Zeitfluß und Entscheidungszeit*

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Dr. Dirk Kutting

Hermann-Ehlers-Straße 10a, 55112 Mainz

Auf Kant geht bekanntlich das Wort zurück, daß eine Anschauung ohne Begriff blind und ein Begriff ohne Anschauung leer sei. Ich will dies Wort zum Anlaß nehmen, mich dem Thema »Zeit« auf zwei Wegen zu nähern.
Als erstes werde ich das Thema religiös-anschaulich behandeln, das heißt, ich werde in einer Meditation das Thema »Zeit« beschreiben und die biblische Zeitanschauung zu rate ziehen.
Als zweites werde ich das Thema philosophisch-begrifflich behandeln, das heißt, ich werde anhand verschiedener Zeitbegriffe versuchen, meine theologischen Schlüsse zu ziehen. Das ganze soll helfen, den Zeitgeist besser zu verstehen und mit unseren Schülern über das Phänomen »Zeit« nachzudenken.

Meine Zeit steht in deinen Händen!
(Psalm 31,16)

Zunächst möchte ich mit Ihnen überlegen, woher es kommt oder warum wir oft das Gefühl haben, uns rinnt die Zeit zwischen den Fingern hindurch. Dann möchte ich anhand einiger Worte aus der Bibel dem nachgehen, wie Gott unsere Zeit in seiner Hand hält.
Die Zeit zerrinnt. Sie ist wie ein Fluß, den man nicht zu fassen bekommt. Wir stehen da und haben den Eindruck, die Zeit fließt an uns vorbei. Aber schlimmer noch, nicht nur scheint der Fluß des Lebens manchmal an uns vorbeizufließen, auch wir selbst sind im Fluß, verändern uns, werden älter und werden irgendwann unwiederbringlich vom Fluß des Lebens hinabgezogen.
Die Zeit zerrinnt. Ich möchte ein kleines Experiment mit Ihnen machen, um zu schauen, wie seltsam gebrochen unser Verhältnis zur Zeit ist. Sofern sie eine Uhr an Ihrem Handgelenk tragen, halten Sie doch bitte mal mit der rechten Hand ihre Uhr zu. So!
Und nun überlegen Sie:
Hat meine Uhr eine Datumsanzeige?
Das ist einfach zu beantworten, denke ich, aber welche Farbe hat das Zifferblatt? Wissen Sie das?
Haben Sie Striche zur Einteilung der Stunden auf dem Zifferblatt oder Zahlen?
Und die Zahlen, sind sie römisch oder arabisch?
Sie werden merken, daß es gar nicht so leicht ist, die eigene Armbanduhr zu beschreiben, obwohl man oft am Tag darauf schaut.
Das kleine Experiment sagt uns sicher nicht nur etwas über die Zeit, sondern mehr noch über unsere Wahrnehmung. Wie schauen wir Dinge an? Manchmal wohl recht achtlos, und wie schauen wir Menschen an, manchmal sehen wir uns vielleicht gerade unsere Nächsten gar nicht mehr so genau an.
Aber möglicherweise gingen während des kleinen Experiments bei einigen von Ihnen die Gedanken auch in die Ferne und Sie erinnerten sich daran,
– wann Sie Ihre Uhr zum ersten Mal trugen,
– vielleicht hatten Sie sie einmal verloren, aber dann doch wiedergefunden,
– vielleicht freuen Sie sich auch einfach daran, daß sie schon lange gut und genau läuft,
– vielleicht verbinden Sie mit Ihrer Uhr aber auch einen Menschen, der Ihnen besonders wichtig ist, der sie Ihnen schenkte.
Wir merken: In der Erinnerung tritt die Vergangenheit in die Gegenwart. Wenn uns in der Erinnerung das Herz aufgeht, dann ist das immer ein Zeichen für Gottes Gegenwart in dieser Zeit. Wenn sich jedoch in der Erinnerung das Herz zusammenzieht, wenn man merkt, damals hatte ich mich nicht richtig verhalten, dann muß manchmal Gottes gnädige Hand die Vergangenheit bedecken. Aber auch dieses Zusammenziehen des Herzens weist auf Gottes Gegenwart hin.
Wir merken: Die Erinnerung ist ein Anker in der Vergangenheit.
Aber dennoch, die Zeit zerrinnt, die Uhr am Handgelenk macht uns unerbittlich darauf aufmerksam.
Was, so spät? Sagen wir, wenn wir noch etwas einkaufen wollen, aber das Geschäft gleich schließen will.
Aber manchmal tröpfelt sie auch nur langsam und mühsam:
Wie lange dauert das denn noch? Fragen wir, wenn wir im Sprechzimmer beim Arzt sitzen.
Die Zeit zerrinnt schnell, wenn wir schöne Dinge erleben, den Besuch, den Ausflug, die Reise, ein interessantes Buch, eine Tätigkeit die uns Spaß macht. Die Zeit läuft langsam, wenn es uns langweilt, wenn man abends überlegt, jetzt könnte ich doch eigentlich mal die Urlaubsbilder einkleben und es dann doch läßt, weil man keine Lust hat.
Aber die Uhr am Handgelenk macht uns noch auf etwas anderes aufmerksam:
Die Uhr symbolisiert die wahrscheinlich wichtigste Zeiterscheinung gerade unserer Zeit. Zeit wird gezählt. Immer genauer, denn Zeit ist Geld, heißt es.
Die Zeit wird gezählt und je mehr sie gezählt wird, desto mehr bekommen wir das Gefühl, die Uhr frißt unerbittlich unsere Zeit.
Die Uhr frißt die Zeit. Die Zeit zerrinnt.
Das empfinden auch Christinnen und Christen.
Jedoch: Gott schafft Anfang, Mitte und Ende der Zeit. Gott ist der Herr der Zeit. Wir leben in seiner Gegenwart. In der Zeit scheint die Gottesgegenwart auf.
»Am Anfang war das Wort« (Joh 1,1). »Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde« (1. Mose 1,1).
Gott macht den Anfang mit dem Himmel, mit Sonne, Mond und Sternen und in mitten mit unserer Erde, er machte den Anfang mit Pflanzen, Tier und Mensch, mit Orten in denen sie leben können.
Gott macht den Anfang. Egal welche naturwissenschaftliche Theorie auch erzählt werden mag. Wenn Gott mit dem Finger schnippst, sollte das nicht für einen Urknall reichen?
Gott machte einen Anfang. Er schafft eine gute Ordnung: Die bewahrt er.
Wenn wir Menschen diese Ordnung antasten und zerstören, dann machen wir etwas falsch.
Wenn wir unsere Umwelt verbrauchen und unsere Mitmenschen mißbrauchen, wenn wir Dinge und Tiere und Menschen nur als etwas betrachten, das für unseren Genuß geschaffen ist, dann ist das verkehrt,
dann scheint alles zu Ende zu gehen,
dann glauben wir oft nicht mehr an Gottes gute Ordnung,
dann hoffen wir auf einen Neuanfang, dann erwarten wir Erlösung, daß Gott selbst kommt, uns befreit aus unsrer Hilflosigkeit, uns neue Chancen gibt.
Dann hören wir vielleicht in der Mitte der Zeit:
»Die Zeit ist nahe« (Offb 1,2).
Wir hören in der Mitte der Zeit:
»Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit« (Joh 1,14).
Wir hören Jesus sagen: »Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!« (Mk 1,15)
Wir sagten, die Zeit zerrinnt, die Uhr frißt die Zeit.
Wir sagten aber auch, Gott schafft einen Anfang und hält die Zeit in seinen Händen.
Jetzt hören wir in der Mitte der Zeit, Jesus Christus ruft uns zur Buße. Was heißt das? Ich übersetzte mir das so, gegen die zeitfressende Uhr, gegen das Zerrinnen der Zeit, hilft Buße, d.h. Innehalten, Umkehr und Einkehr. Ich darf das anhand einer ganz simplen Geschichte aus meinem Erleben erklären.
An einem der wenigen heißen Tage des Jahres wollten wir, meine Frau, meine Tochter und ich, eine kleine Tour mit dem Fahrrad machen, am Ende sollte ein Picknick an einem schönen Plätzchen stattfinden. Nun, wir waren so sehr fixiert auf unseren Picknickplatz, den wir unbedingt erreichen wollten, daß wir völlig vergaßen, daß es für so einen weiten Weg viel zu heiß war, daß das unserm Töchterchen natürlich nicht gefiel und vor allem, daß es noch viele schöne Plätze auf dem Weg zu »unserem« Platz gab, die wir alle übersahen. So entwickelte sich die kleine Radtour zu einer großen Radtour. Die Müdigkeit nahm zu und die Stimmung war schlecht, als wir endlich den Platz erreicht hatten, zu dem wir wollten.
Was war passiert? Wir hatten vergessen innezuhalten. Wir hatten den Moment verpaßt, um anzuhalten und zu überlegen. Ein kurzes »Stop, was machen wir hier eigentlich?« hätte genügt. Religiös ausgedrückt: Wir hatten vergessen, uns selbst ansichtig zu werden. Uns fehlte der gnädige und besinnliche Moment, uns mit Gottes Augen zu sehen.
Gegen das Zerrinnen der Zeit hilft Innehalten, Umkehr und Einkehr!
Innehalten ist zuerst die Zwiesprache mit Gott und dann die Umkehr zum Nächsten. Innehalten ist zuerst die Selbstansicht im Angesicht Gottes und dann die mitfühlende Ansicht des Nächsten.
Innehalten kann man im Gebet, es ist Zeitgewinn größter Qualität.
Das Innehalten im Gebet bedeutet, sich auf die Gottesgegenwart einzulassen.
Gott ist der Anfang der Zeit. Gott ist die Mitte der Zeit. Gott ist aber auch das Ende der Zeit. »Ich bin das A und das O, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende« (Offb 22, 13). »Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das erste ist vergangen… Siehe, ich mache alles neu!« (Offb 21, 3 ff)
Gott ist der Schöpfer der Zeit. Er kommt in der Mitte der Zeit in unsere Mitte und er wird uns am Ende der Zeit erlösen.
Wir brauchen nicht darüber spekulieren, wann das sein wird. Sicher nicht im Jahr Zweitausend, wie manch nervöser Zeitgenosse meint.
Viel wichtiger als jede Erlösungsspekulation ist der Umgang von jedem von uns mit seiner eigenen Endlichkeit.
Die Frage, die sich jeder stellen sollte, ist: Kämpfe ich an gegen die Uhr und deren Gefräßigkeit? Wenn man diese Frage mit ja beantwortet, muß man wissen, daß man verliert. Gegen die Zeit zu kämpfen ist so sinnlos, wie sich in den Rhein zu stellen und zu versuchen, die Fluten mit den Händen aufzuhalten.
Wir leben in der Zeit, werden älter und müssen sterben.
Gegen die Gefräßigkeit der Uhr hilft nur eine innere Einkehr, die uns Gott schenkt, Innehalten, Zwiesprache mit Gott und die Entdeckung seiner Gegenwart in unserer Zeit.
»Meine Zeit steht in deinen Händen.« Was heißt das, überlege ich. Ich versuche mir das so vorzustellen: Gott hat unsere Namen in die Fläche seiner Hand geschrieben. Das heißt, völlig unabhängig davon wie alt wir werden, ob wir lange leben oder kurz, ob wir ein schönes Leben haben oder ein wenig schönes, unsere Namen stehen unauslöschlich in seiner Hand. Er vergißt uns nicht. Unsere Zeit ist umfangen von Gottes ewiger Gegenwart.
Hier läßt sich nur noch Amen sagen und wenig diskutieren, deshalb nun zum begrifflichen Teil meines Vortrags:

Griechische Zeitbegriffe im christlichen Kontext


In der Meditation versuchte ich »Zeit« anschaulich zu machen, indem ich von einem Gegensatz, von einer Bipolarität der Zeit ausging.
Die gefrässige Zeit, die zerfließt, nennen die Griechen »CHRONOS«. CHRONOS
ist der Begriff für die Zeitdauer, die meßbar ist. 
* Das Innehalten aufgrund dessen man Entscheidungen trifft und in bestimmter Weise handelt, nennen die Griechen »KAIROS«. KAIROS bezeichnet den günstigen Augenblick, den besten Zeitpunkt. Ich habe in der Meditation KAIROS mit Buße verglichen. Das griechische Wort für Buße, METANOIA, bedeutet Sinneswandel. Jesu Bußruf in Mk 1,15 kann dann übersetzt werden mit: Jetzt ist der günstige Augenblick für einen Sinneswandel. Den jüdischen Hintergrund für Buße, METANOIA, bildet die prophetische Rede, die eine Wende, eine Rückkehr zu Gott fordert. Hebräisch SCHUF bedeutet in religiösem Sinn: Kehre um, wende dich ab von deinem bindungslosen Weg, wende dich zurück zu deinem Ursprung in Gott.
CHRONOS verstehe ich als das Treiben im Zeitfluß.
KAIROS verstehe ich als das Verhalten zum Zeitfluß: Innehalten, Einkehr, Umkehr. KAIROS, der günstige Augenblick, hat Bedeutung für das ganze Leben; die Beziehung zu Gott verändert das Leben ein für allemal, dauerhaft und immer wieder. In diesem Sinne verstehe ich auch die erste von Luthers 95 Thesen: »Unser Herr und Meister Jesus Christus hat mit seinem Wort “tut Buße” usw. gewollt, daß das ganze Leben der Gläubigen Buße sein solle.«
Ein zweites begriffliches Gegensatzpaar im Griechischen sind die Worte ÄON und NYN.
* ÄON meint die längere Zeitdauer, das Zeitalter, so wie wir sagen: »eine Ewigkeit«.
* NYN meint das Jetzt, den Augenblick.
Ähnlich wie bei der Spannung von KAIROS und CHRONOS, so ist auch hier die Frage, wie in einem Zeitalter der Moment, wie in einem Lebensganzen der Augenblick Bedeutung und Dauer gewinnt. Wenn es stimmt, daß alle Lust Ewigkeit will, wie ist sie dann zu gewinnen? Ich vermute, der Ewigkeitsdauer kommt man am nächsten in der Erinnerung auf ein initiales Handeln und im Vollzug von sakramentaler Wiederholung. Deswegen sind im christlichen Leben die Taufe und das Abendmahl so wichtig. Aber Sie können auch an das eheliche Leben denken, in dem die Erinnerung an den ersten Augenblick des Verliebtseins und die segnende Hochzeit durch eine notwendig sich wiederholende sakramentale Handlung vollkommen wird, den sexuellen Vollzug der Ehe.
Ein drittes griechisches Begriffspaar stellt keinen Gegensatz, sondern eine Ergänzung dar und bringt uns in die Schulstunde. Die Worte SCHOLÄ und HORA sind gemeint.
* SCHOLÄ bedeutet das Anhalten, die Rast und die Muße, aber auch Arbeitslosigkeit, freie Zeit und Nichtstun. Schule war im Mittelalter dazu da, die Klosterbrüder von dummen Gedanken abzubringen. Die freie Zeit wurde zum Studium genutzt. Aber auch die Noblen, die reich an Zeit und Geld waren, gingen in die Schule, um die sieben freien Künste zu studieren. Die Artes Liberales sollten deutlich von den Artes, den Handwerkskünsten, unterschieden sein.
* HORA bedeutet einen bestimmten Zeitabschnitt, der einer bestimmten Tätigkeit zugeordnet ist. Zu denken ist dabei an die Stundengebete im Kloster. Im übrigen konnten die Stunden im Jahreslauf variieren. Im Sommer waren die Stunden länger, im Winter kürzer. Das Gleichmaß der Schul- und Studienstunden hat erst das Stundenglas, die Sanduhr festgelegt.
Wir können fragen, ob unsere heutigen Schulstunden noch etwas von der abgehobenen und zuweilen weltfremden Besinnlichkeit des Mittelalters haben sollen oder gar müssen. Zumindest kann man sicher sagen, daß auch ein unbesinnlicher, technokratisch organisierter Unterricht abgehoben und weltfremd sein kann.

Zeitvorstellungen in Gegensatzpaaren

Ich möchte nun anhand zweier Gegensatzpaare unterschiedliche Zeitvorstellungen darstellen:
* Zyklische und lineare Zeitvorstellung! Eine zyklische Zeitvorstellung haben wir, wenn wir eng im Jahreslauf leben, wie zumeist auf dem Land: »Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht« (Gen 8,22). Die Worte »solange die Erde steht« brechen aber zugleich das zyklische Ordnungsgefüge. Der jüdisch-christliche Glaube denkt irdische Ordnung nie absolut, unsere Zyklen in denen wir leben, sind nicht ewig. Wir leben auch in der schönsten Ordnung nicht in einer ewigen Wiederkehr des Gleichen (Nietzsche), wie die griechische Mythologie sie denkt. Der Satz »Es gibt nichts Neues unter der Sonne« ist nach biblischem Verständnis falsch. Das Leben, die Zeit hat einen Anfang und ein Ende, einen Beginn und ein Ziel. Als Urheber, Begleiter und Vollender der Zeit wird ein und derselbe Gott geglaubt, der in Jesus Christus erkannt werden kann.

* Subjektive und objektive Zeitvorstellung!

Ist Zeit eine Vorstellungsweise (Kant) oder eine Wirklichkeit, die es gibt? Einstein versteht die Zeit als eine Illusion: »Für uns Physiker ist die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nichts als eine Illusion, wie hartnäckig sie sich auch hält. Die subjektive Zeit mit ihrem Bestehen auf dem Jetzt hat keine objektive Bedeutung.« Zeit an sich existiert nicht, sie ist ein Bezugssystem. Wir setzen bestimmte Veränderungen in Beziehung zueinander und bezeichnen diese mit Daten: Geschwindigkeit und Beschleunigung, Dauer und Datum. Der Begriff »Zeitdilatation« macht darauf aufmerksam, daß sich die meßbare Zeit in schnell bewegenden Systemen im Vergleich zu außenstehenden Beobachtern verlangsamt. Demgegenüber ist der Chemiker Ilya Prigogine von der realen Existenz der Zeit überzeugt. Er nimmt an, daß der Natur Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit eignet, daß das Universum einen An- n fang und wahrscheinlich ein Ende hat und daß sogar Elementarteilchen eine Geschichte haben: Die Zeit ist in der Natur. Die natürlichen Prozesse sind irreversibel. Die Zeit hat einen Strahl in eine bestimmte Richtung. Der Theologe würde sagen: Zeit hat nicht nur Anfang und Ende, sondern der Anfang ist geschaffen und das Ende hat ein Ziel.

Ich nehme mir Zeit, ich stelle die Uhr !

Im letzten Abschnitt möchte ich auf zwei klassische Zeitdefinitionen von Aristoteles und Augustinus eingehen.
* »Zeit ist das Zählbare an der im Horizont des Früher oder Später begegnenden Bewegung« (Physik IV, 10-14), sagt Aristoteles. Mit dieser Definition, die Zeit als Maß und Zahl einer Bewegung versteht, liegt uns die Zeitdefinition unserer technischen Welt vor. Die Macht dieses Zeitverständnisses betrifft uns alle ausnahmslos. Es zählt das Maß. Es zählt die Zahl. Es zählt die Bewegung und die Dynamik. Die Quantität wird zur Qualität (Heidegger). Man vergleicht sich in Zahlen. 90-60-90. Ich bin 37. Eins82. Wiege 79. Mein Auto fährt … Ich verdiene … Wieviele hatte ich … Wie oft kann ich … Gott hat alles geordnet nach Maß, Zahl und Gewicht; aber meinte er damit höher, schneller, weiter? Für mich symbolisiert die Zeit als Quantität und als technisches Maß die Digitaluhr, die unerbittlich läuft, unabhängig von mir und dem was ich will. Die Digitaluhr zwingt mich in ihren Rhythmus. Sie nimmt mich in den Bannkreis eines Automaten, zwingt mich in ihren Takt, nötigt vielleicht sogar meinem Herzen einen schnelleren Schlag auf.
* Demgegenüber die Zeitdefinition des Augustinus: »Man kann von Rechts wegen nicht sagen, es gebe drei Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Vielleicht sollte man richtiger sagen: es gibt drei Zeiten, Gegenwart des Vergangenen, Gegenwart des Gegenwärtigen und Ge- n genwart des Zukünftigen: Denn diese drei sind in der Seele, und anderswo sehe ich sie nicht. Gegenwart des Vergangenen ist die Erinnerung, Gegenwart des Gegenwärtigen ist die Anschauung, Gegenwart des Zukünftigen die Erwartung« (Confessiones 11. Buch, 13-29). Ich erinnere, schaue, erwarte und bin derjenige, der sich zur Zeit verhält. Es gilt immer: Ich muß meine Endlichkeit annehmen und in ihr Entscheidungen treffen. Im Erinnern, Schauen und Erwarten halte ich inne und gewinne Zeit. Das Höher, Schneller, Weiter wird von Glaube, Liebe, Hoffnung abgelöst. Die Zeit als Maß wird zur Zeit der Entscheidung, das technische Zeitverständnis wird zu einem ethischen Zeitverständnis, wenn mir Gott die Ruhe schenkt innezuhalten. Für mich symbolisiert die Sanduhr (vgl.: Ernst Jünger, Das Sanduhrbuch, Frankfurt/M., 1957) die Zeit der Entscheidung. Sie ist Wahrzeichen der Beschaulichkeit, der Ruhe und Andacht. Sie dient der Muße, der freien Zeit in qualifiziertem Sinn. Sie gibt der Zeit ein Maß, das ich bestimme. Sie kann mir helfen mich vom äußeren Zeitfluß zu erholen. Sie ist ein Gleichnis des Vergänglichen, in ihr kehrt Staub zum Staube zurück. Die Sanduhr macht es möglich: Ich stelle die Uhr. Ich nehme mir Zeit.
Was bedeutet das für unsere Arbeit in der Schule? Wenn wir Schule nur ein klein wenig im ursprünglichen Sinn als freie Zeit und Muße verstehen wollen, dann müssen wir überlegen, wie Muße in der Schule Platz findet. Vielleicht ist ja Religionsunterricht ursprünglicher Schulunterricht, der Ort von qualifizierter Pause, wie es im BRU-Magazin einmal hieß, der Ort von heilsamer Unterbrechung des Gängigen. Wir müßten dann aber öffentlich mit aller Deutlichkeit darauf hinweisen, daß diese Unterbrechung ethisch orientiert, indem sie uns und die Gesellschaft vor Kurzschlüssen bewahren lehrt. Meine jetzige Definition lautet: Religionsunterricht ist das Einüben von nachdenklichem Innehalten.

* Vortrag, gehalten beim Hessischen Landesinstitut für Pädagogik, Weilburg, 26.10.1998

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