Diakonie und Staat – wechselseitige Wünsche und Forderungen

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Einige thesenhafte Überlegungen aus Anlass eines Gesprächsabends der EvangelischenAkademikerschaft Pfalz am 5. November 2012 in Ludwigshafen

Dr. Werner Schwartz
Hilgardstraße 9, 67346 Speyer

Diakonie und Staat haben wechselseitige Erwartungen, Wünsche und Forderungen. Der Staat aufseinen unterschiedlichen Ebenen: von der Kommune bis zu Europa, erwartet etwas von der Diakonie,in unserem Land zumindest. Und die Diakonie erwartet etwas vom Staat. Reizvoll wäre es, dasThemenfeld um die Kirche zu erweitern, also zu fragen, wie die Diakonie in ihren eigenen Erwartungenund denen, die an sie gerichtet sind, zwischen Staat und Kirche steht. Aber dies ist nicht Gegenstanddieser Überlegungen. In ihnen geht es um die Wünsche und Forderungen, die Staat und Diakonieaneinander richten.

Ich wähle den langen Anlaufweg zu diesem Thema, den über die Geschichte, weil auf diesemHintergrund deutlich werden kann, wie sich die spezifischen Erwartungen in Mitteleuropa und – genauer – in Deutschland aufgebaut haben.

1. Die Anfänge der Diakonie – 1. bis 16. Jahrhundert

Diakonie begann in der frühen christlichen Gemeinde als Hilfe für bedürftige Gemeindeglieder. DieSorge für Witwen und Waisen und die Armen der Gemeinde war Christenaufgabe. Die Gemeindesetzte darin die jüdische Barmherzigkeitskultur fort. Die rasante Ausbreitung des christlichen Glaubensin den ersten drei Jahrhunderten hängt wohl mit der Attraktivität dieser gelebten Nächstenliebezusammen.

Als im 4. Jahrhundert das Christentum zur Staatsreligion wurde, übertrug der byzantinische StaatAufgaben der Sozialfürsorge auf die Kirchen und die Bischöfe. Sie hatten etwa Notvorräte fürHungerszeiten und eine Versorgung der Kranken zu gewährleisten. Im Zug der Ausbildung desMönchswesens übernahmen zunehmend Klöster diese Aufgaben, später trat auch der Adel teilweise indiese Verpflichtung ein.

Mit der Entstehung des Bürgertums im ausgehenden Mittelalter und der Entwicklung einesentsprechenden Selbstbewusstseins sahen die Magistrate der Städte die Armen- und Krankenfürsorgeals ihre Verpflichtung, die sie zumindest für die ortsansässige Bevölkerung regelten. Die Reformationunterstützte diese Rollenverteilung; Sozialfürsorge blieb staatliche Aufgabe, eine kirchliche Diakonieentstand allenfalls rudimentär in der reformierten Tradition, vornehmlich in den Niederlanden.

2. Der neue Aufbruch der Diakonie – 17. bis 19. Jahrhundert

Im Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts und verstärkt in den Erweckungsbewegungen des 19.Jahrhunderts wurde die inzwischen weithin erfolgte Reduktion kirchlicher Tätigkeit auf die kulturelleSeite des Glaubens zunehmend in Frage gestellt. Die Kraft des Glaubens zur Tat wurde neu entdeckt.Erste Liebeswerke entstanden, etwa in Halle die Franckeschen Stiftungen seit 1695. Über einJahrhundert später führten die Wirren der napoleonischen Kriege und die tiefgreifenden Umwälzungender industriellen Revolution mit einer sozialen Verelendung breiter Bevölkerungskreise verstärkt zueiner Neubesinnung auf die Notwendigkeit tätiger Nächstenliebe. Einzelne Christen schlossen sichzusammen, auf der Basis bürgerschaftlichen Vereinswesen entstanden die konfessionellenSozialeinrichtungen.

Das Rettungshaus von Christian Heinrich Zeller in Beuggen, der Lutherhof von Johannes Falk inWeimar, der Weibliche Verein für Armen- und Krankenpflege von Amalie Sieveking in Hamburg, dasRauhe Haus von Johann Hinrich Wichern dort, das Diakonissenmutterhaus von Theodor Fliedner inKaiserswerth gehören zu den ersten Einrichtungen. Die Stegreifrede Wicherns beim WittenbergerKirchentag („Die Liebe gehört mir wie der Glaube“) war ein landesweites Fanal, sie führte zur Gründungdes Central-Ausschusses für Innere Mission und zu einer großen Zahl weiterer Gründungen vonKrankenhäusern, Kinder-, Jugend- und Behinderteneinrichtungen, Herbergen für Nichtsesshafte usw.Neben diesen diakonischen Initiativen entstanden freilich bald auch rein humanitär motivierteEinrichtungen und solche aus der Arbeiterbewegung.

3. Konsolidierung und Infragestellung der Diakonie – 1. Hälfte 20. Jahrhundert

Im Kaiserreich entwickelte sich bereits in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts der SozialstaatBismarckscher Prägung, wesentlich veranlasst durch die Angst vor der Bedrohung durch denSozialismus. In den Krisenzeiten im Ersten Weltkrieg wurden die in den Jahrzehnten zuvorentstandenen Einrichtungen in freier Trägerschaft in das Konzept der staatlichen Daseinsfürsorgeeinbezogen und mit erheblichen Mitteln bezuschusst. Anders als beim Reich war bei den freien Trägernwie allenfalls noch bei den Kommunen eine Infrastruktur vorhanden, die eine effiziente Sozialarbeitmöglich machte. Die Diakonie ordnete sich in das System ein und spielte dort ihre Rolle, Leistungender Sozialfürsorge anzubieten.[1]

Dieser Prozess setzte sich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg fort. Der Staat übernahm inkrisenhaften Zeiten zunehmend die Rolle der Daseinssicherung mithilfe des inzwischen aufgebautenRenten- und Krankenversicherungssystems und zusätzlich eingesetzter Steuermittel. Er bediente sichdabei neben den kommunalen Institutionen der etablierten Sozialverbände der Freien Wohlfahrtspflege,die er durch Mittelzuweisung in die Lage versetzte, ihre Aufgabe zu erfüllen. Es etablierte sich einSystem von Hilfe durch Diakonie, Caritas, Arbeiterwohlfahrt, Paritätischen Wohlfahrtsverband undRotes Kreuz neben einigen kleineren Anbietern. Auf der Basis voneinander partiell unterschiedenerweltanschaulicher und religiöser Motivationen und Zielvorstellungen sorgten diese Einrichtungenzusammen mit den Kommunen für eine flächendeckende Organisation staatlicher Hilfeleistungen. DerWohlfahrtsstaat deutscher Prägung mit dem Zusammenspiel staatlicher und freigemeinnützigerEinrichtungen entstand.

Im nationalsozialistischen Staat allerdings übernahm zunehmend der Staat die Steuerung desSozialwesens durch die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt, andere traditionelle Anbieter wurdengleichgeschaltet oder suchten sich in einer Nische zu behaupten.

4. Erneute Einbindung der Diakonie – 2. Hälfte 20. Jahrhundert

Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus mit dem Zweiten Weltkrieg griff dieBundesrepublik auf die bewährte Struktur der Weimarer Zeit zurück und formulierte auf demHintergrund des Denkens der katholischen Soziallehre den Grundsatz der Subsidiarität, der besagt: Wofreie gesellschaftliche Träger sich der Erbringung sozialer Dienstleistungen und der Lösung sozialerProbleme widmen, hält sich der Staat zurück und fördert die Arbeit der freien Träger. So kommt es zueinem Nebeneinander und Miteinander staatlicher und freier Wohlfahrtspflege, das denjenigen, dieHilfe in Anspruch nehmen, eine große Wahlfreiheit einräumt, und denjenigen, die Hilfeleistungenerbringen, eine hohe Finanzierungssicherheit gibt. Das Subsidiaritätsprinzip hat maßgeblich zurAusgestaltung des Sozialstaats beigetragen, den wir in den letzten Jahrzehnten wahrnehmen.[2]

In den Wohlfahrtsverbänden sind rund 1,2 Millionen Menschen hauptamtlich und weitere wenigstens2,5 Millionen Menschen ehrenamtlich tätig. Sie haben sich zu Einrichtungen entwickelt, die zum einenden Sozialstaat repräsentieren, indem sie nahezu völlig refinanzierte Leistungen erbringen, zumanderen als Anwälte sozialer Gerechtigkeit gegenüber den Behörden im Blick auf neue und unerledigtesoziale Problemlagen auftreten und zum dritten nur ausnahmsweise noch mit eigenen Initiativen zuneuen sozialen Fragestellungen aktiv werden. Prominentestes Beispiel dafür ist die Entwicklung derHospize.[3]

5. Neuorientierung der Diakonie – 21. Jahrhundert

Zum Ende des letzten Jahrhunderts zeigten sich jedoch Grenzen der Finanzierbarkeit des bisherigenSystems. In der Folge überlässt der Staat die Leistungserbringung zunehmend neben den FreienWohlfahrtsverbänden auch privatwirtschaftlichen Anbietern und zieht sich auf eineGewährleistungsverantwortung zurück. Die Reform der Sozialgesetzgebung in den 1990er Jahren hatdafür die Voraussetzungen geschaffen. Wettbewerb entsteht zwischen den Anbietern auf einem Markt,der allerdings infolge der fortbestehenden staatlichen Reglementierung etwa in der Vereinbarung vonPflegesätzen allenfalls als ein Quasi-Markt gesehen werden kann.[4]

Damit verändert sich die Rolle der Freien Wohlfahrtsverbände. Es wird für sie zunehmend schwierig,gegenüber den Sozialbehörden, die durch Vorschriften und Regelungen den Spielraum zurAusgestaltung der Arbeit einengen, Einfluss auf die Definition von sozialen Bedarfslagen zu nehmenoder anwaltschaftlich für Benachteiligte einzutreten. Freigemeinnützig tätige Einrichtungen müssen sichimmer mehr als erfolgreiche Wettbewerber in der Erbringung sozialer Dienstleistungen bewähren.[5]

6. Vom schleichenden Ende der Subsidiarität

In der jüngeren Geschichte zeigen sich immer wieder, im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, imNationalsozialismus, in der DDR und in den marktwirtschaftlich geprägten Veränderungen derGegenwart, Tendenzen, die Eigenständigkeit der Arbeit der Diakonie und der übrigenWohlfahrtverbände, die sich 1924 zur Liga der Freien Wohlfahrtsverbände zusammengeschlossenhaben, zu beschneiden. Subsidiarität ist immer nur phasenweise und in unterschiedlicher Intensität dieLeitvorstellung für das Zusammenspiel staatlicher und freigemeinnützig organisierter sozialer Fürsorge.Das duale Prinzip steht immer auch zur Disposition.

Dies zeigt sich in der Gegenwart insbesondere zwischen Kommunen, die immer schon als Trägersozialer Einrichtungen aufgetreten sind, seit dem Mittelalter zumindest, und freigemeinnützigenTrägern. Die Frage wird gestellt, wer Kindergärten betreibt oder Beratungsstellen. Kommunen könnensich durchaus vorstellen, dies selbst zu betreiben, wenn sie schon, weil eine Pflichtaufgabe derKommune ggf. von freien Trägern übernommen würde, gefragt sind, den Löwenanteil der Kostenbeizusteuern.

Nicht so sehr drängen sich Kommunen danach, Einrichtungen für Menschen mit Assistenzbedarf zubetreiben. Dies war immer schon die Domäne der konfessionellen Träger oder in den letztenJahrzehnten der Lebenshilfe als ursprünglich einmal einer Selbsthilfeeinrichtung betroffener Eltern. Undzunehmend weniger stark ausgeprägt ist die Bereitschaft, Altenheime oder Krankenhäuser zubetreiben, da dies als ein zu schwieriges Feld für die Betätigung von Kommunen gilt, insbesonderedeshalb, weil politische Einflussnahmen in Unternehmen, die sich am Markt bewähren müssen, derenEffizienz nicht notwendig stärken.

7. Was erwartet der Staat von der Diakonie? – Der Bund

Auf diesem Hintergrund sollen die wechselseitigen Erwartungen von Staat und Diakonie nun bedachtwerden. Ich vermute, die Erwartungen des Staates sind auf unterschiedlichen Ebenen nicht diegleichen.

Welche Erwartungen der Bund an die Diakonie hat, kann ich nur mutmaßen. Die Diakonie – wie dieCaritas und die übrigen Wohlfahrtsverbände – sollen in ihren konkreten lokalen Einrichtungen dazubeitragen, das soziale Gefüge stabil zu halten. Sie sollen Kinder und Jugendliche, kranke, alte undbehinderte Menschen angemessen und kostengünstig versorgen, sie sollen soziale Härtefälleabfedern, Lösungen anbieten für Menschen in sozialen Konfliktlagen und sie begleiten. Dazu ist mangern bereit, auch Geld zur Verfügung zu stellen, freilich nicht in unbegrenztem Maß. Aber man vertrautdarauf, dass die Diakonie mit den anderen Wohlfahrtsverbänden dazu beiträgt, das soziale Klima imLand da, wo es in Schieflagen gerät, zu stabilisieren, und deshalb unterstützt man die Diakonie.

Von Diakonie und Caritas und anderen Verbänden wie der Arbeiterwohlfahrt und dem Roten Kreuzerwartet der Bund vermutlich auch, dass sie auf der Ebene der Wertevergewisserung tätig sind. DieDiakonie und die hinter ihr vermutete Kirche (und ähnlich Caritas, Rotes Kreuz und Arbeiterwohlfahrt)werden in ihrer für das Wertesystem unserer Gesellschaft prägenden und stabilisierenden Funktiongesehen.

Man erwartet einen Beitrag auf der Ebene, die Ernst-Wolfgang Böckenförde einst (1964) angesprochenhat: Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantierenkann. Wir sind derzeit auf der Suche nach dem Ethos, nach den kulturellen Grundlagen, die unserGemeinwesen tragen, und wir vermuten sie in Christentum (und bald werden wir sagen: in anderenReligionen, die hier Heimat finden), in Aufklärung und Humanismus. Auch dafür, dass unser Land dieseGrundlagen entdeckt oder wiederentdeckt, steht gelegentlich die Diakonie. Jedenfalls scheint mir diesdie Erwartung an uns zu sein.

Wie wir sie einlösen können, ist eine andere Frage. Wir scheinen in der Kirche derzeit keine ganzstarken Karten zu haben. Die Bevölkerung erwartet von den Kirchen offenbar weniger als der Staat undseine die Zukunft unserer Gesellschaft reflektierenden Funktionsträger. Die öffentliche Resonanz aufKirche, ausgenommen in Seelsorge und Kasualien (die allerdings in Zukunftsszenarien derkirchenleitenden Organe und Portfolioanalysen der Synoden eine spürbar positive Bewertungverdienen), ist selbst unter Kirchenmitgliedern ausweislich der letztenKirchenmitgliedschaftsbefragungen deutlich weniger stark ausgeprägt als die Zustimmung zur Diakonieund ihrer Tätigkeit. Mit hohem Abstand rangieren Diakonie und Caritas vor anderen Arbeitsfeldern derkirchlichen Arbeit. Menschen erwarten derzeit wohl mehr von konkreter Hilfe als von der Vermittlungvon Werten.

8. Was erwartet der Staat von der Diakonie? – Das Land

Ich mutmaße weiter: Was erwartet das Land von der Diakonie? Auch da vermute ich, ähnlich zu denErwartungen der Bundespolitik: gute diakonische Arbeit in den Feldern, in denen wir tätig sind, alsBeitrag zur Daseinsvorsorge für die Menschen, die hier leben, insbesondere für die Menschen inKrisenlagen Die Landespolitik rechnet darin wohl auch mit einem Beitrag zur Sicherung des sozialenKlimas, der Unterstützung beim Ausbau sozialer Sicherungssysteme, der Übernahme vonVerantwortung im Umbau unserer Gesellschaft, den Anforderungen heutiger politischer Vorgabenentsprechend.

Ich will dies an zwei, drei Beispielen verdeutlichen: Das Land erwartet von uns, dass wir den Wegmitgehen und unterstützen, die Kinderbetreuung im Land zu befördern, die Voraussetzungen mit zuschaffen, dass – der derzeitigen gesellschaftlichen Meinung folgend – die Kleinkinderbetreuungausgebaut und qualifiziert wird, so dass Eltern uneingeschränkt dem Arbeitsmarkt zur Verfügungstehen können. Erwartet wird, dass wir als Kirche und Diakonie in unseren Anstrengungen nichtnachlassen und unseren wenn auch bescheidenen Teil zur Gewährleistung von Kindergartenplätzenbeitragen.

Zweites Beispiel: Das Land erwartet von uns, dass wir zur Umsetzung der UN-Konvention über dieRechte von Menschen mit Behinderungen in den Einrichtungen, die wir seit Jahrzehnten betreiben,rasche Entwicklungen in Richtung Inklusion vollziehen, auch wenn die finanziellen Erfordernisse allesandere als geklärt sind. Die heimähnlichen Einrichtungen sollen aufgelöst und – wie Jahrzehnte zuvorin der Jugendhilfe – durch deutlich kleinere Einheiten, von überschaubaren Wohngruppen von achtPersonen bis zum Einzelwohnen mit ambulanter Betreuung, ersetzt werden. Wir haben uns längst aufProzesse einer wirksamen Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschafteingelassen, wissen aber, dass dies ohne erhebliche Mehrkosten im Vergleich zur traditionellenstationären Unterbringung und Begleitung in größeren Einrichtungen nicht zu realisieren ist. Das hehrepolitische und humanitäre Ziel, das wir teilen und im Interesse der von uns betreuten Menschen auchumsetzen und weiter ausbauen möchten, steht wieder einmal (wie in Zeiten der Heimkinder in den1950er und 60er Jahren) im Widerstreit mit den ökonomischen Möglichkeiten.

Drittes Beispiel: Das Land erwartet von uns eine gute Beteiligung an der Versorgung kranker Menschenim Krankenhaus, wie wir das seit über hundert Jahren in unseren Häusern geleistet haben. Wir sinddankbar, dass das Gesundheitsministerium in unserem Bundesland uns bisher sehr nachhaltig darinunterstützt hat, unsere Arbeit effektiv tun zu können, und sehr bemüht ist, die Trägervielfalt in unseremLand zu erhalten. Wir erleben aber auch, dass diese engagierte Bemühung alleine für die kleinerenKrankenhäuser, die es in der Diakonie auch gibt, eine nachhaltige Bestandssicherung auf einem sehrumkämpften Markt noch nicht gewährleistet. Freilich müssen wir uns zugleich fragen, ob wir in denzurückliegenden Jahren die Möglichkeiten der Kooperation und des Zusammenschlusses ergriffenhaben, die hilfreich und notwendig wären, um die kleine Zahl diakonischer Krankenhäuser im Landzukunftssicher zu machen.

9. Was erwartet der Staat von der Diakonie? – Die Kommune

Wir sollten Gesprächspartner einbeziehen aus den Bereichen, über die wir sprechen, um authentischeBeiträge zu hören. Ich kann wieder nur mutmaßen. Was erwarten die kommunalen Gemeinden von unsin der Diakonie? Hilfe vor Ort, natürlich auch den Einsatz eigener Mittel, die Beteiligung an den Lasten,die zum Aufbau und zur Pflege der sozialen Einrichtungen einer Gesellschaft nötig sind.

Von der steuerfinanzierten Kirche und ihrer Diakonie erwartet die politische Gemeinde vermutlich miteinigem Recht, dass sie nicht nur für die kulturelle Arbeit, für Verkündigung und Bildung Geldaufwendet, sondern einen gewissen Betrag auch für die Diakonie, insbesondere die armutsorientierteDiakonie zur Verfügung stellt. Vielleicht müssen wir wirklich in den nächsten Monaten und Jahren nocheinmal sehen, wie eine weit in die Fläche greifende Kindergartenarbeit in Balance zu bringen ist miteiner zumindest ökumenisch mit der Caritas, vielleicht auch mit anderen freigemeinnützigen Trägernabgestimmten Arbeit in Sozial-, Schuldner-, Schwangerschaftskonflikt- und Suchtberatung.

Von uns in der unternehmerischen Diakonie, die null Euro Kirchensteuermittel erhält, erwartet dieKommune hervorragende, möglichst über das Niveau anderer Anbieter hinausgehende Angebote imBereich Krankenhaus, Kinder- und Jugendhilfe, Behindertenarbeit, Altenhilfe, Hospiz. Zu Recht. Wirsollen nicht teurer sein als andere, aber besser. Wir werden uns weiter anstrengen müssen, diesenErwartungen gerecht zu werden. Wir sind nicht billig, aber wir sollen und wollen gut sein. Das erfordertweiterhin große Anstrengungen, die wir mit allen unseren Mitarbeitenden erfüllen wollen.

10. Was erwartet die Diakonie vom Staat?

Ich könnte von Europa sprechen und den Erwartungen an die europäische Rechtsentwicklung. Es istalles andere als ausgemacht, dass das deutsche Wohlfahrtssystem wie auch das deutscheGemeinnützigkeitsrecht auf Dauer dem Druck zur noch stärkeren Öffnung für den Wettbewerbwiderstehen wird. Die deutsche Politik hat in den vergangenen Jahrzehnten unser überkommenesSystem nach Kräften verteidigt. Sie hat einschneidendere Veränderungen als die, die bisher erfolgtsind, mit gutem Erfolg abgewehrt. Aber das ist ein eigenes Thema.

Im folgenden höre ich auf zu differenzieren zwischen Bund und Land und Kommune. Am Ende ist es jaauch egal, wer zahlt.

Was wir erwarten? Auskömmliche Finanzierungsbedingungen, die es uns ermöglichen, uns in derVergütung unserer Mitarbeitenden halbwegs an den Standards zu orientieren, die etwa der öffentlicheDienst bietet, damit wir uns nicht allzu sehr entfernen von den Arbeitsbedingungen, wie sie sonst inkirchlichen und staatlichen Einrichtungen üblich sind. Auch wenn wir wahrnehmen, dass im sozialenSektor Gewerkschaften mit privaten Anbietern längst Tarifabschlüsse tätigen, die deutlich unter denVergütungen liegen, die bei uns gelten. Wir können zwar in der Diakonie nicht eins zu eins dieStandards des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) abbilden. Die öffentlichen Arbeitgeber,für die dieser Tarif gebildet ist, sind nicht insolvenzfähig. Wir sind es. Bund, Länder, Kommunen könnenSteuern erhöhen oder sich verschulden, so dass nachfolgende Generationen die Lasten zu tragenhaben. Wir gehen in die Insolvenz, wenn unser Eigenkapital aufgebraucht ist und wir überschuldet sindoder wenn unsere Liquidität nicht mehr gewährleistet ist. Wir brauchen dennoch auskömmlicheRefinanzierungen unserer Leistungen. Und möchten weiterhin gute Vergütungen zahlen. Wir habenkeine Steuermittel, auch keine Kirchensteuermittel, die wir einsetzen können.

Dies betrifft den Bereich der Krankenhäuser wie insbesondere den Bereich der Altenpflege undJugendhilfe und die Sozialstationen. Die Behindertenhilfe war, übers Ganze gerechnet, in derVergangenheit halbwegs auskömmlich finanziert; sie wird es nicht mehr sein, wenn wir dieAnforderungen der Dezentralisierung umsetzen sollen.

Nur zur Illustration: In der Altenhilfe und der Behindertenhilfe konnten wir in denVergütungsverhandlungen für dieses Jahr eine pauschale Erhöhung von 2,65% im Vergleich zumVorjahr erhalten. Die Vergütungen sind um 2,9% gestiegen, für die in den letzten Jahren eingestelltenMitarbeitenden um 6,15%, die Sachkostensteigerung bleibt nicht unter 3%. Dabei war dies noch eingutes Jahr; in den vergangen Jahren war die Differenz zwischen der Einnahmenverbesserung und denKosten gelegentlich deutlich größer.

Oder im Krankenhausbereich: Der Basisfallwert in Rheinland-Pfalz ist um 1,46% gestiegen; abzüglichdes früher separat finanzierten Sonderprogramms Pflege, das jetzt in den Fallwert einkalkuliert ist, sindes 0,54%. Vor wenigen Monaten konnte eine zusätzliche Tarifrate vereinbart werden von 0,51%, machtinsgesamt 1,05% Einnahmensteigerung für dieses Jahr, bei deutlich über 3% Kostensteigerung. Auf dieDauer ist diese Diskrepanz durch Rationalisierung nicht auszugleichen. Je nach Arbeitsbereich sind 60bis 80 Prozent der Kosten Personalkosten. Der gestiegene Druck auf das Personal ist in den letztenJahren spürbar geworden. Mitarbeitende etwa in der Altenpflege möchten wieder einmal mitausreichend Personal die Pflege so machen können, wie sie es von sich erwarten, statt vorrangig derDokumentationsverpflichtung nachzukommen. Und Mitarbeitende in den Krankenhäusern erfahren esals problematisch, die Praxisgebühr zu streichen statt die Krankenhausfinanzierung zu verbessern.

11. Die Diakonie vor der Notwendigkeit der Rationalisierung

Klar, wir werden den Prozess der Rationalisierung vorantreiben müssen. Daran wird kein Wegvorbeiführen. Wir werden kooperieren und uns zusammenschließen müssen, wenn wir auf Dauerunsere Präsenz als diakonische Häuser erhalten wollen. Dies gilt insbesondere für die kleinerenEinrichtungen der Diakonie, denen es in den vergangenen Jahrzehnten noch nicht gelungen ist, ihreProzesse ausreichend zu optimieren und eine für die Zukunftssicherung erforderlicheKapitalausstattung zu erarbeiten. Gerade im Blick auf den kontinuierlich erforderlichenInvestitionsbedarf und eine effektive und kostenbewusste Unternehmenssteuerung im Bereich derKrankenhäuser, Altenheime und Sozialstationen scheinen mir Zusammenschlüsse im Blick auf kleinereund finanzschwächere Träger erforderlich.

Wenn wir eine Optimierung an dieser Stelle versäumen, sind wir am Ende selbst schuld daran, wenneinzelne unserer Häuser als diakonische Häuser verlorengehen. Das ist unsere Hausaufgabe, sounvollkommen wir sie auch erfüllt haben und derzeit weiter erfüllen. Die Entscheidungsträger inunseren Gremien, auch die ehrenamtlichen, sind gefordert, einen nüchternen Blick in die Zukunft zu tunund mit ihren Einrichtungen einen Weg zu gehen, den sie langfristig verantworten können. Anüberkommenen Traditionen und kleinteiligen Strukturen festzuhalten ist an dieser Stelle möglicherweiseeher nostalgischen Überlegungen oder der Eitelkeit von Funktionsträgern geschuldet. Wir werdenunseren Teil der Arbeit schon tun müssen, um gute Voraussetzungen für die Fortführung unsererdiakonischen Arbeit zu sichern.

Aber wir erwarten auch, dass uns die Politik, der Staat weiter darin unterstützt, unsere Arbeit gut zutun. Der Staat soll sich darauf verlassen können, dass wir wirtschaftlich agieren, dass wir unsereLeistungen zugunsten hilfsbedürftiger Menschen mit einem Aufwand erbringen, den wir ökonomischoptimiert haben. Aber wir erwarten umgekehrt, dass wir auskömmliche Finanzierungsbedingungenhaben, dass wir nicht gezwungen werden, Mitarbeitende zu Löhnen zu beschäftigen, die sie außerhalbdessen stellen, was in unserer Gesellschaft für anspruchsvolle Tätigkeit üblich ist. Wenn wirServicegesellschaften gegründet haben, in denen wir die Bereiche von Küche, Reinigung,Patiententransport, Schreibdienst abbilden, dann hat dies damit zu tun, dass wir unsere Arbeit unterden gegebenen Finanzierungsbedingungen einer Quasi-Marktwirtschaft im Sozialwesen organisieren.Andere betreiben an dieser Stelle komplettes Outsourcing. Wir versuchen die dort Beschäftigten in derDienstgemeinschaft zu halten, auch wenn wir Spartentarife anwenden, weil die kirchlichen Tarife in denentsprechenden Lohngruppen die Refinanzierung nicht abbilden.

Dennoch: Wir wollen weiterhin Menschen, die bei uns mitarbeiten, angemessen vergüten. Wir wollenihnen Arbeitsbedingungen anbieten, in denen sie gut arbeiten können, auch wenn wir wissen, dassmanche Geruhsamkeit vergangener Zeiten – falls es sie je gegeben hat – vorüber ist. Ein reinerPreiskampf allein mit Anbietern, die möglicherweise nur Selbstausbeutung betreiben, kann keineverlässliche Basis für eine gute und dauerhafte Arbeit sein. An dieser Stelle erwarten wir die Solidaritätder Politik, auf allen Ebenen.

Wir erwarten, das will ich noch anfügen, ein Klima, in dem die Arbeit im sozialen Bereich ihreAnerkennung findet und die Wertschätzung erfährt, die sie verdient. Bei aller berechtigten Kritik anMissständen, die in einzelnen Bereichen etwa der Pflege gelegentlich zu Tage treten, kann und darf esnicht sein, dass ein ganzer Berufszweig in öffentlichen Darstellungen immer wieder diffamiert undkriminalisiert wird. Pflegekräfte leisten eine engagierte und anstrengende Arbeit. Wenn ihre Arbeitschlechtgeredet wird und im übrigen nicht an der Einkommensentwicklung anderer Bereiche etwa desproduzierenden Gewerbes teilhat, muss sich niemand wundern, wenn dieser Berufszweig anAttraktivität verliert, Arbeitskräfte abwandern in andere Berufe oder in Tätigkeitsbereiche, die nichtmehr unmittelbar mit pflegebedürftigen Menschen zu tun haben, und junge Menschen kein Interessemehr haben, Berufe in diesem Feld zu ergreifen. Wie wir in den nächsten Jahren und Jahrzehnten densteigenden Bedarf an Pflegekräften decken sollen, weiß unter diesen Umständen niemand. EinPflegenotstand ist durchaus in Sicht.

12. Diakonische Arbeit als gelebter Glaube

Dennoch: Wir sind als Diakonie, als diakonische Unternehmen weiterhin bereit, uns zu engagieren.Unsere Mitarbeitenden verstehen in der weit überwiegenden Mehrheit ihre berufliche Tätigkeit alsgelebte Nächstenliebe, aus der Überzeugung heraus, dass unser Glaube sich zuvörderst in unseremTun zeigt. Wir wollen den Glauben nicht kulturelles Erlebnis allein sein lassen, sondern ihn als aktiveTat spürbar werden lassen. Um es präziser und umfassender zu sagen: Wir wollen Diakonie leben, ausganz unterschiedlichen Motivationen, nicht als traditionell fromme Christen allein, sondern alsMenschen, denen die Motivation christlichen Glaubens etwas bedeutet, abseits von manchen Formenkirchlicher Normalfrömmigkeit. Wir wollen Diakonie leben und damit auch dem Auftrag gerecht werden,den Gott, den Jesus Christus uns stellt: für Menschen da zu sein, Menschen zu helfen, ihr Leben indieser Welt, gerade in Krisenzeiten, zu bestehen und darin an Gottes Reich mitzuarbeiten.

Wir werden dazu die Herausforderungen annehmen, die unsere Zeit und Arbeit uns stellt. Als der Teilder Kirche, der auch weiterhin vorhat, in den Bereichen des Sozial- und GesundheitswesensNächstenliebe zu leben, unter den Bedingungen des Marktes, auf dem wir agieren. Wir möchten darinin aller Begrenztheit und Brüchigkeit etwas von gelebtem Glauben spürbar werden lassen und damitunseren Teil beitragen zu der Wahrnehmung einer diakonisch tätigen Kirche.

Wir möchten darin auch wahrgenommen werden als eigenständige Form von Kirche, die immerhin füreinen großen Teil des öffentlichen Renommees der Kirche steht, und wir wünschen uns dazu einefreundliche, partnerschaftliche und neugierige Begleitung seitens der verfassten Kirche mit ihren eherstaatlicher Organisation nachempfundenen presbyterial-synodalen und konsistorialen Strukturen. Wirunternehmen in der Fortsetzung der Impulse aus dem 19. Jahrhundert mit einer vereinsmäßigenOrganisation diakonischer Liebestätigkeit abseits der staatsanalog organisierten Kirchlichkeit heutesoziale Arbeit auf Feldern, die in unserer Gesellschaft freigemeinnütziger Tätigkeit offen stehen. Wirarbeiten allerdings als diakonische Unternehmen unter den Bedingungen des sozialen Marktes, wie siesich in unserem Land entwickelt haben. Unsere christliche Motivation muss in marktadaptierten FormenGestalt gewinnen.

Wir sind im Rahmen unserer Möglichkeiten gern bereit, uns auch über das bisherige Maß hinaus innicht vollständig refinanzierte Bereiche diakonischer Arbeit einbeziehen zu lassen, künftig etwa auch inder Übernahme von Beratungsstellen, die die landeskirchliche Diakonie ggf. aus eigener Kraft nichtmehr gewährleisten kann. Auch darin würden wir uns gern als Teil und Partner der verfassten Kircheverstehen. Und eben, soweit wir es vermögen, zeigen, dass christlicher Glaube gelebter Glaube ist,gelebte Liebe, die Menschen im 21. Jahrhundert zu überzeugen und ihnen zu helfen vermag.

[1] Uwe Becker (Hg.), Perspektiven der Diakonie im gesellschaftlichen Wandel. Eine Expertise im Auftrag der DiakonischenKonferenz des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche in Deutschland, Neukirchen 2011, 66f.

[2] Art. 20 Abs. 1 GG: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“

[3] Traugott Jänichen, Einleitung, in: Von der „Barmherzigkeit“ zum „Sozial-Markt“. Zur Ökonomisierung der sozialdiakonischenDienste, Jahrbuch Sozialer Protestantismus, Bd. 2, hg. Heinrich Bedford-Strohm u.a., Gütersloh 2008, 11-18, 12.

[4]  AaO., 13.

[5]  Ebd., vgl. Heike Baehrens, Gesellschaftliches und politisches Engagement der Kirchen im diakonischen Bereich und in derMigrationsarbeit. Vortrag Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, http://downloads-akademie-rs.de /interreligiöser-dialog/041129_baehrens_engagement.pdf.

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