Artenschutz

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Michael Behnke

Oklahomastraße 12, 66482 Zweibrücken

Pastor Knöterich litt seit geraumer Zeit unter Angstzuständen und innerer Unruhe. Seit Jahren sieht er in der Kirche mächtige Kräfte wirken, die mit Nachdruck ein „Pfarramt auf Zeit“ fordern. Demnach sollte jeder Pfarrer nach einer bestimmten Anzahl von Jahren seine Gemeinde wechseln. Knöterich konnte es nicht fassen. Warum sollte man seine gedeihliche Zusammenarbeit mit der Gemeinde wegen diesem Unsinn zerstören? Wo sollte er denn hin? Warum sollte er wieder bei Null anfangen? Es war unerträglich! Hilflos und ohnmächtig sah er dem entgegen, was unheilvoll wie eine übermächtige Welle auf ihn zurollte und ihn zu zermalmen drohte.

Vor einiger Zeit rief er in einem Moment tiefster Verzweiflung seinen Bruder Winfried an, einen Biologen und engagierten Naturschützer, der seine ganze Freizeit damit verbrachte, bedrohte Vogelarten im Wattenmeer zu beobachten. Aus Erfahrung wusste Knöterich, dass er bei den seltenen Telefongesprächen erst einmal seinen zum Jammern neigenden Bruder zu Wort kommen lassen musste, bevor er seinen eigenen Kummer loswerden konnte. Also hörte er sich geduldig an, was sein Bruder über die Austernfischer, Regenpfeiffer und Säbelschnäbler zu berichten hatte. So betonte er immer wieder, wie empfindlich das ökologische Gleichgewicht des Wattenmeeres sei. Wenn durch den Eingriff des Menschen nur eine Vogelart verschwinden würde, genügte dies schon, die natürliche Balance der Natur vollkommen aus dem Gleichgewicht zu bringen und eine ökologische Katastrophe heraufzubeschwören zum Schaden von Natur und Mensch. Der Artenschutz müsse dringend verbessert und die Aufklärung in den Schulen und in der Öffentlichkeit intensiviert werden, denn nur so könne man die Menschen daran hindern, unkontrolliert in die sensible Natur einzugreifen und sie langfristig zu zerstören. „Ach, diese Menschen, warum müssen sie immer und überall ihre Finger in Dinge stecken, von denen sie nichts verstehen? Dabei wissen sie nicht, was sie tun!“ So jammerte Winfried aus Norddeich in Ostfriesland dem Bruder in der Pfalz ins Ohr.

Trotz aller Geduld wurde es unserem Knöterich etwas langweilig. Kurz bevor er einzuschlafen drohte, kam ihm jedoch blitzartig eine Erleuchtung, als er Winfried immer wieder vom natürlichen Gleichgewicht reden hörte. Sein Bruder hatte recht. Musste man die Menschen nicht vor übertriebenen Eingriffen warnen? Und was für die Natur richtig ist, betrifft es nicht auch das menschliche Miteinander in den Familien, Kommunen und Gemeinden? Können hier nicht auch unbedachte Eingriffe zu unvorhergesehenen Katastrophen führen?

Dieses Gespräch mit seinem Bruder brachte die Rettung. Knöterich fasste neuen Mut, und er hatte einen Plan. Wenn die Ergebnisse aus der Ökologie auch nur ansatzweise auf menschliche Gemeinschaften übertragbar waren, wovon er natürlich ausging, wollte er sich in der Pfarrerschaft und der Synode dafür stark machen, das Pfarrerdienstgesetz durch Teile des Artenschutzgesetzes zu erweitern. Sind nicht auch viele Pfarrkollegen und -kolleginnen „seltene Vögel“, „knoddernde Käuze“ oder „komische Heilige“, die in ihrem Biotop Gemeinde in besonderer Weise zu schützen sind? Warum sollten Rattenkängurus und Kaninchennasenbeutler, Steinkäuzchen und Rohrdommeln, das Sattelschwein und das westfälische Totlegerhuhn mehr Schutz genießen dürfen, als er, Pastor Knöterich, der ohne seinen Biotop Gemeinde nicht weiter zu leben geneigt war?

Knöterich setzte sich also hin und brachte seine Idee zu Papier. Seitdem verbreitet er seine Gedanken in Wort und Schrift, legte in Kirche und Gemeindehaus Unterschriftenlisten aus, die von den Gemeindegliedern und vielen Gästen auch fleißig unterschrieben wurden. Er gründete erfolgreich einen Verein „Artenschutz im Pfarrdienstgesetz e.V.“ und gewann täglich neue Mitstreiter und Sympathisanten. Selbst einen Internet-Zugang besorgte er sich kürzlich und widmete eine Homepage inklusive Forum und Gästebuch seinem Anliegen. Eine Radio- und eine Fernsehsendung beschäftigten sich damit und alle regionalen und viele überregionalen Tages- und Wochenzeitungen haben schon Interviews mit ihm veröffentlicht. Selbst die „Grünen“ zeigten reges Interesse und sogar der Landrat besuchte seit einiger Zeit demonstrativ seinen Gottesdienst. Pastor Knöterich wurde dadurch ein bekannter Mann, und er war sehr zuversichtlich, dass die von ihm initiierte Gesetzesvorlage in der kommenden Synode mit Erfolg angenommen werden würde.

Infolge des starken Medieninteresses an der ungewöhnlichen Kampagne des Pastors, stieg der Bekanntheitsgrad des ganzen Dorfes weit über die Region und die Pfalz hinaus. Über alle Konfessions- und Parteigrenzen hinweg waren die Einwohner stolz auf „ihren“ Pfarrer, der der Kommune soviel positive Popularität beschert hat.

Darüber hinaus wuchs er in den Augen vieler Mitglieder der Kirche zu einem moralischen Vorbild heran. Steht er nicht mit seinem Anliegen für die enge Verbindung von Glauben und Natur? Streitet er nicht für die Autonomie der Einzelgemeinde und des Pfarramtes und gegen einen wachsenden Zentralismus der Kirchenbehörde, die mehr an Funktionalität, Effizienz, Optimierung und Qualitätssicherung interessiert ist, als an gelebtem Glauben? Verkörpert er nicht den Vorrang des Gewissens, das sich allein gebunden weiß an sein Vertrauen zu Gott? Und steht er damit nicht gegen ein kirchliches Organisationsverständnis, das die PfarrerInnen nur noch als professionelle Funktionsträger versteht, die wie auswechselbare „Filialleiter“ zu behandeln sind? Ja, stemmte er sich nicht letztendlich gegen eine Umkehrung der reformatorischen Idee, wonach die kirchliche Institution der Gemeinschaft der Glaubenden zu dienen habe? Sehen sich Kirchenleitungen heute hingegen nicht eher als oberste Managementebene, die mithilfe betriebswirtschaftlicher Steuerungsmodelle „ihre“ Kirchen von oben her zu stromlinienförmigen „Dienstleistungsunternehmungen“ umformen möchten und damit die Einzelgemeinde ihrer eigenen Identität berauben?

Auf diese Weise wurde Knöterich zu einem kirchenpolitischen Hoffnungsträger. Einmal machte man ihm aus Kreisen der Politik „durch die Blume“ ein viel versprechendes Angebot. Das lehnte der streitbare Pastor jedoch kategorisch ab. Fühlte er sich hierbei doch wie bei der letzten Versuchung Christi, als sollte er für die wage Option schierer Macht seinem Projekt, seiner geliebten Pfarre und damit seinem Glauben abschwören. Ja, wollte man ihm tatsächlich seine Seele abkaufen? Knöterich konnte es nicht fassen. Er blieb standhaft, und das machte ihn nur noch beliebter.

Sollten wir unserem Pastor nicht auch Glück wünschen? Wäre es nicht eine wunderbare Idee, das immer ohnmächtiger werdende und an Schwindsucht leidende Christentum in unseren Breiten unter Artenschutz zu stellen, bevor die lärmend machtvolle und erdenschwere Dampfwalze des modernen und gottfernen Zeitgeistes, die Säure des fundamentalistischen Säkularismus und der dumpfe grassierende religiöse Analphabetismus es vollends plattmachen wird? Ja, wäre die Idee vom Artenschutz nicht ein wunderbares Motto, unter das wir, die Evangelischen, die Festlichkeiten zum 500. Jubiläum der Reformation im kommenden Jahr stellen könnten?

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