Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden

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Prof. Dr. Christian Möller

Praktisch-theologisches Seminar,

Karlstraße 16, 69117 Heidelberg

Einführung in Denken und Glauben Sören Aaby Kierkegaards (1813-1855) oder: Wie Brüche im Leben zu Umbrüchen im Denken werden

Sören Kierkegaard – der Name könnte kaum dänischer sein. Nimmt man noch den zweiten Vornamen „Aaby“ dazu, der den Jüngsten der Kierkegaards von seinem älteren Bruder Sören Michael unterscheidet, dann ist alles an diesem Namen perfekt dänisch, wie es sich der spätere Schriftsteller Kierkegaard, der ein Liebhaber der dänischen Sprache war und ein fast musikalisches Verhältnis zu seiner Muttersprache hatte, nicht dänischer hätte wünschen können. Schaut man im dänisch-deutschen Lexikon bei Kierkegaard nach, findet man als Übersetzung: „Friedhof“ [1]. Es ist der Garten, der in Dänemark fast überall mit den Gräbern rings um die Kirche herum liegt und deshalb „Kirkegaard“ heißt. Fangen wir also auf dem Kopenhagener „Assistens Kirkegaard“ an, wo die Kierkegaards ihr Grab haben! Halten wir uns dabei an eine berühmte Sentenz aus Kierkegaards Tagebuch: „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden“ [2]

Als Anne Kierkegaard geb. Lund, die zweite Frau von Michael Pedersen K., am 5.5.1813  Sören Aaby, ihr jüngstes Kind zur Welt brachte, war der Vater schon 56 Jahre alt. Von der Mutter der sieben Kinder ist kaum etwas bekannt geworden, außer, dass sie zunächst Magd im Hause Kierkegaard. war, kaum des Lesens und gar nicht des Schreibens kundig. Als Michael Pedersen K. seine erste Frau verloren hatte, schwängerte er diese Magd, musste sie daraufhin rasch heiraten und verbannte sie wohl meist in die Küche. Von Sören Aaby, dem jüngsten ihrer sieben Kinder, wird berichtet, dass er 1834 beim Tode seiner Mutter tiefe Trauer um sie trug, weil sie es wohl war, von der Sören Aaby eine gewisse Heiterkeit geerbt hat. Eine Bekannte, der er vom Tod seiner Mutter erzählte, berichtete, „daß sie in ihrem ganzen Leben niemals einen Menschen so tief betrübt gesehen habe, wie S. Kierkegaard beim Tode seiner Mutter, worauf sie auf ein ungewöhnlich tiefes Gemüt schloss“ [3].

Um so mehr ist vom Einfluss des Vaters auf seinen Sohn bekannt, dem Sören später fast alle seine religiösen Reden widmete: „Dem verstorbenen Michael Pedersen Kierkegaard, weiland Wollwarenhändler hier in der Stadt, meinem Vater, seien diese Reden gewidmet“. Wollte der kleine Sören einmal in den Zoo, dann nahm ihn der Vater bei der Hand und ging mit ihm im Hause die Diele auf und ab, bildete ihm die Elefanten, die Löwen oder die Affen so anschaulich und lebhaft vor Augen, dass der Kleine sie vor seinem inneren Auge sah, wie er sich überhaupt immer mehr bei diesen imaginativen Spaziergängen vergnügte. Sie bildeten in dem späteren Schriftsteller eine unglaubliche Einbildungskraft aus, so dass sich in Kierkegaards Werk über 500 Gleichnisse finden, die im Leser unmittelbare Evidenz erzeugen oder ihn verleiten, ein Gleichnis für sich selbst weiterzubilden. Kierkegaard wurde ein Meister anschaulicher Sprache, einer Sprache, die etwas sehen lässt, weil sie etwas zeigt.

Beispiel: In einem Zirkus bricht in den Kulissen Feuer aus; der Clown wird auf die Bühne geschickt, um das Publikum zu warnen. „Feuer!“, rief er immer wieder, „Feuer!“ Doch je lauter und verzweifelter der Clown rief, desto begeisterter klatschte das Publikum und lachte über den Spaß, der in Wahrheit bitterer Ernst war. Kierkegaard zieht aus diesem Gleichnis den Schluss: „Ebenso denk ich, wird die Welt zu Grunde gehn unter dem allgemeinen Jubel von witzigen Köpfen, die glauben, es sei alles nur ein `Witz`. [4] 

Der kleine Sohn durfte auch dabei sein und zuhören, wenn der Vater abends Besuch hatte, mit dem er zuweilen gern disputierte. Später erinnert sich Sören K. und verfremdet zugleich seine Erinnerung: „Mit einer allmächtigen Einbildungskraft verband der Vater eine unwiderstehliche Dialektik. Wenn da bei der einen oder anderen Gelegenheit der Vater sich in ein Wortgefecht mit einem andern einließ, so war Johannes ganz Ohr, und das um so mehr, als alles in einer beinahe feierlichen Ordnung vor sich ging. Der Vater ließ den Widerpart jederzeit völlig ausreden, fragte ihn auch noch aus Vorsicht, ob er noch mehr zu sagen habe, eher er mit seiner Antwort begann. Johannes war dem Vortrage des Widerparts mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt, war auf seine Weise mit daran interessiert, wie es ausging. Die Pause trat ein, die Erwiderung des Vaters folgte, und sieh! Im Handumdrehen war alles anders. Wie das zuging, blieb für Johannes ein Rätsel; aber seine Seele vergnügte sich an diesem Schauspiel. Der Widerpart sprach zum andern Mal. Johannes war noch aufmerksamer, um alles richtig festzuhalten; der Widerpart wurde eindringlich. Johannes konnte beinahe sein Herz klopfen hören, so ungeduldig wartete er, was da wohl geschehen werde. – Es geschah; in einem Nu war alles umgekehrt, das Erklärliche unerklärlich gemacht, das Gewisse zweifelhaft, das Gegenteil einleuchtend. Wenn ein Hai seine Beute packen will, so muss er sich auf den Rücken herumwerfen, denn sein Rachen sitzt auf seiner Bauchseite; Er ist am Rücken dunkel, silberweiß unter dem Bauche. Es soll ein herrlicher Anblick sein, diesen Wechsel in der Farbe zu sehen: sie soll zuweilen so stark blinken, dass es dem Auge nahezu wehe tut, und doch macht es Freude, es anzuschauen. Eines ähnlichen Wechsels Zeuge wurde Johannes, wenn er den Vater disputieren hörte. Er vergaß das Gesagte wieder, sowohl das, was der Vater als auch das, was der Widerpart gesagt hatte, aber dies Erschauern der Seele vergaß er nicht.“ [5]

Hier liegen die Wurzeln jenes dialektischen Scharfsinns, der Kierkegaards Schriften auszeichnet, einen Gedanken hin und her zu wenden, ihn in sein Gegenteil zu verfolgen und am Ende alles kunstvoll auf eine überraschende Pointe hinzuführen. Natürlich kamen später noch die philosophischen Studien bei seinem verehrten Lehrer Poul Möller dazu, die Auseinandersetzungen mit Hegels und Schellings Schriften und vor allem die Magisterarbeit über den Begriff der Ironie bei Sokrates, dem „Weisen des Altertums“, wie Kierkegaard ihn voller Verehrung nannte.

Das am schwersten wiegende Erbe des Vaters, das den Sohn sein Leben lang prägte, war eine Schwermut, mit der Kierkegaard zeit seines Lebens zu kämpfen hatte. „Von Kindheit an war ich in der Gewalt einer ungeheuerlichen Schwermut, deren Tiefe ihren einzig wahren Ausdruck findet in der mir vergönnten Fähigkeit, sie unter scheinbarer Heiterkeit und Lebenslust zu verstecken.“ Er sei kaum einen einzigen Tag seines Lebens frei gewesen von dieser Schwermut, die er von dem Vater geerbt hat. Sie war es freilich, die ihn zu Höchstleistungen anstachelte, denn wenn er arbeitete und arbeitete, eine Seite nach der anderen schrieb, war er selig und frei von den Überfällen dieses Leidens. Er schrieb sich gleichsam die Schwermut vom Leibe, durch die in ihm ständig neue Ideen entfacht wurden. Es ist der Pfahl im Fleisch, mit dem Kierkegaard zu leben hatte. Kaum ein Text der Bibel war ihm lieber als dieser biblische Text vom „Pfahl im Fleisch“, und dass Gottes Kraft im Schwachen mächtig ist. „Gottes bedürfen ist des Menschen höchste Vollkommenheit“ lautet der Titel einer der tiefsinnigsten religiösen Reden Kierkegaards von 1844, die um 2. Kor.12 kreist. Wer schwermütig ist, der macht die Erfahrung, dass er aus eigenen Kräften das Leben kaum bestehen kann, sondern in seiner Tiefe die Kraft des Höchsten braucht. Deshalb ist Kierkegaard auch so empfänglich für Erlebnisse wie dieses, das er in sein Tagebuch 1838, wenige Monate vor dem Tod seines Vaters im gleichen Jahr schrieb:

„Es gibt eine unbeschreibliche Freude, die uns ebenso unerklärbar durchglüht, wie des Apostels Ausbruch unbegründet hervorbricht: `Freuet euch, und abermals sage ich: Freuet euch`. Nicht eine Freude über dies oder jenes, sondern der Seele lebensvoller Ausruf „mit Zung und Mund aus Herzensgrund“. „Ich freue mich an meiner Freude, aus, in, mit, bei, an, durch und mit meiner Freude“ – ein himmlischer Kehrreim, der gleichsam plötzlich unseren übrigen Gesang abschneidet; eine Freude, die gleich einem Windhauch kühlt und erfrischt, ein Windstoß des Passats. Der vom Hain Mamre zu den ewigen Hütten weht“ (19. Mai 1838 10 ½).

Ist das Kierkegaards Bekehrungserlebnis? Ist es das Zeugnis seiner Erweckung? Die Forschung ist sich hier ganz unsicher, denn Kierkegaard kommt auf dieses Erlebnis, das sich in ähnlichen Worten bei Luther wie bei Pascal findet, nicht mehr zurück. Und doch treibt ihn die Schwermut immer wieder in ähnliche Bereiche, in denen er der rettenden Macht Gottes inne wird. „Mein Leben ist ganz darauf angelegt, mit einem Dorn im Fleisch – zu erreichen, was ich mir niemals geträumt hätte“, schreibt Kierkegaard 1847 in sein Tagebuch. Und er fügt an der gleichen Stelle noch hinzu: „Aber es gibt eine Art Pietismus, der eine traurige Geistesaskese ist, der glaubt, dass der Dorn im Fleisch einem Menschen bloß gegeben werde, dass er winselnd dasitze und den Dorn ansehe, anstatt mit Hilfe des Dorns sich höher zu schwingen; denn das ist so, wie wunderlich es in einem gewissen Sinn ist: mit Hilfe des Dorns im Fuße springe ich höher als irgendeiner mit gesunden Füßen.“ [6] Eben das geschah bei Kierkegaard: Die Schwermut, sein „Dorn im Fleisch“, trieb ihn zu Höchstleistungen sowohl im quantitativen als auch im qualitativen Sinn. In weniger als zehn Jahren, von 1841 bis 1851, schrieb er ein opus magnum nach dem anderen, das sich für Generationen von Theologen, Philosophen, Psychologen, Germanisten, Dichtern und Denkern wie Kafka, Ibsen, Camus, Max Frisch, Dürrenmatt. Sartre, Heidegger, Karl Barth, Rudolf Bultmann und viele, viele anderen als inspirierend erweisen sollte, weil Kierkegaard mit seinem Denken in Bereiche vordrang, die zuvor weithin ausgeblendet waren. Was für Bereiche? Es sind Bereiche der Existenz, in denen ein Mensch sich selbst ausgeliefert ist, ohne dass er weiß, wie er sich selbst entkommen kann. Es sind Bereiche des Lebens, in denen ein Mensch den Boden unter den Füßen verliert und in ein schwarzes Loch stürzt, ohne dass er weiß, wie ihm geschieht.

Kierkegaard aber weiß, was da geschieht, oder besser: Er hat es mit seiner Schwermut erfahren und dann auf den Begriff gebracht, auf den „Begriff Angst“. Darin macht er deutlich, wie man die Angst vor der Angst überwinden kann, wenn man begreift, dass Angst an sich die Kraft der Möglichkeit ist, und dass sie Existenzbereiche erschließt, die einem sonst verschlossen blieben. Erst durch die Sünde wird die Angst ausweglos; deshalb gilt es, sich mit der Sünde in den Glauben an die Vergebung der Sünde zu retten. Dann, im Glauben, wird ihm „die Angst ein dienender Geist, der wider Willen ihn führt, wohin er, der Geängstigte, will“ [7].

Unversehens bin ich nun in eine von Kierkegaards Hauptschriften hineingeraten: „Begriff Angst“. Ich möchte aber gern noch etwas bei Kierkegaard Biografie bleiben, um deutlich zu machen, wie hier das Leben vorwärts gelebt und rückwärts verstanden wurde. Drei mutwillig herbeigeführte Brüche sind es, die sich in Kierkegaards Leben als tiefe Umbrüche in seinem Existieren erwiesen: 1. der Bruch mit seiner Verlobung (1841); 2. Der Bruch mit der Macht der Presse (1846); 3. Der Bruch mit seiner Kirche (1854/55). 

Der Bruch mit Regine

Im Jahr 1837 begegnete dem 24jährigen Studenten Sören K. ein bildhübsches Mädchen von gerade 14 Jahren, in das er sich sofort verliebte: Regine Olsen. Doch sie war zu jung, als dass er gleich um sie werben konnte. Er nahm zu ihr zunächst nur lockeren Kontakt auf. Doch als er drei Jahre später sein Theologisches Examen gemacht hatte, suchte er sie in ihrem Haus auf und machte ihr einen Heiratsantrag. Der Vater  war einverstanden, und sie gab ihm ihre Hand. Am 10. September 1840 fand die Verlobung statt. Gleich danach begann er seine Magisterarbeit über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates. Ein Jahr später schloss er seine Arbeit ab, verteidigte sie am 29. September 1841 vor der Philosophischen Fakultät, hob nunmehr als Magister Kierkegaard am 11.Oktober seine Verlobung mit Regine wieder auf und reiste 14 Tage später nach Berlin ab. So stürmte Kierkegaard in seinem Leben vorwärts. Doch er brauchte Jahre, um rückwärts zu verstehen, was eigentlich mit ihm vorgegangen war. In vier Jahren schrieb er fünf Bücher mit fast 2000 Seiten, dazu viele religiöse Reden und Seiten in seinen Tagebüchern, um sich den Schmerz von der Seele zu schreiben, einen Abstand zur Katastrophe seines Lebens zu finden und zu reflektieren, warum er nicht bei Regine bleiben konnte. „Hätte ich Glauben gehabt, so wäre ich bei ihr geblieben“, heißt es in einer Tagebuchnotiz.

Was war geschehen? Um es gleich vorweg zu sagen: Die Forschung sucht bis heute nach der eigentlichen Ursache dieser rätselhaften Entlobung. Die einen sagen, es sei Syphilis gewesen, die Kierkegaard seiner Braut nicht offenbaren wollte; die anderen tippen auf Epilepsie. Für mich ist es die Schwermut, die Kierkegaard an einer Heirat hinderte. Er wollte seine Braut vor einem Mann bewahren, der ein derart schweres Erbe mit in die Ehe bringt, wie es von dem Vater her in dem Sohn sich verbarg: ein Fluch, den der Vater als kleiner Hütejunge in Jütland aus Verbitterung über seine Armut gegen Gott schleuderte, sei auf seine ganze Familie zurückgefallen und habe sich auch in dem jüngsten Sohn als Schwermut festgesetzt. Das wollte er seiner Braut nicht offenbaren und ihr auch nicht zumuten – aus Liebe, die Kierkegaard bis zum Tode seiner Braut bewahrte, weshalb er auch testamentarisch alles, was er besaß, Regine vermachte. Als sie, die zwei Jahre später sich mit ihrem Hauslehrer verlobte und mit ihm einige Jahre später verheiratet, nach Westindien ging, in ihrem Alter nach Dänemark zurückkehrte und den Nachlass Kierkegaards studierte, soll sie geäußert haben: Nun beginne sie, ihn zu verstehen.

Und wie steht es mit uns? Beginnen wir Kierkegaard in seinen nachgelassenen Schriften zu verstehen? Es ist ja nicht schon die Verlobungskrise, die den Dänen so interessant macht, denn von solchen Krisen gab und gibt es leider viele. Es sind vielmehr die Funken, die Kierkegaard aus den Schlägen seines Lebens geschlagen hat, indem er seiner Devise folgte: „Die Subjektivität ist die Wahrheit“ und d.h. in dem, was ich subjektiv erlebe, kann eine objektive Wahrheit verborgen sein, die durch die Reflexion der Existenz, durch rückwärts gewandtes Verstehen, entborgen sein will. Eben diese Reflexion der Existenz vollzieht sich in Kierkegaards Schriften, und zwar so, dass der Leser und die Leserin in das Reflektieren ihrer eigenen Existenz verwickelt werden durch die Frage: Und wie ist es bei mir, wenn ich den Boden unter den Füßen verliere und in bodenloser Angst versinke? Wie komme ich aus dem schwarzen Loch der Schwermut wieder heraus?

Um den subjektiven Wurzelgrund seines Erlebens weitgehend in seinen Schriften zu tilgen, erfand er Pseudonyme als Verfasser seiner Schriften: Victor Eremita, den siegreichen Einsiedler, für „Entweder-Oder“; Constantin Constantius, den Konstanten, für „Die Wiederholung“, Johannes de Silentio, Johannes vom Schweigen, für „Furcht und Zittern“, Vigilius Haufniensis, den Wächter Kopenhagens, für „Der Begriff Angst“ und Hilarius Buchbinder für „Stadien auf des Lebens Weg“. Diese Pseudonyme gewinnen bei Kierkegaard ein ganz eigenes Leben. In ihnen erprobt er Möglichkeiten der Existenz, nimmt Abstand von sich selbst und lenkt den Leser, die Leserin weg von dem subjektiven Anlass der Schrift auf fremde Verfasser, um objektiv zu werden.

Nur eine von diesen fünf fundamentalen Schriften wollen wir uns ein wenig näher ansehen, zumal ich schon auf sie zu sprechen kam: „Der Begriff Angst“, erschienen am 17. Juni 1844, mit dem Untertitel: „Eine schlichte psychologisch-andeutende Überlegung in Richtung auf das dogmatische Problem der Erbsünde“ von Vigilius Haufniensis, dem „wachsamen Kopenhagener“. Angst ist für Vigilius nicht gleich etwas Negatives. „Die Angst ist die Möglichkeit der Freiheit“ (161), oder etwas ambivalenter ausgedrückt: „der Schwindel der Freiheit“. Man muss sie von der Furcht unterscheiden, die einen Gegenstand hat, während die Angst gegenstandslos auftritt und dem Menschen unendlich viele Möglichkeiten entdeckt, die einen „Schwindel der Freiheit“ in ihm erzeugen. Angst als Möglichkeit der Freiheit ist jedem Menschen gottgegeben, ein Urelement, das Zeichen des Menschseins ist. Schon bei Adam und Eva erwies sich die gottgegebene Angst als Voraussetzung des Sündenfalls, als sie in den „Schwindel der Freiheit“ gerieten, ob sie vom Baum der Erkenntnis essen sollten oder nicht, und die Schlange erhöhte diesen Freiheitsschwindel noch: „Ihr könnt sein wie Gott!“ Dies wiederholt sich in jedem Menschengeschlecht: Jeder und jede bekommen es mit diesem „Schwindel der Freiheit“ zu tun, sie müssen sich so oder so entscheiden und werden durch ihre Entscheidung schuldig.

Das eben war ja auch Kierkegaards Urerlebnis bei dem Bruch der Verlobung: Es gibt eine Unentrinnbarkeit der Schuld. Heiratet er sie, belastet er die Ehe mit einem Schwermutserbe und wird schuldig an Regine: heiratet er sie nicht, stellt er sie vor ihrer Familie und der Kopenhagener Öffentlichkeit bloß und wird schuldig an ihr. So oder so lädt er Schuld auf sich. Diesem Konflikt sieht Kierkegaard nicht nur sich selbst, sondern kraft der Angst als „Schwindel der Freiheit“ jeden Menschen so oder so ausgesetzt. Sage mir, wie du mit deiner Angst umgehst, und ich sage dir, wes Geistes Kind du bist. Hier liegen die Wurzeln dessen, was man mit einem Schlagwort „Existenzphilosophie“ nennt, oder noch platter: „Existentialismus“. Gemeint ist: Wie ein Mensch mit seiner Angst umgeht, wie er sie existiert, aus-steht, offenbart so oder so, wer er ist, und wie er sich zu seiner Existenz verhält. Daran knüpft 100 Jahre später Martin Heidegger an, wenn er in „Sein und Zeit“ die Angst als ein Existential beschreibt, das die Existenz eines Menschen offenbart und ihm hilft, sich selbst durchsichtig zu werden.

Vigilius Haufniensis knüpft am Ende seiner „psychologisch andeutenden Überlegungen“ zum „Begriff Angst“ an das Grimmsche Märchen von dem jungen Burschen an, der auszog, das Gruseln zu lernen: „Dies ist ein Abenteuer, das jeder Mensch zu bestehen hat, dass er lerne sich zu ängstigen, denn sonst geht er dadurch zugrunde, dass ihm nie angst war, oder dadurch, dass er in der Angst versinkt; wer hingegen gelernt hat, sich recht zu ängsten, der hat das Höchste gelernt“ [8] Dass ein Mensch zugrunde gehen kann, weil er in der Angst versinkt, leuchtet sofort ein; warum aber geht ein Mensch auch daran zugrunde, „dass ihm niemals angst gewesen“? Ohne Angst weiß ich nichts von der Freiheit der Möglichkeit, und ich versinke in einer platten, dumpfen Wirklichkeit, einem Tier gleich. Erst die Angst macht den Menschen zu einem freien Menschen. Und wie lerne ich, mich recht zu ängsten? Darauf antwortet Vigilius: „Wer in Wahrheit durch die Möglichkeit erzogen wurde, der hat das Schreckliche ebenso gut erfasst als das Angenehme. Wenn dann ein solcher die Schule der Möglichkeit durchgemacht hat und mit größerer Sicherheit, als ein Kind sein ABC kennt, weiß, dass er absolut nichts vom Leben fordern kann, dass das Entsetzliche, das Verderben, die Vernichtung Tür an Tür mit jedem Menschen zusammenwohnt; wenn er zudem noch gelernt hat, dass jede Angst, über der er sich abängstete, im nächsten Augenblick über ihn kam, (…) so wird er die Wirklichkeit preisen und selbst wenn sie schwer auf ihm lastet, wird er sich daran erinnern, dass sie doch weit, weit leichter ist, als die Möglichkeit es war“ [9].

In der Schule der Möglichkeit lerne ich also, mich recht zu ängsten. Hier lerne ich, wie die Möglichkeit alle Endlichkeiten, alle endlichen Ausflüchte verzehrt, so dass ich nur noch der Möglichkeit ins Auge sehen kann. Das kann ich freilich nur, wenn ich kraft des Glaubens in der Vorsehung ruhe, die alle Möglichkeiten für mich schon vorausgesehen hat. Von diesem Glauben gilt: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt“ (Mk 9,23). Der Glaube, der in der Vorsehung ruht, glaubt, was ein barocker Liederdichter des 17. Jahrhunderts (Paul Fleming) so ausdrückt: „Es kann mir nichts geschehen, als wer ER hat ersehen, und was mir selig ist; ich nehm es, wie er’s gibet, was IHM von mir beliebet, dasselbe hab auch ich erkiest“ (EG 368, In allen meinen Taten, Str. 3). Der Mohammedaner, der in Allahs Vorsehung ruht, bringt seinen Glauben auf den kurzen Ruf: „Insch`Allah“, und er meint damit im Sinne von Vigilius Haufniensis, dass alles, was ihm möglicherweise passieren könnte, das ganze Spektrum an Möglichkeiten, schon von Gott vorhergesehen ist und ihm so zugeteilt wird. Recht verstanden scheint mir also „Der Begriff Angst“ eine Freiheitsschrift zu sein, die den Menschen dazu frei macht, recht mit seiner Angst umzugehen.

Der Bruch mit der (medialen) Öffentlichkeit

Dänemark gilt heute auch als das Land der Karikaturen, seit dort vor etwa sieben Jahren Karikaturen vom Propheten Mohammed erschienen, die den Zorn vieler Moslems erregten und Dänemark zur Zielscheibe eines gewaltigen Zorns machten, bis hin zu einem Attentat auf den Karikaturisten selbst. Weniger bekannt ist jedoch, dass Karikaturen in Dänemark eine lange Tradition haben, die schon Kierkegaard schmerzhaft zu spüren bekam, als er sich 1846 mit einer Satire-Zeitschrift anlegte, die den Namen „Der Corsar“ trug. Vor der Macht dieses Blattes, das eine Auflage von 3000 Abnehmern hatte, zitterten alle in Kopenhagen, die befürchten mussten, dass auch sie darin einmal aufgespießt und dem Spott der Öffentlichkeit preisgegeben werden.

Kierkegaard hatte vom „Corsar“ nichts zu befürchten, denn der Herausgeber Aaron Meir gehörte zu den Bewunderern des Verfassers von „Entweder-Oder“. Und doch passte Kierkegaard das ganze Treiben dieses Blattes nicht, weil es seiner Meinung nach auf Menschenverachtung hinausläuft, wenn Journalisten aus dem Hinterhalt (aus Angst vor der Pressezensur erschienen alle Artikel anonym) auf Menschen zielten, die sie dem Gespött der Öffentlichkeit preisgaben. Dass auch die Leser der Zeitung an dieser Art von Menschenverachtung teilhaben, war ein weiterer Grund für Kierkegaards Zorn. Schließlich schrieb er unter dem Namen eines seiner Pseudonyme „Frater Taciturnus“ am 27. Dezember 1845 in die Tageszeitung „Faedrelant“: „Wenn ich doch nur endlich in den ‘Corsaren’ kommen könnte. Es ist wirklich hart für einen armen Schriftsteller, in der dänischen Literatur auf die einzige Weise herausgehoben zu werden, dass er (angenommen, wir Pseudonyme sind eines) der einzige ist, der dort nicht geschmäht wird.“ Der Wunsch wurde prompt erfüllt, und schon zu Beginn des neuen Jahres 1846 setzte der Spott auf Kierkegaard erst mit Artikeln und dann mit Karikaturen ein. Wie sehr er darunter gelitten hat, machen die Tagebuchnotizen deutlich. Auf der Straße aber tat er so, als gehe ihn das alles nichts an. Das ging auf Dauer aber nicht mehr, denn als die Karikaturen auf seinen Buckel und sein zu kurzes Hosenbein zielten, fing das Gelächter auf der Straße an. Kinder riefen schon von weitem: „Enten-eller“ (Entweder-Oder) kommt. Marktfrauen schauten nach seinen Hosenbeinen. Beim Besuch des Gottesdienstes wurde er schräg angeschaut. Das traf Kierkegaard hart, denn er musste nun eine ganze Weile lang Abschied nehmen von seinen Spaziergängen durch die Stadt.

Er war ein leidenschaftlicher Flaneur, der fast schon zum Stadtbild Kopenhagens gehörte.

Sein Freund Hans Bröchner, der Kierkegaard gelegentlich beim Spaziergang durch Kopenhagens Straßen begleitete, erinnert sich: „Er konnte mit einem Blick auf einen Vorbeigehenden unwiderstehlich ‘sich in Rapport setzen’, wie er es ausdrückte. Der, den dieser Blick traf, wurde entweder angezogen oder abgestoßen, verlegen gemacht, unsicher, oder gereizt. Ich bin durch eine ganze Straße mit ihm gegangen, während er mir auseinandersetzte, wie man, indem man sich derart in Rapport zu den Vorbeigehenden setzte, psychologische Studien treiben konnte, und während er die Theorie entwickelte, realisierte er sie in der Praxis ungefähr mit jedem Menschen, den wir trafen. Da war nicht einer, auf den sein Blick nicht einen sichtbaren Eindruck hinterließ. Bei derselben Gelegenheit erstaunte er mich mit der Leichtigkeit, mit der er ein Gespräch mit den verschiedenartigsten Menschen anknüpfte, in einigen wenigen Repliken ein früheres Gespräch wieder aufnahm und es einen Schritt weiterführte bis zu einem Punkt, wo es bei Gelegenheit wieder aufgenommen werden konnte“ [10].

Nicht das war so schlimm, dass der „Corsar“ ihn öffentlich angriff; nicht einmal das war das Schlimmste, dass satirische Karikaturen von ihm angefertigt wurden, die ihn mit seinem zu kurzen Hosenbein und mit seinem Buckel zeigte, um ihn öffentlich der Lächerlichkeit preiszugeben. Das eigentlich Schlimme war, dass halb Kopenhagen über ihn lachte, während die Elite vornehm schwieg und sich von ihm zurückzog. Nun musste er eine ganze Weile lang die Stadt meiden und hinausgehen zu den „Vögeln unter dem Himmel und den Lilien auf dem Felde“, die ihn freilich zu wunderbaren „Christlichen Reden“ inspirierten, in welchen er den Sorgen der Menschen, allem voran seinen eigenen Sorgen, den Vogel zeigte, bis er wieder sorglos, weil vom Vergessen der Menschen beschützt, in die Stadt und ihre Straßen zurückkehren konnte. Und als er nach seinem Tod überhaupt nicht mehr auf Kopenhagens Straßen zu sehen war, erinnerte sich seine Nichte Henriette Lund: „Im ganzen genommen waren die Straßen Kopenhagens für ihn ein Empfangszimmer im großen, wo er früh und spät sich umtrieb und mit allen redete, mit denen er Lust hatte. Als er fort war, und da ich nicht mehr der bekannten und lieben Gestalt begegnen sollte, kam es mir vor, als sei plötzlich die ganze Stadt leer geworden und fremd“ [11] (Tagebücher, Haecker, 601).

Während des Corsarenstreits füllten sich Kierkegaards Tagebücher mit immer bissigeren und grundsätzlicheren Notizen zu dem, was Presse ist, und was sie mit den Menschen macht. Ich wähle nur zwei Notizen als Beispiele aus:

1. „Die Presse ist es eigentlich, die alle Persönlichkeit zunichte macht; weil ein feiger Lump verborgen dasitzen und für Tausende drucken und schreiben kann. Alles persönliche Auftreten und alle persönliche Macht muß daran scheitern. Mir wäre unbedingt daran gelegen, mit Sokrates über die Sache zu sprechen“ (II, 58).

2. „Was tut nun die Zeitungspresse? Alles, was sie mitteilt (der Gegenstand ist gleichgültig, Politik, Kritik usw.), teilt sie derart mit, als sei es immer die Menge, die Mehrzahl usw., die Bescheid wüsste. Schau, deshalb ist die Zeitungspresse die gefährlichste Gedankenverdrehung, die je aufgekommen ist. Man klagt darüber, dass zuweilen ein einzelner unwahrer Artikel in einem Blatt steht – ach, was für eine Nebensächlichkeit; nein, die ganze wesentliche Form dieser Mitteilung ist ein Betrug“ (II, 137).

Natürlich zieht Kierkegaard auch aus den Erfahrungen des Corsarenstreits und des daraus folgenden Bruchs mit der Öffentlichkeit Kopenhagens grundsätzliche Konsequenzen, die weit über diesen Anlass hinausgehen und von fundamentaler philosophischer wie theologischer Bedeutung sind. Sie betreffen die Kategorie des „Einzelnen“. Wer ist das? Es ist jeder Mensch, freilich so, dass er oder sie gegenüber der Menge, der Masse oder dem Zeitungspublikum Abstand gewonnen hat und nicht einfach mehr in der Masse mitläuft. Der Einzelne ist der zu sich selbst gekommene, verantwortlich gewordene Mensch, der notfalls auch einer Menge gegenübertreten und Widerstand bieten kann. Der Einzelne – das ist eine Kategorie der Zivilcourage. Kierkegaard übt sie mit seinen Lesern in einer bewegenden Beichtrede ein, die er 1847 als seine Konsequenz aus dem Corsarenstreit veröffentlicht. Da heißt es: „Draußen lärmt die Menge, einer lärmt, indem er an der Spitze der Menge steht, die meisten, indem sie mit in der Menge sind; aber der Allwissende, obwohl er doch wohl trotz allem die Übersicht behalten kann, will nicht die Menge, er will den Einzelnen, nur mit dem Einzelnen will er sich einlassen, gleichgültig, ob dieser Einzelne der Hohe oder der Geringe ist, der Ausgezeichnete oder der Elende. Für sich selbst, also als Einzelner, soll jeder vor Gott treten.“

Wie ein Credo seiner ganzen Tätigkeit als religiöser Schriftsteller schreibt er 1851: „Und das ist mein Glaube: so viel Verwirrtes und Böses und Widerwärtiges an den Menschen sein mag, sobald sie, der Verantwortung und Reue ledig, ‘Publikum’, ‘Menge’ und dgl. werden: ebensoviel Wahres und Gutes und Liebenswertes ist an ihnen, wo man sie einzeln zu fassen bekommt. O, und in welchem Maße würden die Menschen nicht – Menschen werden und liebenswert, wenn sie Einzelne würden vor Gott!“ [12]

Man darf diese Kategorie des Einzelnen nicht individualistisch oder gar solipsistisch missverstehen. Es ist eine Beziehungskategorie. Der Einzelne ist nur Einzelner der Menge gegenüber und vor Gott. Eine Gemeinschaft lebt von diesen Einzelnen, die Verantwortung für das Ganze tragen, darin aber unabhängig sind vom „Meinungssuff“, von „Massenstimmung“ oder vom „Publikumsgeschmack“. Es ist keine elitäre Kategorie, wie Kierkegaard immer wieder betont, denn der Einzelne lebt mitten unter dem Volk, fühlt sich nicht besser und muss immer wieder neu um seine Unabhängigkeit von Massenstimmungen ringen. Das tut er am besten, indem er sich mit seinem Gewissen ständig neu daran ausrichtet, dass er für jedes seiner Worte einstmals Rechenschaft ablegen muss vor Gottes Gericht. Kierkegaard war die Kategorie des Einzelnen so wichtig, dass er erwog, ob nicht auf seinem Grabstein nur zwei Worte stehen sollten: „Jener Einzelne“. Ehe wir zum Schluss noch einmal hinausgehen zum Assistenz-Kirkegaard in Kopenhagen, um zu sehen, was nun tatsächlich auf Kierkegaards Grabstein steht, will ich noch den wohl verhängnisvollsten Bruch ansprechen, den er wiederum mutwillig herbeiführte, weil er ihm unvermeidlich erschien:

Der Bruch mit der Kirche

Kierkegaard war auch darin mit seinem Vater aufs engste verbunden, dass er  von der gleichen glühenden, aber auch schwermütigen Frömmigkeit herrnhutischer Prägung wie der Vater durchdrungen war. Nach dem Tode des Vaters im Jahr 1838 hielt sich der Sohn, wie es der Vater ihm geboten hatte, an den Kopenhagener Bischof Mynster als seinen Seelsorger. Ihn suchte er öfter voller Zutrauen auf und brachte ihm sein jeweils neustes literarisches Werk mit. Je mehr sich aber Sören Kierkegaard in seinen Schriften darum bemühte, das Christentum in seiner ursprünglichen biblischen Kraft herauszuarbeiten und gegenüber der bestehenden Christenheit abzuheben, desto mehr kam es zu einer Entfremdung vom Bischof. Zuweilen hatte der gar keine Zeit mehr für ihn oder fertigte ihn mit hinhaltenden oder flüchtigen Worten ab. Kierkegaard spürte das zwar, saß aber jeden Sonntag unter der Kanzel des Bischofs und las auch dessen veröffentlichte Predigten noch einmal nach. Als Kierkegaard aber im Corsarenstreit in der Öffentlichkeit Kopenhagens lächerlich gemacht wurde, wäre ihm ein schützendes Wort des Bischofs goldwert gewesen – es kam nicht. Als sich die Demokratiebewegung tumultuarisch in Dänemark 1848f. ausbreitete, erhoffte sich Kierkegaard wiederum ein klärendes, orientierendes Wort vom Bischof in der Öffentlichkeit – es kam nicht. Als Kierkegaard seine Schrift „Einübung ins Christentum“ dem Bischof überreicht hatte und auf dessen Urteil wartete, kamen wieder nur abwertende oder hinhaltende Worte. Schließlich wurde ihm Mynster zum Inbegriff eines diplomatisch taktierenden Kirchenmannes, der hinter Kierkegaards Rücken gegen ihn agierte. Nur so ist es erklärlich, dass Kierkegaard noch auf seinem Sterbebett seinem Freund Emil Boesen sagte: „Du glaubst nicht, was Mynster für eine Giftpflanze war“. Als dieser Bischof am 30. Januar 1854 starb, wurde ihm von seinem späteren Nachfolger Martensen in dessen Würdigung des Toten der Ehrentitel zuteil, Mynster sei ein Wahrheitszeuge der christlichen Kirche gewesen. Da kam es in Kierkegaard zur Implosion, noch nicht zur Explosion. In ihm erwachte ein unbändiger Protest gegen so viel Lüge. Er wartete aber noch, bis Martensen die Nachfolge angetreten hatte.

Dann, genau in der Weihnachtszeit 1854, schlug Kierkegaard wieder mit einem Artikel in Faedrelandt los: „War Bischof Mynster ein Wahrheitszeuge?“, was er natürlich vehement in Frage stellte. Es kam zu entrüsteten Entgegnungen zu dem, was viele als Leichenfledderei empfanden. Auch Martensen veröffentlichte eine scharfe, zynische Entgegnung. Kierkegaard aber war völlig unbeeindruckt, ja, er weitete seinen Protest in Flugblättern mit dem Titel „Der Augenblick“ zu einer grundsätzlichen Kritik an der dänischen Volkskirche aus: Sie habe mit dem ursprünglichen Christentum nichts mehr zu tun, und es sei sogar eine Gotteslästerung, die Gottesdienste dieser Kirche noch zu besuchen. Kierkegaard selbst, der regelmäßige Kirchgänger, besuchte nunmehr am Sonntag demonstrativ einen Literatenclub und weigerte sich selbst noch einige Monate später auf seinem Sterbebett, von einem Pfarrer und d.h. einem Staatsbeamten dieser Staatskirche, das Abendmahl zu empfangen. Dieser Proteststurm gegen die Kirche war maßlos, einseitig, ungerecht, wie Kierkegaard ja oft eine Sache bis ins Extrem vorangetrieben hatte. In Wahrheit hatte er nur ein Ziel: Er wollte „Redlichkeit“ und d.h. das Eingeständnis, dass diese seine Kirche vom ursprünglichen Christentum abgefallen sei. Noch knapper ausgedrückt: Er wollte Reue und Umkehr seiner Kirche zu ihrem Ursprung erreichen, denn mit Reue und Umkehr zum Ursprung fangen die wahren Kirchenreformen für ihn an, wie ja auch Jesus selbst mit dem Bußruf seinen Weg begonnen hatte: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“

Als Kierkegaard am 11. November 1855 in einem Kopenhagener Hospital gestorben war, entstand die peinliche Frage, wie man diesen Kirchenkritiker nun unter die Erde bringen soll. Es kam so, wie Kierkegaard es vorausgesehen hatte: Er wurde schließlich doch kirchlich vereinnahmt, indem er in der Frauenkirche aufgebahrt und von seinem Bruder Peter, dem Bischof von Aalborg, mit feierlichen Worten gewürdigt wurde. Draußen auf dem Assistens Kirkegaard hielt der Propst die kirchliche Aussegnung des Verstorbenen. Dann aber kam es zum Eklat, als der Arzt Henrik Lund, ein entfernter Verwandter Kierkegaards, das Wort zum Protest gegen die kirchliche Vereinnahmung des Kirchenstürmers nahm. Vereinzelt bekam er Beifall. Dann ging die große schwarze Menge von Menschen, die gekommen waren, still und beklommen ihres Weges. Es war ein Abschied – fast nach Kierkegaards Geschmack.

Und was wurde nun auf seinen Grabstein geschrieben? Ist es „jener Einzelne“? Nein, es ist die Strophe eines alten Gesangbuchliedes von Adolf Brorson, dem Pfarrer von Tondern und späteren Bischof von Ribe, dessen Lieder Kierkegaard offenbar sehr liebte:

 

Det er en liden tid

sa har jeg vundet

so er den ganske strid

med eet forsvundet

so kann jeg hvile mig

i rosensale

og uafladelig

med Jesus tale

zu deutsch:

„Noch eine kleine Zeit,

so ists gewonnen,

so ist der ganze Streit

Ins Nichts zerronnen:

Im Rosensaal darf ich

Ohn Unterbrechen

Auf ewig, ewiglich

Mit Jesus sprechen“

Es ist die 5. Strophe des Liedes „Halleluja, ich habe meinen Jesus gefunden“, das Hans Adolph Brorson, Pfarrer in Tondern und späterer Bischof von Ribe, im 18. Jahrhundert gedichtet hat [13]. Kierkegaard hat also nicht nur die beiden Worte auf den Grabstein setzen lassen: „Jener Einzelne“, weil er Abstand davon nahm, dass ein Programmwort seines Denkens auf seinem Grabstein steht. Vielmehr barg er sich mit seinem Leben und seinem Sterben in den Gesangbuchvers eines großen dänischen Liederdichters und in die Tradition einer singenden Kirche.

Ist in dieser Liedstrophe nicht Kierkegaard prägnant getroffen?

1. Der Streitbare, der einen Bruch nicht scheut, wenn er denn unumgänglich notwendig ist.

2. Doch ist der Streit „nur eine kurze Zeit“; Kierkegaard suchte nicht Streit um des Streites willen, denn das Eigentliche und Zentrale war bei ihm eine tiefe Sehnsucht nach Ewigkeit, von der er bereits mitten in der Zeit zehrte und auf die er sehnlich bei seinem Sterben hoffte.

3. Sein Neffe Troels Lund berichtet von seinem letzten Besuch bei Kierkegaard am Sterbebett, dass der Sterbende ihm zugeflüstert habe: „Ich danke Dir Troels, dass Du zu mir kamst, lebe wohl!“ Und diese Worte, so fährt der später so berühmte Historiker Troels Lund fort, wurden von einem Blick begleitet, „desgleichen ich später nie gesehen habe. Kierkegaard strahlte mit einem erhabenen, verklärten, seligen Glanz, so dass er mir schien, das ganze Zimmer zu erleuchten. Alles war in dem Lichtquell dieser Augen gesammelt: innige Liebe, selige, aufgelöste Wehmut, durchschauende Klarheit und ein scherzendes Lächeln. Mir war’s als eine himmlische Offenbarung, ein Herausströmen von der einen Seele zu der anderen, ein Segen, der neuen Mut, neue Kraft und Verpflichtung mir einflößte“ [14].

Nachwort

Mit so einem Zitat schließt gern ein Vortrag ab. Aber das geht bei Kierkegaard nicht. Das wäre zu schön für ihn, zu glatt, zu rosensaalmäßig. Bei Kierkegaard muss es knirschen, und das tut es, wenn ich als Nachwort Hans Martensen, dem eleganten Nachfolger Mynsters im Kopenhagener Bischofsamt, das Wort gebe, das er in seinen Lebenserinnerungen viele Jahre nach Kierkegaards Tod über seinen Widersacher geschrieben hat: „Je weiter er (.Kierkegaard) sich entwickelte, desto mehr entfaltete sich sein ganzes Leben und Treiben als eine Einheit von Sophistik und tiefem, wiewohl krankhaftem Gemütsleben. Dass aber die Krankheit dieses tiefen Gemütes im Laufe der Jahre immer mehr die Oberhand gewann, davon hat er selbst einen unwidersprechlichen Beweis in den hinterlassenen Tagebüchern gegeben“ [15]

Das ist die typische Art und Weise, wie Kierkegaard, aber nicht nur er, sondern z.B. auch Nietzsche ganz ähnlich, in ihrer Unbequemheit abgetan werden: er sei krank gewesen, depressiv; oder: Nietzsche habe Syphilis gehabt usw.  Das heißt dann: So ernst muss man ihn nicht nehmen, weil er nicht normal war.

Nun sind ja die Grenzen zwischen Kranken und Gesunden stets fließend. Vielleicht haben aber die sog. „Kranken“ mit ihren Erfahrungen den „Gesunden“ zuweilen Entscheidendes zu sagen. So jedenfalls scheint es mir bei Kierkegaard zu sein, wenn man miterlebt, wie er in seinem Leben durch die Schwermut vorwärts getrieben wird, um dann rückwärts zu re-flektieren, welche fundamentale Erfahrung ihm jeweils zuteil wurde, die es öffentlich mitzuteilen lohne. Mit einer solchen fundamentalen Erfahrung aus Kierkegaards Tagebüchern will ich nun wirklich schließen: „Das Evangelium ist frohe Botschaft für Schwermütige und Ernst für Leichtsinnige“[16].

[1]              Allerdings ohne „e“: Kirkegaard!

[2]              Genau zitiert heißt es in den Tagebüchern (Haecker), 157: „Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, daß das Leben rückwärts verstanden werden muß. Aber darüber vergisst man den andern Satz, daß vorwärts gelebt werden muß.“

[3]              Hans Martensen, Mitteilungen aus meinem Leben, Berlin 1891, 53.

[4]              Entweder-Oder, 1.Teil, Düsseldorf 1964 (5. Auflage), 32f.

[5]              Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est, aaO. 115.

[6]              Tagebücher (Haecker), 244.

[7]              Begriff Angst, 11.Abt., Düsseldorf 1958, 165.

[8]              Begriff Angst, hg.v. S. Hoffmann, Wiebaden 2005, 178 (übers.v. Ch. Schrempf)

[9]              Begriff Angst, (übers.v. Schrempf), 179f.

[10]            Hans Bröchner, Erinnerungen an Sören Kierkegaard, Bodenheim 1997,  27f.

[11]            Tagebücher, Haecker,. 601

[12]            Ebd. 9.

[13]            Vgl.Gerhard Krause, Ein Sonderfall des sogenannten Ewigkeitsliedes. Zu einem Kapitel dänischer und deutscher Hymnologie, ZThK 79, 1979, 360-380.

[14]            Eduard Geismar, Sören Kierkegaard. Seine Lebensentwicklung und seine Wirksamkeit als Schriftsteller, Göttingen 1929, 634

[15]            Mitteilungen aus meinem Leben, Berlin 1891, 53.

[16]            Der genaue Wortlaut: „Das Christentum ist gewiß nicht Schwermut, es ist ja im Gegenteil die frohe Botschaft – für Schwermütige; für Leichtsinnige ist es freilich nicht die frohe Botschaft, denn sie will es zuerst ernst machen“ (Tagebücher Haecker, S. 254)

 
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