Die Gesetzeskritik des Paulus

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Helmut Aßmann

Herzogstraße 74, 67435 Neustadt-Gimmeldingen

Die Position des Paulus, den Heiden die Beschneidung, den Sabbat und das Gesetz zu erlassen, hat als Rechtfertigung aus Glauben das Wesen des Christentums bestimmt. Aber diese Freiheit vom jüdischen Gesetz hat für Paulus auch etwas mit der Freiheit von der Sünde zu tun, die von Adam auf alle Menschen überkommen ist und die die Ursache für die Macht des Todes ist. Paulus sagt in Rm 7: „Ich lebte einst ohne das Gesetz.“ Wenn Paulus nach seiner eigenen Aussage in Phil 3 aber nie ohne das Gesetz gelebt hat, sondern als Kind beschnitten worden ist und somit von Anfang an unter das Gesetz getan war, ist diese Aussage dann eine Aussage über die adamitische Menschheit oder eine Biographie Adams? Vertauscht Paulus hier sein Ich mit dem Ich Adams?

 

Aus einer Schrift der ebionitischen Gemeinde, den Anabathmoi tou Jakobou, geht hervor, dass die Äußerung des Paulus in Rm 7 von dem Verfasser dieser Schrift als Selbstaussage des Paulus gelesen wurde, d.h. der Satz: „Ich lebte einst ohne das Gesetz“, wurde so verstanden, dass Paulus nicht von Anfang an Jude war, sondern erst in Jerusalem beschnitten wurde, um das Studium der Torah ergreifen zu können. Eine ähnliche Äußerung muss Paulus bereits vor der Niederschrift des Rm gemacht haben; denn sonst hätte er sich nicht im Philipperbrief, einem Brief, der ja älter ist als der Römerbrief, mit diesem Missverständnis auseinandergesetzt. Dass er aber auf dieses Missverständnis reagiert hat, zeigt, dass er von einigen seiner Zeitgenossen in diesem Sinne missverstanden worden ist und sich ihnen gegenüber verteidigen musste.

 

Wie konnte aber diese ebionitische Schrift sagen, dass Paulus Grieche war und erst in Jerusalem beschnitten wurde? Richtig ist dagegen, dass Paulus in Jerusalem zum Pharisäer geworden ist. Die ebionitische Schrift glaubt aber auch den Grund für den Schritt des Paulus zur Beschneidung, der in Wirklichkeit der Schritt vom Judentum zum Pharisäer war und dem später der Schritt vom Pharisäer zum Eiferer folgte, zu kennen. Es wird nämlich behauptet, dass Paulus eine Ehe mit der Tochter eines Priesters eingehen wollte, und deshalb habe er sich beschneiden lassen, sprich: deshalb ist er Pharisäer und in einem zweiten Schritt Eiferer (Zelot) geworden. Es gelang ihm aber nicht, dieses Mädchen zu heiraten, schreibt der Verfasser der Anabathmoi, und damit habe er angefangen, sich vom Gesetz, dem Sabbat und der Beschneidung abzuwenden und dagegen zu predigen. Er habe ein anderes Verständnis des Judentums gewonnen, das frei vom Gesetz, dem Sabbat und der Beschneidung war und dieses auch verkündigt.

 

Diese Kehrtwendung im Leben des Paulus ist eine Tatsache und mit diesem Verständnis hat er dann ja auch bei den meist heidenchristlichen Gemeindegliedern von Antiochia ein offenes Ohr gefunden. War er zuvor vom Synhedrium als Abgesandter nach Damaskus geschickt worden, um dort die Wortführer der Gemeinde zu verhaften, und ist er entgegen diesem, seinem Auftrag Christ und dann nach einem dreizehnjährigen Aufenthalt in Arabien Missionar der antiochenischen Gemeinde geworden, so war nun die Freiheit vom Gesetz durch den Glauben an Christus zu seinem Evangelium geworden. Da ihm der Konflikt mit der strikten Observanz des Gesetzes bereits in Jerusalem während seines Thorahstudiums und vielleicht auch während seines vergeblichen Werbens um die Tochter aus der Familie eines jüdischen Priesters zu einem existenziellen Problem geworden war und er nach einer Lösung dieses Problems gesucht hatte, die er dann in der heidenchristlichen Verkündigung fand, vollzog er eine Wendung um 180 Grad von seinem vorher eingenommenen rigorosen Gesetzesverständnis zu einer liberalen Auffassung des Judentums und des Gesetzes, die sich allmählich in eine strenge Abkehr vom Gesetz verkehrte, sodass sein Verständnis der Rechtfertigung aus Glauben und nicht aus Werken des Gesetzes, die er jetzt vertrat, in etwa der Umkehrung seines bisherigen Verständnisses entsprach und die radikale Wende bei seinen judenchristlichen Glaubensgenossen in Antiochia und Jerusalem, die weiterhin am Gesetz festhielten, auf wenig Verständnis stieß, sodass sie ihn im Apostelkonzil in Jeruslaem mit der heidenchristlichen Missionstätigkeit beauftragten, Petrus dagegen mit der judenchristlichen Mission, die beide dann auch wahrnahmen.

 

So wurde bei Paulus aus der Umkehrung eines jüdisch-antichristlichen Rigorismus ein christlich-antijüdischer Rigorismus, der sich aber erfolgreich in der Heidenmission bewährte und der durch die ebionitische, später marginalisierte Gemeinde in Jerusalem als eine Reaktion auf ein ihm widerfahrenes persönliches Misserfolgserlebnis, nämlich die erfolglose Werbung um eine Frau erklärt wurde und mit der Annahme, dass er nicht von Geburt an Jude war, weil man sich einen solchen radikalen Gesinnungswechsel bei einem Juden nicht vorstellen konnte. Da Jakobus der Leiter der Jerusalemer Urgemeinde war, erscheint diese Deutung des Paulus auch unter dem Pseudonym des Jakobus, was freilich nicht auf dessen Autorschaft hinweisen muss, da ja auch Schriften des Neuen Testamentes häufig unter dem Namen von apostolischen Autoritäten herausgegeben wurden, um ihnen Ansehen zu verleihen. Da die Anabathmoi des Jakobus nach Aussage von Bischof Epiphanios von Salamis/Zypern um 400 n. Chr., der sie in seinem Buch adversus haereses überliefert hat, bei den Ebioniten überliefert worden sind, die die Nachkommen der Jerusalemer Urgemeinde waren, ist es nicht verwunderlich, dass die Lebensbeschreibung des Paulus unter dem Pseudonym des Jakobus erscheint, der möglicherweise als sein Gegenspieler in Jerusalem galt und der vielleicht sogar die antipaulinische Mission in den Gemeinden des Paulus in Galatien, Philippi, Thessalonich, Korinth und den Widerstand gegen ihn in Rom und Jerusalem organisiert hat, um ihm und seiner in seinen Augen häretischen Verkündigung den Boden zu entziehen.

 

Gert Theißen zeigt in seinem Vortrag: „Vom Fundamentalismus zum Universalismus“ Phasen im Leben des Paulus auf. So sei er in Jerusalem zunächst Pharisäer geworden, dann Eiferer für das Gesetz, dann in Antiochia Christ und als Christ Eiferer gegen das Gesetz. Vergleicht man diese vier an Hand der Schriften des Paulus nachweisbaren Entwicklungsschritte im Leben des Paulus mit der antipaulinischen und judenchristlichen Polemik in den Anabathmoides Jakobus, die da sind: Beschneidung in Jerusalem, Heiratswunsch ebenda, Scheitern der Heiratspläne und Predigt gegen Gesetz, Sabbat und Beschneidung, so kann man von den oben von Theißen gemachten Aussagen über das Leben des Paulus an den Anabathmoi folgende Kritik üben, aber auch Übereinstimmungen finden:

 

  1. Paulus ist in Jerusalem zum Pharisäer geworden, ist aber nicht erst in Jerusalem beschnitten worden. Hier irren dieAnabathmoides Jakobus.

 

  1. Paulus ist vom Pharisäer zum Eiferer für das Gesetz geworden, eine Wandlung, die durch seinen Kontakt mit priesterlichen Kreisen und eventuell verbunden mit dem Versuch, in diese einzuheiraten, motiviert gewesen sein kann. Hier stimmen beide im Ergebnis, nicht aber in der Motivation miteinander überein.

 

  1. Das Scheitern des Paulus am Gesetz erfolgte parallel zum mutmaßlichen Scheitern seines Versuchs, in die Hierarchie einzuheiraten. Hier ergänzen soziologische und psychologische Gründe die Gründe, die Paulus in seinen Briefen für seine Theologie des Gesetzes anführt.Beide Darstellungen stimmen aber grundsätzlich im Ergebnis überein, dass Paulus seine Position als Eiferer für das Gesetz aufgegeben hat.

 

  1. Die Bekehrung des Paulus zum Christentum geht zurück auf den Kontakt zur heidenchristlichen Gemeinde in Antiochia, die den Konflikt mit dem Gesetz durch den Glauben an Jesus Christus gelöst hatte.In seiner Taufe schloss sich Paulus dem Glauben der antiochenischen Gemeinde an und übernahm ihre Überlieferung. Hierüber enthalten dieAnabathmoi tou Jakobou keine Aussagen. Seine Tätigkeit als Missionar wird anscheinend als bekannt vorausgesetzt.

 

Der antiochenische Zwischenfall war der Versuch einer Jerusalemer Delegation, das Ergebnis des Jerusalemer Apostelkonzils, das dem Paulus die Heidenmission übertragen hatte und ihm nur die Verpflichtung zur Erhebung einer Kollekte in den von ihm gegründeten Gemeinden, den Verzicht auf das Essen von Opferfleisch und die jüdischen Ehegesetze auferlegt hatte, darin wieder rückgängig zu machen, dass Heidenchristen wieder dazu verpflichtet werden sollten, jüdisch zu leben. Damit wäre aber Christus nach der Auffassung des Paulus umsonst gestorben. Nach ihm ist Christus gestorben für die Freiheit vom Gesetz. (Gal 6,2) Diese Radikalisierung des christlichen Bekenntnisses ist in den Anabathmoi als eine Predigt gegen Gesetz, Sabbat und Beschneidung wiedergegeben. Sie vertritt damit die allseits bekannte judenchristliche Polemik gegen Paulus.

 

Abschließend kann man sagen, dass die Anabathmoi des Jakobus eine interessante Variante zu den Selbstaussagen des Paulus darstellen. Natürlich konnte er sich gegenüber seinen Gemeinden in seinen Briefen nicht öffentlich zu dem Scheitern seiner Heiratsabsichten in Jerusalem und der im Zusammenhang damit erlittenen Blamage bekennen, die wahrscheinlich ohnedies allen bekannt war. Vielmehr zog es ihn dazu, den durch die erlittene persönliche Demütigung gemachten Gewinn an theologischer Erkenntnis in den Gemeinden durch die Verkündigung seines Evangeliums fruchtbar werden zu lassen, wovon die Gründung seiner zahlreichen Gemeinden Zeugnis ablegt. Diesen Gewinn an theologischer Erkenntnis zu heben, ist Aufgabe der Neutestamentlichen Wissenschaft. Er besteht in der Erkenntnis, dass Christus durch seinen Tod am Kreuz den Sieg über die kosmische Macht des Gesetzes errungen hat, und da diese die Mächte der Sünde und des Todes nach sich zieht, auch den Sieg über die Sünde und den Tod. Mythologisch ausgedrückt heißt das: Adam hat den Tod in die Welt gebracht, Christus als der andere Adam hat den Sieg über den Tod gebracht. Da der Tod der Sünde Sold ist, das Gesetz aber der Stachel der Sünde und des Todes, kann Paulus sagen, Gesetz, Sünde und Tod sind durch Christus besiegt. Der adamitische Mensch scheitert an der Macht der Sünde und des Gesetzes und ist deshalb in der Schuld des Todes. Er, Adam, lebt ohne das Gesetz. Der Jude Paulus, der immer mit und unter dem Gesetz lebte, verfehlte das Gesetz wegen des in ihm wohnenden Gesetzes der Sünde, aufgrund dessen er tat, was er nicht tun wollte, und nicht tat, was er tun sollte. Darum dankt er Gott, dass er uns den Sieg geschenkt hat durch Christus, seinen Sohn. Der Sprung, den Paulus vom Gesetz der Sünde zur Erlösung durch Christus tut, kann nur existenziell nachvollzogen werden, nicht stilistisch. Die Beschreibung der adamitischen Menschheit in Rm 7 leitet nicht organisch über zu dem Sieg Christi. Trotzdem greift Paulus in Rm 8,1 auf ihn zurück, indem er neu einsetzt mit dem Satz: „So ist also keine Verdammnis für die in Christus Jesus sind, unserm Herrn“. Er setzt damit voraus, dass der Sieg Christi über die Mächte des Gesetzes, der Sünde und des Todes bereits vollzogen ist und beschreibt nun nur noch die Früchte dieses Sieges für den Einzelnen und die Gemeinde.

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