D. Dr. Friedhelm Borggrefe
Horst-Schork-Straße 66, 67069 Ludwigshafen
„Städte sind das Grab des Protestantismus“, sagt ein französisches Sprichwort undbeschreibt einen Prozess, der am Ende des zweiten Jahrtausends im Gange zu seinscheint. Auf alle Fälle lässt sich feststellen: Die Pagani, die Heiden, leben weniger auf demLande als in den urbanen Strukturen. Kirche bleibt eher im Dorf als in den modernen Städten.
Aber in den Ballungsgebieten der Welt wohnen die Menschen, genauer mehr als die Hälfte der Menschheit. Das Menschenhaus ist die Stadt. Allerdings, die alten Stadtmauern sind längst gefallen. Nicht Schutz vor den Fremden, sondern Integration ist angesagt. Die altenTürme sind längst überragt, Satelliten schaffen Kommunikation weltweit. Die altenMarktplätze sind ohne Funktion, der Markt und die Produktion sind globalisiert. Traditionsbrüche allerorten, und die Armut schleicht aus allen Löchern. Harvey Cox, in den siebziger Jahren einst als Stadtprophet gefeiert, brachte es nach einem nächtlichen Flug von Boston nach Berlin auf den Punkt: „Diese Welt ist eine Stadt worden.“
Und die Theologie? Nimmt sie diese Prozesse wahr? Die alten und die neuen Römer habenes einfach: Für sie gab und gibt es nur die eine Zentrale, Haupt- und Weltstadt Rom, das istmental und geographisch die Mitte, die urbs. Wer einmal in der Bibliotheca Vaticana war,weiß: Hier sind 2.000 Jahre Erfahrung und Information versammelt. Und der Telepapst ist weltweit präsent. Urbane Theologie ist römische Theologie, urbi et orbi. Aber dieProtestanten mit ihrem papiernen Papst, der heiligen Schrift allein, sie haben es schwer.Was sollen sie machen mit ihrer prophetischen Stadtkritik, mit der Polistheologie desJesaja, mit dem Bild vom himmlischen Jerusalem, mit dem Weg des Galiläers Jesus von Kapernaum bis Golgatha, mit diesem Jesus, der weint über seine Stadt?
· Sollen sie träumen von Utopia (Ernst Bloch)?
· Sollen sie kämpfen, wie auch immer (Befreiungstheologie)?
· Sollen sie ihr Wächteramt ausüben (Karl Barth)?
· Sollen sie sich als Club Avantgarde bewähren auf dem Weg in eine Zukunft, in der Säkularität und Mobilität angesagt sind (Moltmann, Cox)?
· Sollen sie ein freundliches Angebot von Kultur auf den unübersichtlichen Markt derStadt bringen (Paul Tillich)?
Protestanten in Deutschland geraten statistisch gesehen an den Rand, sind unterwegs zurMinderheit. Aber sie haben die Liebe zur Schöpfung entdeckt. Dynamische evangelischeFamilien geben der Stadt den Abschied, ziehen ins Umland der Städte. Der ökologischeBourgeois, mit Haus und Garten, nicht der Citoyen, mit Verantwortung für eine funktionierendeStadt, ist heute eher gefragt als am Anfang des Jahrhunderts, wo man noch stolz war auf eineschöne Stadtwohnung. Wir haben das Stichwort Gerechtigkeit gegeben, Kirche fühlt sich als Anwältin für die „gerechte Stadt“ mit Multikultistruktur und Verteidigerin sozialer Rechte. Wirhaben fast in jeder Stadt Friedenskirchen gebaut: Schon nach dem ersten Weltkrieg haben wir– oft übersehen – ein Friedenskirchenprogramm installiert, seit 75 Jahren Mahnwache für denFrieden.
Gebaut wurde übrigens immer in den Städten, und Theologie war immer dabei: Kirchen in derCity stehen immer für ein Kapitel urbaner Theologie. Die großen Dome des Mittelalters stehenfür Augustins civitas Dei auf den Fundamenten vorchristlicher Tempel, das Barock mit seinenFormen und Farben als Abglanz des Himmels auf Erden, Harmonie von Antike undChristentum, protestantische Predigtkirche im klassizistischen Stil, deutschnationaleneugotische Kathedral kirche vor der Arbeiterfrage mit Seelsorge- und Sozialzentrum und selbst die Betontechnologie dieses Jahrhunderts, die uns Kirchen bescherte, die aussehen wieFeuerwehrhäuser, theologisch wollten sie – das zeigen schon ihre Namen – ganz nah beiBonhoeffer und Martin Luther King sein, „ Gemeinde für andere“.
Aber die Frage muss erlaubt sein: !st der Protestantismus, in Pfarramt und Gemeinde, wirklich urban oder nicht doch eher kleinstädtisch, kleinbürgerlich orientiert? Welches Kirchenbild tragenwir im Kopf? Die Wohlfühlkirche mit Spiel- und Kuschelecke, Wärme und Geborgenheit? – Auch das gehört in ein Kapitel urbaner Theologie. [2]‘
Karl Barth sah die Kirche gerne auf dem Turm mit dem Wächteramt betraut und prophetischerSprache begabt, eine Art protestantischer Muezzin. Aber abgesehen davon, dass dieKirchtürme heute vergleichsweise kurz geraten sind, alles kann das doch wohl nicht sein.Prophetische Rede von oben herab? Biblische Belege dafür fehlen. Mittelalterliche Theologie hütet im Halbdunkel der Dome eher das Geheimnis der Stadt, Gott in ihrer Mitte meditiert,schützt vor dem Zugriff der Dämonen, macht in weiten Räumen Evangelium. Lehre auch,begehbar, betrachtbar, hörbar: ein Programm, das Touristen aus allen Regionen noch heuteanzieht.
Es lässt sich schwer beschreiben, was urbane Theologie ist. Eher schor lässt sich sagen, womitsie sich beschäftigen müsste: Kirche als
· Hoffnungsträgerin
· Mutmacherin
· Anwältin der Armen
· Seele der Stadt
· Zeichen für eine kindergerechte Stadt
· Arbeiterin für eine behindertengerechte Stadt.
Und immer ist zu fragen, unter welchem theologischen Vorzeichen das geschehen könnte. Inden 70er Jahren noch war das Proexistenzmodell gefragt. Noch die große anglikanische Studie„Faith in the City“ (1986) lebt davon. Aber die Kirche ist nicht Christus. Nur er selbst kann unsvertreten. Proexistenz im Sinne von Stellvertretung kann es wohl nicht sein, wenn wir „Kirchefür andere“ sein wollen. Sehr aufmerksam wird urbane Theologie in der Stadt leben mit offenenAugen und Ohren. Sie braucht das Gespräch mit der Soziologie, um urbane Strukturen (dieVeränderung der Familie z. B.) zu kennen. Sie braucht die Psychologie, um zu wissen, was inder Seele von Menschen vorgeht. Solidarität ist gefragt mit den Menschen. vor allem mit denKleinen, die ganz unten sind.
Nur so im „Labyrinth der Stadt“ (Comenius) [3] lässt sich die Perspektive auf das neueJerusalem finden. Zwischen Babel und Jerusalem geht unser Weg: Das ist eineGrunderkenntnis urbaner Theologie. Sie kann nichts anders sein als Theologie auf dem Wege,die die leise Stimme Jesu hörbar macht, Fragen stellt, Antworten versucht, Zeichen setzt.Symbole findet und unterwegs ist mit der Perspektive des neuen Jerusalem.
Von daher ist urbane Theologie immer auch kritische Theologie. Sie wird misstrauisch seingegen alle fast-food-Angebote mit niedrigem Schwellenwert; „Cafeteria-Glauben“, keineReligion ist light zu haben. Sie wird kritisch sein gegen hochspezialisierte professionalisierteCitykirchenprojekte, von Spezialisten für Bildungsbürger. Und sie wird sich nicht überwältigenlassen von der Pragmatik der leeren Innenstädte am Wochenende und schon gar nicht von derFinanznot. Ihre Tugenden sind: ökumenische Weite, vitale Phantasie, Mut zum Risiko. UrbaneTheologie braucht – in allem – Treue zu Christus: Er wurde in einem großen Prozess aus derStadt entfernt, er starb mit einer großen Frage vor den Toren Jerusalems, und er lebt als derAuferstandene. Golgatha heute steht mitten in der City, und in der Gemeinde Christi lebt diewunderbare Perspektive für das neue Jerusalem, das kommt von oben herab (Offb. 21). Dafürlohnt es sich zu arbeiten.
- Kirche ist ein Bethaus. Eine Stadt mit vielen sozialen Fragen, braucht solche Häuser desGebets, Schutzraum für die Seele, Orte wo Menschen gemeinsam mit Gott sprechen, ihnfragen, ihm klagen und ihn loben und preisen können.
- Kirche ist ein Klanghaus, da will etwas ins Singen und Klingen kommen. Da ist Kultur undMusik zu Hause. Kulturkirche ist angesagt. Und manche dieser nicht nur gottesdienstlichgenutzten Kirchen schreibt nicht nur schwarze Zahlen, sondern unterhält sogar noch diegemeindliche Sozialarbeit mit Wohnsitzlosen.
- Kirche ist ein Ort der Orientierung. Kraftwerk für die Seele. Hier wird das Evangeliumgepredigt. Gottes Wort eröffnet dem Menschen neue Erfahrungen mit sich selbst und dergesamten Wirklichkeit.
[1] Aus: ZGP, 14. Jg., Heft 4, 1996, S. 20f. vgl. auch Gott in der Stadt. Perspektiven evangelischer Kirchein der Stadt (EKD-Texte 93, 2007)
[2] Vgl. Christof Bäumler: Menschlich leben in der verstädterten Gesellschaft, Gütersloh 1993.
[3[Seinem Roman „Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens“ (1622/23) gab Jan Komensky(Comenius) eine Handzeichnung bei, die eine Stadt als Labyrinth darstellt.]
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