Die Israeltheologie des Paulus

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Helmut Aßmann

Herzogstraße 74, 67435 Neustadt-Gimmeldingen

Die eschatologische Dialektik des Paulus in der Beurteilung des ungläubigen Israels als Gottes Feinden und Gottes Geliebten

„Nach dem Evangeliums sind sie zwar Feinde um euretwillen, aber nach der gnädigen Wahl Gottes sind sie Geliebte um der Väter willen; denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen“ (Röm 11,28).

Paulus wendet sich hier an die Heidenchristen in Rom. Denn er fährt ja fort: „Gleicherweise wie ihr zuvor nicht an Gott geglaubt habt, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt durch ihren Unglauben, so haben auch jene jetzt nicht glauben wollen an die Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie Barmherzigkeit erlangen. Denn Gott hat alle beschlossen unter den Unglauben, auf dass er sich aller erbarme“ (Röm 11,30-32).

Sein Blick fällt dabei auch auf die nicht christusgläubigen Juden in Rom. Er sagt, sie hätten Barmherzigkeit erlangen können, wenn sie nur an die Barmherzigkeit geglaubt hätten, die den Heidenchristen zuteil geworden ist. Er sagt auch, dass erst ihr Unglaube die Barmherzigkeit für die Heidenchristen ermöglicht hat. Wären sie gläubig geworden, hätte das Evangelium nicht den Heiden verkündigt werden müssen. Da sie aber im Unglauben verharrten, ist die Barmherzigkeit Gottes den Heiden verkündigt und zuteil geworden.

 

Paulus macht deutlich, dass seine Enttäuschung über die nicht christusgläubigen Juden den Weg für die Heidenmission geöffnet hat und dass durch ihren Unglauben die Heiden Barmherzigkeit erlangt haben.

 

Die Verse Röm 11,30-32 enthalten die grundlegende Einstellung des Paulus zu Israel. Alle sind unter dem Unglauben beschlossen, auf dass er sich ihrer aller erbarme, aber nicht alle haben die Barmherzigkeit erlangt, die nur durch den Glauben erlangt werden kann.

 

Betrachten wir aber das Spannungsfeld zwischen Feinden und Geliebten Gottes, den Paulus in Röm 11,28 verwendet. Das Volk Israel führt, seit es den Glauben an Christus abgelehnt hat, eine dialektische Existenz. Sie sind Geliebte und Feinde zugleich. Fragen wir zunächst: Wessen Feinde?, so heißt die Antwort: Feinde Gottes. Denkbar wäre es aber auch: Eure Feinde!, nämlich die der Heidenchristen, die sie nicht anerkennen, weil sie nicht nach jüdischem Gesetz leben. Sie halten den Sabbat nicht und lassen sich nicht beschneiden. Eine andere Möglichkeit wäre: Feinde Gottes. Diese Möglichkeit entspräche dann dem Gegenteil: Geliebte Gottes, da sie ja um der gnädigen Wahl Gottes seine Geliebten sind, was Paulus dadurch unterstreicht, dass er in Röm 11,29 sagt, dass Gottes Gaben und Berufung ihn nicht gereuen können. Sie sind aber gleichwohl die Feinde oder besser Gegner des Paulus und der Heidenchristen. Können wir nun die erste Hälfte des Satzes auf das Objekt Paulus und die Heidenchristen beziehen, das Objekt der zweiten Satzhälfte aber auf Gott, so wären die Israeliten zwar Feinde des Paulus und der Heidenchristen um des Evangeliums willen, aber gleichzeitig Geliebte Gottes um der Väter willen.

 

So gibt es keinen Gegensatz von Feindschaft und Liebe in Gott. Gott wäre somit in sich selbst nicht gespalten, sondern eins mit sich selbst. So ist der Leitbegriff, unter dem das Volk Israel steht: sie sind Geliebte Gottes, der nachgeordnete Begriff, der deshalb auch in dem untergeordneten Nebensatz steht: Sie sind Feinde des Paulus und der heidenchristlichen Gemeinde und das heißt Feinde des Glaubens, warum sie auch der Barmherzigkeit, die aus Glauben kommt, nicht teilhaftig werden. Da aber die Barmherzigkeit von Gott kommt, nicht von Paulus, kann hier nur gemeint sein: Sie sind Feinde Gottes. Nun kann man freilich ergänzend hinzufügen, dass sie auch die Geliebten des Paulus sind, eben weil sie die Väter haben, auf die Paulus sich auch berufen kann, und weil sie berufen sind, eine Berufung, die auch Paulus für sich in Anspruch nimmt. Es ist also möglich, die erst Satzhälfte auf das Objekt Paulus zu beziehen. Es ist aber ebenso möglich, das Objekt des Nebensatzes auf Paulus und die Heidenchristen, das Objekt des Hauptsatzes aber auf Gott zu beziehen. Warum Paulus das nicht dadurch deutlich macht, indem er das Objekt Gott ausdrücklich hinzufügt, ist aus seiner Scheu zu erklären, den Namen Gottes zu verwenden. So bleibt die Formulierung schillernd, ob es sich bei Israel um die Geliebten Gottes oder doch um die des Paulus handelt oder um beides. Das heißt, das es sich trotz des Unglaubens Israels, trotz der Feindschaft um des Evangeliums willen, dennoch um die Geliebten nicht nur Gottes, sondern auch des Paulus handelt, sodass Paulus auch hätte schreiben können: Sie sind meine Geliebten! Dass er das nicht gesagt hat, lässt dem Gedanken Raum, dass er sagen wollte: Sie sind Geliebte Gottes!

 

Nun steht diese Aussage jedoch in einem krassen Gegensatz zu dem, was Paulus in Röm 9,22 in der Bildhälfte des Gleichnisses vom Töpfer sagt, dass es Gott freisteht, Gefäße der Ehre und Gefäße der Unehre zu schaffen, und in der Sachhälfte, dass er die Gefäße des Zorns mit großer Geduld getragen hat, obwohl sie zur Verdammnis zugerichtet sind, damit er den Reichtum seiner Herrlichkeit an den Gefäßen der Barmherzigkeit kundtäte, die er zuvor bereitet hat zur Barmherzigkeit. Diese Übertragung des Gleichnisses von den zwei Gefäßen auf die Juden und Heidenchristen, die ersteren als die Gefäße des Zorns, die zur Verdammnis bestimmt sind, die letzteren als die Gefäße der Barmherzigkeit, die zur Barmherzigkeit vorherbestimmt sind, bringt unsere Exegese von Röm 11,28 in große Schwierigkeiten. Besteht doch eine Spannung zwischen beiden Aussagen, zumal zwischen der über die Juden als den Gefäßen des Zorns, die zur Verdammnis bestimmt sind nach Röm 9,22 und denselben als den Feinden Gottes nach Röm 11,28 einerseits und den Juden als den Geliebten Gottes andererseits. Dieser offenkundige Widerspruch lässt sich nur dadurch erklären, dass Paulus die Verse Röm 11,26-31 im Futurum formuliert hat und dass er eingangs in Röm 11, 25 die hierin ausgesprochenen Erkenntnisse als ein „Mysterium“ bezeichnet hat, „auf dass ihr euch nicht auf eure Klugheit verlasst“. Damit will Paulus verhindern, dass sich die Gemeinde der Heidenchristen auf eine gnostische Position gegenüber dem realen Israel zurückzieht. Vielmehr bezeichnet er seine Auffassung über das zukünftige Geschick Israels als eine mystische Schau, in der Gott ihm persönliche Einblicke in die Zukunft gewährt hat. Israel soll gerettet werden, wenn die Fülle der Heiden eingegangen ist. Hier erschließt sich der Sinn des Prädikats Geliebte Gottes als eines eschatologischen, futurischen Begriffs, als eine Verheißung, die ihre Erfüllung in einem zukünftigen Handeln Gottes erst noch finden muss.

Anmerkung

Alle biblischen Texte wurden zitiert nach der revidierten Lutherübersetzung der Württembergischen Bibelanstalt von 1966.

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