„Das Wort, sie sollen lassen: liegen!“

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Dr. Paul Metzger
Weinstraße 35, 67278 Bockenheim

„Das Wort, sie sollen lassen: liegen!“

Anmerkungen zu den bösen Beobachtungen eines Wanderpredigers (Pfälzisches Pfarrerblatt 10/2012)

Der arme Wanderprediger, der seit einiger Zeit sein Wesen in pfälzischen Kirchen treibt, dabei grauenvolle Dinge in der Sakristei erlebt und Altarbibeln anfassen muss, die als Grabstätte für tote Fliegen und alte Liedblätter dienen, ist zu bedauern: Welch Bilder des Grauens muss er in seine Seele lassen und welch Frustrationen erdulden!

Abgesehen von dem durchaus vorhandenen Amüsement, das seine Beobachtungen auslösen, stellt sich allerdings zunächst die Frage, ob die Pfarrerinnen und Pfarrer unserer Kirche keine anderen, vielleicht sogar dringenderen Probleme haben als den Christbaumständer in der Sakristei. Der Wanderprediger wandert eben schon recht lange und ist dabei vielleicht vom konkreten Alltag der Kollegen einen weiten Weg weg gewandert.

Und was die Altarbibel betrifft, so wundern mich die Entdeckungen, die der Wanderprediger macht. Nachdem ich mittlerweile selbst in- und außerhalb der Pfalz viele Gottesdienste feiern durfte, muss ich sagen, dass ich seine Beobachtungen, was den Zustand der Altarbibel betrifft, nicht teilen kann. Ich habe immer schwere, tadellose, meistens schöne und ehrwürdige Altarbibeln vorgefunden. Allerdings hat er recht, wenn er beobachtet, dass diese kaum benutzt werden.

Ich würde sagen: genau deshalb sind sie noch schön und gut.

Was der Wanderprediger am Umgang mit der Altarbibel zu monieren hat, kann ich aus der Sicht der Reliquienverehrung verstehen, aber doch nicht aus evangelischer Sicht. Reliquien trägt man umher, damit sie ihre dinglich gedachte Wirkung ausstrahlen: Gucken und – wenn man darf – anfassen. Aber doch nicht die Altarbibel.

Die aufgeschlagene Altarbibel symbolisiert genau durch ihr Liegen auf dem Altar das, was sich der Wanderprediger wünscht. Sie zeigt an, dass der Gottesdienst auf dem Wort Gottes basiert. Sie ist deshalb aufgeschlagen, um zu zeigen, dass das Wort Gottes die Mitte des Gottesdienstes ist. Der Einwand greift also zu kurz, dass die Altarbibel „zum Gegenstand ohne Bezug reduziert“ wird, wenn sie in Ruhe gelassen wird.

Um ihre Bedeutung zu symbolisieren, muss sie weder hereingetragen, noch in die Höhe gehoben, noch geküsst werden. Und schon gar nicht ist es zwingend, dass die Schriftlesung aus der Altarbibel gelesen werden muss. Gerade wenn sie – wie der Wanderprediger bemerkt – „unsagbar schwer“ ist, sollte sie würdevoll auf ihrem Platz bleiben dürfen und nicht mit Gewalt gestemmt werden. Der Wanderprediger weiß zu Recht, dass jeder Gottesdienst auch eine Inszenierung ist. Doch gerade diese Inszenierung verliert sichtbar an Würde, wenn man sich mit dem Gewicht der – ob ihrer Größe zumeist auch noch unhandlichen – Altarbibel abmühen muss.

Die Schriftlesung – und jeder Bibeltext – wird jedenfalls weder besser noch verständlicher noch gehaltvoller, wenn sie aus der Altarbibel gelesen wird. Warum also so viel „Aufhebens“ um die Altarbibel? Welches magische Verständnis steckt hinter der Forderung, unbedingt aus der Altarbibel zu lesen? Ist sie denn mehr Gottes Wort als die eigene Bibel, in die man sich vielleicht „Leseanweisungen“ (Betonungszeichen o.ä.) hineinschreiben kann?

Die Vermutung liegt nahe, dass im Hintergrund der Forderung eine „Remythisierung“ der Bibel steht, wie sie bereits in der Wort-Gottes-Theologie des frühen 20. Jh. anzutreffen war. Wohlwollend interpretiert lesen sich die Beobachtungen des Wanderpredigers als Sorge um den Stellenwert der Bibel als Heiliger Schrift in Kirche und Gottesdienst. Zu Recht betont er: „Eine Schriftlesung geht einfach nicht ohne die Heilige Schrift.“ Aber dass nur die Altarbibel „Heilige Schrift“ sein kann und es die eigene Bibel nicht ist, so die Flucht des Gedankens, das ist auch ebenso „einfach“ falsch.

Vielleicht treibt den Wanderprediger die Sorge um, dass die Bibel im Gottesdienst wieder mehr als Wort Gottes in den Vordergrund gerückt, also hochgehoben, werden sollte. Doch um an Gedanken Karl Barths anzuknüpfen: Die Bibel wird nicht zum Wort Gottes, indem man sie als Buch hereintragen und hochhalten lässt, sondern indem man sie auslegt.[1] Da ist es völlig gleichgültig, aus welchem „Bibelbuch“ der Text verlesen wird. Erfolgt keine angemessene Aktualisierung des Textes und Zuspruch seiner Botschaft an den vorhandenen Hörer, bleibt der Text museal – ob er nun aus der Altarbibel oder von einem iPad angelesen wird.

Was ist nämlich die Bibel ohne diese Auslegung, ohne Predigt? „Die literarischen Denkmäler einer vorderasiatischen Stammesreligion des Altertums und die einer Kulturreligion der hellenistischen Epoche, das ist die Bibel.“[2]

Oder noch drastischer und allgemeiner: „Jede heilige Schrift ist nur ein Mausoleum, der Religion ein Denkmal, dass ein großer Geist da war, der nicht mehr da ist; denn wenn er noch lebte und wirkte, wie würde er einen so großen Wert auf den toten Buchstaben legen, der nur ein schwacher Abdruck von ihm sein kann?“[3]

Es kommt also – wie schon Paulus wusste (Röm 10,17) – auf die Predigt an, nicht auf die Altarbibel. Von daher lasse ich die Altarbibel – frei nach Martin Luther – in ihrer Würde in Ruhe:

„Das Wort, sie sollen lassen: liegen!“

[1] Karl Barth, Kirchliche Dogmatik I/2, Zürich 31945, 593

[2] Karl Barth, Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke, in: Anfänge der dialektischen Theologie, Teil I, hrsg. von J. Moltmann, TB 17/1, München 31974, 49-76, 55.

[3] Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), hrsg. von Rudolf Otto, Göttingen 61987, 121f.

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