Von einem, der auszog, die Angst zu lernen

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Prof. Dr. Christian Möller

Praktisch-theologisches Seminar

Karlstraße 16, 69117 Heidelberg

Zum 200.Geburtstag von Sören A. Kierkegaard am 5.Mai 2013

Am 17. Juni 1844 erscheint in Kopenhagen ein Buch mit dem merkwürdigen Titel:„Der Begriff Angst“. Noch etwas merkwürdiger ist der Untertitel: „Eine schlichte psychologisch-andeutende Überlegung über das dogmatische Problem der Erbsünde“. Am allermerkwürdigsten aber ist der lateinische Name des Verfassers: Vigilius Haufniensis, zu Deutsch etwa „Der Nachtwächter Kopenhagens“. In Dänemarks Hauptstadt weiß man trotzdem sofort, wer sich hinter dem schrulligen Pseudonym verbirgt. Das kann nur der Magister der Philosophie und freischaffende Schriftsteller Sören Aabye Kierkegaard sein! Erstens hat er schon mehrere Schriften mit einem Pseudonym versehen wie z.B. seinen Bestseller „Entweder-Oder“, den ein „Victor Eremita“ verfasst haben soll; oder „Furcht und Zittern“ von „Johannes de Silentio“ oder „Die Wiederholung“ von einem gewissen Contantin Constantius“. Zweitens zeichnet sich die Neuerscheinung durch den für ihn charakteristischen Stil aus, eine Mischung aus psychologischem Scharfsinn und theologischer Leidenschaft.

Doch warum bei dem „Begriff Angst“ die Verkleidung ausgerechnet als Nachtwächter? Nun, in diesem Werk will Kierkegaard seinen Landsleuten die Nacht erhellen, sprich: die dunkle Seite ihres Wesens. Als Grundzug des Menschen findet er einen in der Philosophie völlig neuen Grundbegriff: die Angst. Er möchte sie allerdings sofort von der Furcht unterscheiden, die einen Gegenstand hat, während Angst gegenstandslos ist. Dabei wäre es ein Missverständnis, wenn man sie nur als negativ beschreiben würde. Sie bietet dem Menschen unendlich viele Möglichkeiten, unter denen er wählen kann (und muss). Ja, Angst ist geradezu die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit – damit aber auch von potentieller Sünde. Kierkegaard zieht als Beispiel die biblische Urgeschichte heran und findet: Schon bei Adam und Eva ist die Angst die Voraussetzung des Sündenfalls. Beide geraten in einen „Schwindel der Freiheit“ über der Frage, ob sie vom Baum der Erkenntnis essen sollen oder nicht. Dieser Schwindel ist nichts anderes als die Erbsünde, jenes uralte Problem der christlichen Theologie, mit dem sich schon Kirchenvater Augustinus herumschlug. Kierkegaard hebt die Diskussion auf ein neues psychologisches Niveau. Die Erbsünde besteht für ihn darin, dass dank der menschlichen Fähigkeit zur Angst jeder einzelne, jede Generation in den „Schwindel der Freiheit“ gerät – und notwendigerweise schuldig werden muss.

Hinter Kierkegaards vertrackten Überlegungen steckt eine existentielle Erfahrung: Kurz zuvor hatte er sich, nach nur einem Jahr Verlobungszeit, von seiner Verlobten Regine Olsengetrennt. Der Schritt war für ihn selbst höchst schmerzlich und für die junge Frau – und mit ihr halb Kopenhagen – geradezu skandalös. Kierkegaard hatte eine vom Vater ererbte Schwermut, eine Lebensgrundangst, die er Regine nicht zumuten wollte. Er trennte sich endgültig und blieb bis zum Ende unverheiratet. Was immer er noch bei seinem Tod besaß, vermachte er testamentarisch seiner ewig geliebten Regine.

Er würde allerdings heftig protestieren, wenn man seine Angstanalyse lediglich als Sublimierung seiner unglücklichen Liebesgeschichte abtun würde. Deshalb hatte er ja auch zwischen sich und seine Leser das Pseudonym „Vigilius Haufniensis“ gestellt. Der gerade einmal 31jährige Philosoph und Theologe behauptet sogar selbstbewusst: Seine Lebensangst ist keineswegs ein privates, genetisches Problem, sondern geradezu ein Grundpfeiler der condition humaine. Die Angst steckt in jedem Menschen, und die Aufgabe besteht darin, sie zuzulassen und richtig mit ihr umzugehen. Zum Modellfall wird für ihn das Grimmsche Märchen von „Einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“: „Dies ist ein Abenteuer, das jeder Mensch zu bestehen hat: Dass er lerne sich zu ängsten, denn sonst geht er dadurch zugrunde, dass ihm nie angst war, oder dadurch, dass er in der Angst versinkt; wer hingegen gelernt hat, sich recht zu ängsten, der hat das Höchste gelernt“.

Die Schwermut macht Kierkegaard nicht nur unglücklich, sie treibt ihn auch zu rastloser schriftstellerischer Tätigkeit an. Wie es sich für einen Nachtwächter gehört, schreibt er vor allem in den Nächten, übrigens immer im Stehen (in jedem seiner Zimmer lässt er ein Schreibpult aufstellen). Sobald er einen Griffel in der Hand hat, kann er der Schwermut enteilen. Tagsüber entflieht er ihr, indem er über Kopenhagens Straßen und Märkte flaniert. Seinen Mitbürgern erscheint er wie der witzigste Mensch Kopenhagens. Seine Nichte Henriette Lund erinnert sich nach seinem Tod: „Die Straßen Kopenhagens waren für ihn ein Empfangszimmer im großen, wo er sich früh und spät umhertrieb und mit allen redete, mit denen er Lust hatte. Als er fort war, und ich nicht mehr der bekannten und lieben Gestalt begegnen sollte, kam es mir vor, als sei plötzlich die ganze Stadt leer und fremd geworden.“

Doch neben dem schwermütigen Philosophen und dem witzigen Flaneur gibt es noch einen dritten Kierkegaard: den religiösen Schriftsteller. Im Glauben findet Kierkegaard die Aufhebung seiner Widersprüche. In verblüffenden Analysen biblischer Texte interpretiert er das Wesen der Gnade und der göttlichen Vergebung. In seinen „erbaulichen Reden“ ist er alles andere als ein moralinsaurer Sonntagsprediger. Auf eine wohl bei keinem der großen Philosophen vergleichbare Weise durchdringen sich in seinen Reden Schwermut und Humor, Tiefsinn und Ironie. Der Spaßgesellschaft schreibt er ins Stammbuch: Wehe den Leichtfertigen, die nicht wahrhaben wollen, wie brüchig der Boden unter den Füßen des Menschen ist. Als Gegenmittel empfiehlt er: „Das Evangelium ist Trost für Schwermütige und Ernst für Leichtsinnige.“

Die Maskeraden des Nachtwächters von Kopenhagen erweisen sich als höchst erfolgreich. Als Kierkegaard 1855 stirbt, mit nicht einmal 43 Jahren, ist er eine lokale Berühmtheit, aber in seiner wahren Bedeutung noch lange nicht entdeckt. Seine Schriften werden immer dann wieder neu gelesen, wenn den Menschen angst und bange wird, weil sie vor einem Abgrund stehen und sich fassungslos fragen: Wie war das nur möglich? Als etwa nach dem 1. Weltkrieg der Schweizer Theologe Karl Barth fassungslos fragte, wie es möglich war, dass seine Berliner theologischen Lehrer dem deutsch-nationalen Geist verfallen konnten, der sich auf deutschen Koppelschlössern in der Parole verdichtete „Gott mit uns“, fand er Antwort in Kierkegaards Betonung vom „unendlich qualitativen Unterschied“ zwischen Gott und Mensch: „Gott ist im Himmel und du auf der Erde“.

Ähnlich erging es dem Theologen Rudolf Bultmann in Marburg, der nach dem 1. Weltkrieg zusammen mit dem Philosophen Martin Heidegger die Schriften von Kierkegaard las, um zu verstehen, wo der Mensch sich in seiner Existenz als Mensch zeigt: Es sind die Angst und die Sorge, die niemand so genau beschrieben hat wie Kierkegaard.

Wiederum waren es Sartre und Camus in Frankreich nach dem 2. Weltkrieg, die leidenschaftlich in den Existentialismus aufbrachen und dafür die Entschlossenheit bei Kierkegaard gelernt hatten. Auch Friedrich Dürrenmatt lernte das dramaturgische Denken bei Kierkegaard. Psychologen wie Carl R. Rogers beriefen sich auf Kierkegaard, wenn sie als Ziel ihrer Psychotherapie sehen, den Menschen zu helfen, ein Selbst zu werden.

An seinem 200. Geburtstag darf man bilanzieren: Unter den zwanzig, dreißig großen Philosophen ist Sören Kierkegaard derjenige mit der faszinierendsten, ungreifbarsten Persönlichkeit, dessen Werk noch lange nicht ausgeschöpft ist.

Christian Möller ist Professor für Praktische Theologie an der Universität Heidelberg. Von ihm und seinem Kollegen Privatdozent Dr. Michael Heymel ist gerade erschienen: „ Das Wagnis, ein Einzelner zu sein. Glaube und Denken bei Sören Kierkegaard“, TVZ Zürich/ EVA Leipzig 2013.

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