Das ist eine neue Herausforderung. Wir fragen uns: Wie sehen die afrikanischen Mitbürger uns, unsere Kultur, unsere Religiosität, unseren Glauben? Finden Sie sich bei uns nicht zurecht oder gelingt Zusammenleben und Integration? Wie können wir von den Erfahrungen dieser Kultur und ihrer Religion profitieren? Wie verhalten wir uns in unseren Gemeinden? Unser Glaube und die afrikanische Frömmigkeit, wie passt das zusammen? Reicht es, unsere Exporte nach Afrika zu steigern oder müssten wir die industrielle Entwicklung vor Ort nicht stärker unterstützen? Wie geschieht Integration und Gastfreundschaft?  Und im Blick auf das Reformationsjahr 2017 stellt sich in Deutschland letztlich die Frage, ob dieser Typ einer pfingstlichen Gemeinde im volkskirchlichen System einen angemessenen Platz finden kann? Ich frage mich heute immer wieder: Wie gehen wir als von christlicher Tradition geprägte Europäische Union mit den unterprivilegierten Bauern in Afrika und Südamerika um?  Ja, wie wollen wir in unserer Mitte konkret mit dieser „schwärmerischen“ christlichen Bewegung umgehen? Rufen wir nach Gewalt, Polizeigewalt zumindest, wenn sie nicht angepasst unter uns leben wollen, sondern ihre eigene Kultur pflegen möchten? Wollen wir eine Kirchengemeinschaft? Die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen fordert zumindest ein Bekenntnis zum dreieinigen Gott. Interreligiöse Gesprächsgruppen begnügen sich mit der Aufforderung, wenigstens das Grundgesetz der Bundesrepublik zu achten und nicht eigene von afrikanischen Traditionen bestimmte  gesellschaftliche oder uns fremde religiöse Strukturen zu entwickeln. Strukturelle Gewalt lauert an jeder Ecke auf dem Wege und hindert, praktikable Antworten zu finden.

In der Reformationszeit war die Antwort klar: Ein friedliches Miteinander zwischen den evangelischen Christen unter dem obrigkeitlichen Patronat der Fürsten und den kongregationalistischen Bauerngemeinden in Sachsen und Thüringen war für Luther undenkbar. Sein Aufruf „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“ vom 6. Mai 1525 war eine eindeutige Herausforderung, das Problem durch Gewalt zu lösen. Es gab es nur eine Alternative: Luther oder Müntzer. Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre oder soziale Gerechtigkeit durch das Schwert Gideons. Mit dieser Geschichte von dem durch einen Engel berufenen Freiheitskämpfer suchte Thomas Müntzer die Rebellion der Bauern und Bergknappen gegen das Establishment zu legitimieren.

Seine theologische Grunderkenntnis brachte Thomas Müntzer am 1. Juli 1524 auf dem Schloss in Allstedt (Thüringen) in seiner berühmten Fürstenrede auf den Punkt. Da fiel der Satz „Es ist wahr und ich weiß, dass der Geist Gottes jetzt vielen auserwählten, frommen Menschen offenbart, dass eine wichtige, unüberwindliche Reformation sehr vonnöten ist.“ Für ihn war bekanntlich nicht das Wort der Bibel, sondern die unmittelbare Erleuchtung die Kraft, das Reich Gottes aufzurichten. Luthers „sola scriptura“ war ihm zu wenig. Er wollte „Fleisch an den Buchstaben sehen“. Er organisierte „christbrüderliche Gemeinden“. Das war revolutionär, denn er schreckte nicht zurück vor Gewalt. In den sozialen Konflikten seiner Zeit, die besonders die Agrargesellschaft betrafen, bedeutete für ihn „Christenfreiheit  Bauernfreiheit“ (Heinz Schilling, Martin Luther, S. 294). Diese Freiheit wollte er zunächst friedlich, dann aber mit aller Gewalt basisnah in dörflichen und kleinstädtischen Strukturen verwirklicht sehen. Er forderte das allgemeine Priestertum, organisierte die Laienpredigt auch für Frauen, das Recht auf freie Pfarrerwahl, die Kommunalisierung der kirchlichen Finanzen, die kollektive Nutzung des Grundeigentums und eine demokratische Gemeindeverwaltung durch Älteste – die „christbrüderliche Liebe“ sollte Richtschnur sein.

Luther hat das Problem der unterprivilegierten Bauern, Armut und Unrecht auf dem Lande, bekanntlich mit Hilfe der Fürsten durch Gewalt gelöst gesehen. Für ihn war Thomas Müntzer eine Kreatur des Teufels. Für Luther ging es bei dieser Argumentation darum, das „sola gratia“ seiner Theologie zu verteidigen. Soziale Gerechtigkeit selbstgemacht, das ging für ihn gar nicht. Und er konnte nicht tolerieren, dass die Bauern ohne Legitimation durch Gott das Schwert nahmen. Er sah im Bauernaufstand Verrat am Evangelium: Die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, war für ihn unter keinen Umständen herstellbar durch Revolution. „Christen, die streiten nicht mit dem Schwert, sondern mit den Kreuz und dem Leiden“, schrieb er noch in der „Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben“ im Frühjahr 1525. Er erwartete von den Bauern Geduld und Leidensbereitschaft. Wenige Wochen später, 6. Mai spät abends, verfasste er in panischer Eile angesichts der gewaltsamen Unruhen in den thüringischen Bauerngemeinden auf gerade einmal fünf Seiten seine Kampfschrift „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“. Da stand zu lesen: „Wer, sei er Söldner oder Fürst, in diesem Kampf gegen die vom Satan geleiteten Bauern falle, könne getrost sein, dass er ein Gott wohlgefälliges Werk vollbracht und daher die Seligkeit errungen habe“ (Schilling, a.a.O., S. 309). Im Spätjahr 1525 machte er in einem Brief an Amsdorff mit spürbarer Betroffenheit eine Rechnung des Leidens auf – „in Franken 11.000 Bauern erschlagen, […] in Württemberg 6.000, […] andernorts in Schwaben 10.000, […] im Elsass 2.000. So werden überall die armen Bauern erschlagen“ (Schilling, S. 316). Aber er konnte jedoch guten Gewissens nach der Schlacht bei Frankenhausen feststellen: „Es ist besser, dass alle Bauern erschlagen werden als die Fürsten und Obrigkeiten, und zwar deshalb, weil die Bauern ohne Gewalt von Gott das Schwert nehmen.“

Thomas Müntzer – für uns heute kann er nicht der Feind des Evangeliums sein. Für das Evangelium darf kein Blut fließen, nachdem Jesus am Kreuz gestorben ist. Das hätte auch der Bibelprofessor Luther wissen müssen. Die verfasste Kirche von heute steht im Blick auf Thomas Müntzer und den Bauernkrieg vor vielen Fragen. Angesichts der Bauernkriege in Deutschland und den damit verbundenen Unruhen, angesichts der nahezu 100.000 Toten, die damals für eine „bessere Gerechtigkeit“ starben, stellt sich die Frage schuldhafter Verstrickung der reformatorischen Bewegung heute noch einmal ganz neu. Begriffe wie Gerechtigkeit, Gewissen, Gewalt, Protest, Protestation, Revolution und religiöser Fundamentalismus müssen neu durchdacht werden. Und Orte wie Frankenhausen, Allstedt und Zwickau sollten nicht nur wie zu Zeiten des sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaates DDR, sondern auch heute Bestandteil evangelischer Erinnerungskultur sein. Healing of memories.

Die kleine enthusiastische afrikanische Hinterhofgemeinde in Ludwigshafen hat Erfahrungen mit Armut und Terrorismus und beantwortet jedenfalls eine Frage sehr klar: Sie ist laut und lärmvoll, aber gewaltfrei. Mit ihrer Präsenz stellt sie uns die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit, die nicht durch militärische Mittel, sondern einzig durch „christbrüderliche Liebe“ erreichbar ist. Und sie fragt als afrikanische Diasporagemeinde auch nach unserer Identität im Wohlstandsstaat Bundesrepublik Deutschland.

Luther und Karl V.

Worms 1521 und Ludwigshafen 2017 liegen zwar zeitlich 500 Jahre, aber entfernungsmäßig nur knapp 25 Kilometer auseinander. Das reizt zu einem Vergleich des Wormser Geschehens von damals mit dem von Ludwigshafen heute. Oder? Karl V. und die BASF – zwei Globalplayer. Habsburg number one und „Chemie für die Zukunft“. Beide sind Machtfaktoren, weltweit, beide wünschen sich eine intakte Kirche, die sie in ihrem Handeln unterstützt. Beide treten ein für ein störungsfreies Miteinander der Interessen von Politik und Kirche. Beide sind grundsätzlich geprägt von humanistischer Bildung und aus guten Gründen durchaus offen für Veränderungen und Reformen, die der Beziehung zwischen Politik und Kirche von Nutzen sind. Für beide sind der freie Wille, Handlungs- und Entscheidungsfreiheit selbstverständliche Voraussetzung politischen und wirtschaftlichen Handelns.

Als der junge, eben 21jährige Kaiser Karl V. 1521 auf dem Reichstag in Worms dem 37jährigen Wittenberger Bibelprofessor Martin Luther gegenübersaß, begegneten sich zwei Welten. „Zu diesem Zeitpunkt war Luther längst ein berühmter Mann, ein ‚Bestsellerautor’ und ‚Medienstar’. Sein Zug nach Worms wurde zu einem öffentlichen Ereignis“ (Schilling, S. 212). Heute weiß man sehr genau, dass auch der junge Kaiser ein Hoffnungsträger war. Er hatte eine gute humanistische Ausbildung, seit 1515 war er am Hofe von Burgund in Löwen durch Erasmus von Rotterdam und Vertretern der Devotio moderna erzogen worden. Und es war politisch in Worms kurfürstliche Strategie, vor allem Friedrichs des Weisen, die „causa lutheri“ in der Anfangsphase der Regierung des Kaisers zu lösen. Aber für den jungen Habsburger stand von vorneherein fest, „dass die Erneuerung des Kaisertums und die Konsolidierung seiner Herrschaften zu einem von der neuen Welt über Spanien und Burgund bis auf den Balkan an der Ostgrenze der lateinischen Christenheit reichenden Imperium nur auf dem Boden der römischen Universalkirche glücken konnte. Er war bereit, sie in ihren Fehlern und Gebrechen zu reformieren, aber ohne dass sie im Kern geschwächt werden durfte“ (Schiller, S. 216). In Worms ging es also um die Frage Reform oder Reformation, denn Luther ging es um die Abschaffung der Papstkirche als Vermittlerin des Heils, während Karl V. grundsätzlich nur an ein Sanierungsprogramm für die römische Kirche dachte.

Vielleicht ist mein BASF-Vergleich absurd. Aber als Ludwigshafener Kirchenmann habe ich mich diesem Globalplayer gegenüber oft als Bibeltheologe mit meinem „im Worte Gottes gefangenen Gewissen“ sehr einsam gefühlt. Es war nicht immer einfach, freundlich und partnerschaftlich die Menschen „in der Anilin“ zu begleiten. Ich weiß nicht, ob ich immer mutig genug war, kritische Fragen zu stellen. Für mich war Luther immer eine besondere Herausforderung. – Und wenn ich als Diasporatheologe in Ostmitteleuropa, in Polen, Ungarn, Böhmen und Mähren, in Slowenien, Kroatien und der Vojwodina einst in den 40 Jahren des staatlichen Sozialismus unterwegs war, dann fühlte ich mich mit dem Evangelium im Kopf nicht immer mutig genug. Aber ich bin froh, weder den humanistisch gebildeten und reformbereiten Kaiser Karl V. und seine habsburgischen und sozialistischen Nachfolger noch das Management der BASF je als „Feind“ gesehen zu haben. Wir begegnen uns noch heute offen in kritischer Partnerschaft. – Theologie als Frage.

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