„Der Geist weht, wo er will“

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Michael Behnke
Oklahomastraße 12, 66482 Zweibrücken

Pastor Knöterich war frustriert. Der Gottesdienst war wie üblich eine Katastrophe. Knöterich ging missmutig die Treppe des Seniorenheims im evangelischen Diakonie-Zentrum hinunter. Warum wollte es ihm nie gelingen, seinen ökumenischen Gottesdienst, den er einmal im Monat mit den Bewohnern des Seniorenheims feierte, bis zum Ende zu halten? Es war immer das Gleiche! Zwar war die große Kapelle immer gut gefüllt und der Dienst begann auch ganz normal und einige sangen die alten Kirchenlieder mit. Doch spätestens gegen Ende der Predigt schliefen alle – wirklich alle! – Bewohner mit nach hinten oder nach vorne hängenden Köpfen. Die Schlafgeräusche gingen dabei vom leisen Blubbern der Frau Schneider bis zur Ohren betäubenden „Steinsäge“ des Herrn Franzl. Knöterich konnte seine Gemeinde selbst mit einem brüllenden „Amen“ nach der Predigt nicht mehr zum Leben erwecken. Es war sinnlos. Er musste aufhören und die Gemeinde jedes Mal ohne Vaterunser und Segen zurück lassen.

 

Letztens bemerkte Dr. Gräulich von der Geriatrischen süffisant, dass er die Zukunft von Knöterichs Predigten eher als Wundermittel im Schlaflabor des städtischen Klinikums sehe, denn als „Weckruf“ für die Gemeinde. Knöterich schäumte innerlich vor Wut und sein Gesicht lief tiefrot an, so dass die Augen hervorquollen. Doch seine Selbstbeherrschung hielt den inneren Ärger im Zaum, und er verließ nur schnaubend und grußlos den ihm im Grunde herzlich zugetanen Arzt.

„Ach, der Knöterich!“ sagte dieser nur leise und schmunzelte vielsagend in Richtung Oberschwester Rita, die jedoch nur genervt den Kopf schüttelte, denn ihr oblag es mal wieder, die schlafenden Christen aus ihren süßen Träumen zu wecken. Und die liebten das überhaupt nicht, denn sie meinten alle unisono, dass Knöterichs Kirchenschlaf tiefer und gesünder sei als der beste Nachtschlaf.

 

Auf dem Weg zu seinem Auto hatte der Herr aber Mitleid mit seinem betrübten Diener und sandte ihm den Heiligen Geist, der Knöterich flugs eine Eingebung schenkte. Schon beim Aufschließen des Wagens merkte Knöterich die Wirkung. Er erinnerte sich an sein letztes äußert interessantes Gespräch mit dem Seniorenkreis. Herr Kringler, 80, erzählte aus seiner Jugend und seiner Faszination für Rock’n Roll und Elvis Presley, den er selbst gesehen hatte, als dieser in Deutschland stationiert war. Frau Melcher, 78, erzählte begeistert von den Beatles und wie sie und ihre Freundinnen damals in Hamburg in Ohnmacht gefallen seien vor lauter Aufregung. Sie hatte alle Platten von ihnen, bewunderte aber auch andere Bands, zu deren Musik damals ausgelassen in „Musikschuppen“ getanzt wurde. Herr Lippert, 85, und Frau Friedel, 82, waren etwas traditioneller und berichteten mit einem Glanz in den Augen von den wundervollen deutschen Schlagern der 50er und 60er Jahre und den vielen Tanztees und Kerwetänzen, bei denen diese gespielt wurden.

 

Knöterich wurde auf einmal bewusst, dass selbst die betagten Bewohner des Altenheims schon Rock und Pop-Musik hörten und liebten. Wie wäre es, so dachte unser Held, wenn er anstatt normaler Kirchenlieder das nächste Mal Rock-, Pop- und Schlagermusik in den Gottesdienst einbaute? Man muss das ja nicht immer machen. Aber einen Versuch wäre das doch wert!?

 

Gleich zu Hause machte sich Knöterich frisch ans Werk. Dabei ließ er sich auch nicht von Hürden beirren. Der Organist, Herr Schnabbel, war entsetzt, als er von den Plänen hörte. „Awwer Herr Parre, des konn ich net spiele! Ich hunn aa gar kee Node dezu!“ Aber Knöterich ließ sich nicht beirren. Er rief sofort Oberschwester Rita an, die ihn prompt unterstützte, die aber – unter uns gesagt – jedes effektive Weckprogramm gut geheißen hätte, das versprach, ihr die Arbeit nach dem Gottesdienst zu erleichtern. Sie sagte ihm, dass in der Kapelle eine „leistungsstarke“ – so drückte sie sich aus – CD-Anlage stünde mit ausgezeichneten Lautsprechern. Die Bereitstellung und das Abspielen der CDs übernähme sie dazu gerne. Knöterich legte zufrieden den Hörer auf und spürte in sich nach langen Wüstenzeiten wieder einmal dieses titanische Gefühl, was immer über ihn kam, wenn er überzeugt war, dass Gottes Geist über ihn herab gekommen sei, um ihm den rechten Weg zu zeigen. Wie Recht er doch hatte!

 

Vier Wochen später lief unser Held leichtfüßig und gut gelaunt in die Kapelle des Seniorenheims, wo zuvor Oberschwester Rita schon kräftig die Werbetrommel gerührt hatte. Auf vielen bunten Plakaten konnte man lesen: „Wir laden herzlich ein zu unserem ökumenischen Gottesdienst mit Rock-, Pop- und Schlagermusik aus den 50ern und 60ern“.

 

Der Erfolg dieser Aktion war überwältigend! Die Kapelle war rappelvoll. Sogar zusätzliche Stühle mussten gestellt werden, damit alle einen Sitzplatz hatten. Auch lag über der Gemeinde eine freudige Unruhe, und es brummte wie in einem Bienenschwarm, so aufgeregt waren die Besucher. Um Ruhe herzustellen, bat Knöterich schließlich Organist Schnabbel, der, obwohl nicht gebraucht, dennoch gekommen war, zu Beginn etwas Meditatives zu Gehör zu bringen, was auch bald wirkte. Nach Knöterichs jovialer Begrüßung dröhnte dann sogleich als Eingangslied „Rock around the Clock“ von Bill Haley durch die Lautsprecher. Die Wirkung war überwältigend! Knöterich traute seinen Augen nicht, als die Hälfte der Besucher ihre Krücken und Rollator in die Gänge schmissen, johlend nach vorne schlurften und mit jugendlichem Hüftschwung anfingen Rock’n Roll zu tanzen. Herr Kringler versuchte sogar Frau Melcher in die Höhe zu hieven, was ihm aber nicht wirklich gelang und er sich ins Kreuz fassen musste. Doch warfen beide ihre Beine so gelenkig zum Rhythmus der Musik, dass man geneigt war, an ein Wunder zu glauben. Andere sangen lauthals mit, lachten und freuten sich wie kleine Kinder.

 

Es dauerte lange, bis der letzte wieder auf seinem Platz war, zu viele Erinnerungen mussten auf dem Rückweg zu den Sitzen ausgetauscht und Witze erzählt werden. Als endlich wieder etwas Ruhe eingekehrt war, ging es im alten Stil bis zum Predigtlied. Knöterich hatte dafür etwas Meditatives vorgesehen und aus den Boxen ertönte „Yesterday“ von den Beatles. Frau Melcher fing an zu weinen, so sehr war sie gerührt und sang schluchzend aber glücklich mit vielen anderen den Text mit, der auf dem Liedblatt stand.

 

Knöterich hatte sich für seine Predigt die Geschichte vom Fischfang aus Lk 5,1-11 herausgesucht. Er hatte sich intensiv vorbereitet und wollte seine Gemeinde in erbaulicher Weise ansprechen. Der Text sollte folgende frohe Botschaft vermitteln: So wie die mutlosen Fischer auf Rat von Jesus hin ein zweites Mal hinausfuhren und mit reichem Fang zurück kamen, so wollte er die Lebensleistung der Senioren in einen positiven Zusammenhang mit der sie immer begleitenden Güte Gottes in Verbindung bringen. Mit Gottes Hilfe und Beistand würde man in seinem Leben immer einen „guten Fang“ machen, wenn man sich durch Rückschläge nicht beirren ließe und immer mutig seinen Träumen treu bliebe. Das könnten die Senioren ja an ihrem eigenen Leben sehen.

 

Unser Prediger war so in Fahrt, dass er es zuerst gar nichts merkte. Aber spätestens nach zehn Minuten hörte er schon das erste leise Schlafgeräusch aus der linken Ecke, das bald gefolgt wurde von einem vielstimmigen kakophonisch-infernalischen Schnarchkonzert. Ja, wie konnte denn das sein? Wieso lagen alle Senioren schon wieder wie hingegossen auf ihren Stühlen mit nach hinten oder vorne oder seitlich über geneigten Köpfen, obwohl sie doch kurz vorher noch Rock’n Roll getanzt hatten? Knöterich war fassungslos und nahe am Weinen. Tapfer brachte er dennoch seine Predigt zu Ende und brüllte das Amen so laut ins Mikrophon, dass die Anlage laut pfeifend rückkoppelte. Jedoch ohne jeden sichtbaren Erfolg.

 

Oberschwester Rita allerdings wusste mit ihrem entschiedenen Einschreiten Abhilfe zu schaffen. Sie drehte die Lautstärke bis zum Anschlag und startete das nächste Lied, das Knöterich in Anspielung auf die Fischfanggeschichte ausgewählt hatte. Die Oberschwester drückte beherzt auf den Startknopf und sogleich dröhnte die Stimme von Rudi Schuricke aus den Boxen, der die Capri Fischer besang. Frau Friedel erwachte sofort und – noch etwas derangiert und gähnend – weckte sie ihren Sitznachbarn, Herrn Lippert. Flugs erhoben sie sich von den Plätzen und trippelten nach vorne in den Altarraum, wo sie sogleich zu tanzen begannen. Es waren aber auch andere Paare unterwegs und bald sah Knöterich, wie 15 Paare glücklich und kichernd im Altarraum schwoften. Schwester Rita musste den Schlager zudem ein zweites Mal abspielen, da viele Paare erst kurz vor Schluss des Liedes zum Tanzen gekommen waren. Danach ging es wieder mit viel Gelächter und Gekeife zurück in die Sitzreihen, wo alle glücklich und zufrieden Platz nahmen.

 

In den Fürbitten bat Knöterich um die baldige Rückkehr des Herrn Jesus, damit er unter den Menschen sein Reich errichte und es ein Ende habe mit Streit, Weinen, Krieg und Tod. Unser Prediger beschwor mit solcher Inbrunst und Wortgewalt die Rückkehr unseres Herrn, dass auf einmal eine ehrfurchtsvolle Stille eintrat. In diese intensive meditative Atmosphäre erklang nun das Schlusslied, das die Rückkehr des Herrn besingen sollte. Und es erklang der Schlager „Junge, komm bald wieder, bald wieder nach Haus!“ von Freddy Quinn. Bei den Seniorinnen blieb nun kein Auge mehr trocken, und indem sie schluchzend den Text mitsangen, dachte wohl eine jede wehmütig an einen „Jungen“, den sie vermisste oder auf den sie sehnlichst wartete. Aber auch mancher Senior fuhr mit seiner Hand über die nass gewordenen Augen, um seine Trauer zu verbergen.

 

Nach dem Segen stand Knöterich nun endlich zum ersten Mal an der Tür, um jeden einzelnen herzlich zu verabschieden. Er schaute in durchweg glückliche Gesichter, und viele dankten ihm voll Überschwang für diesen außergewöhnlichen Gottesdienst. Und Knöterich selbst? Er strahlte übers ganze Gesicht und war der Glücklichste von allen!

 

Drei Tage später traf sich Knöterich wieder mit seiner Seniorenrunde in der Kapelle. Es war diesmal eine muntere Runde, erzählten doch alle vom letzten Ereignis. Als Knöterich beiläufig fragte, ob man eine solche Veranstaltung nicht öfters machen sollte, kehrte auf einmal eine große betretende Stille ein. Nach einigem Herumdrucksen öffnete Frau Friedel schließlich ihren Mund und verlegen meinte sie: „Ach, wisse se Herr Parre, des war jo ganz schee, awwer efters? Nee, des wolle mer net! Des iss zu anschtrengend! Bis heit bin isch noch mied! Mer sinn immer froh, wenn se kumme, weil ihr Goddesdienscht is immer de bescht. Mir liewe ihre Predichte, denn do debei hammer de beschte Schlof fer de ganz Monat. Un denne Schlof brauche mer dringend!“

 

Knöterich saß plötzlich da, wie vom Schlag getroffen. Mit offenem Mund und hervorquellend entsetzten Augen starrte er Frau Friedel an, als sei sie der Leibhaftige. Er konnte es nicht glauben. Nach diesem Riesenerfolg nun dieses Fiasko! Diese Undankbarkeit und diese offenkundige Unverschämtheit waren einfach nicht mehr hinnehmbar! Da war doch schlussendlich mal wieder alles „für die Katz“ gewesen! Grummelnd Flüche unterdrückend suchte er seine sieben Sachen und verließ wütend, ohne Gruß und vor der Zeit diesen schlimmen Ort mit diesen hinterhältigen Leuten!

 

„Ach, der Knöterich!“ bemerkte Dr. Gräulich resignierend, nachdem man ihm diese Geschichte erzählt hatte. „Da hat sein Herr Lahme, Blinde und Taube geheilt und alle sahen darin ein Wunder. Doch wenn der Pastor Knöterich mit seiner Predigt alte Menschen zum Schlafen brachte, die er, der Arzt, schon seit Jahren erfolglos wegen ihrer Schlaflosigkeit behandelte, dann soll es eine Katastrophe gewesen sein?“ Für Dr. Gräulich war das nichts als eitles „Pfaffengejammer“, denn der Arzt war sich sicher: Knöterichs Predigten waren ein veritables Wunder- und Heilmittel, ja, ein Gottesgeschenk!

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