„Irren ist menschlich“

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Wolfgang Roth
Bahnhofstraße 4, 76889 Klingenmünster

Eine Einführung in die außergewöhnlichen Welten psychisch kranker Menschen – ein besonderes seelsorgerliches Feld*

Ich lade Sie ein zu einem Streifzug durch eine andere Welt. Wir werden Menschen dort begegnen, die anders sind. Es sind unsere Mitmenschen, konkrete, lebende Zeitgenossen. Ich erzähle von meinen Begegnungen mit ihnen und verändere dabei so viel, dass man sie nicht erkennen kann.

Sie bat um ein Gespräch. Telefonisch. Bei ihr zu Hause. Oft schon hatten wir im Seelsorgezimmer der Klinik miteinander gesprochen. Während ihrer Klinikaufenthalte und auch, als sie entlassen war. Doch das Gelände, die Umgebung, die Gebäude des Klinikums machen ihr Angst. Sie will nicht mehr kommen. Sie könnte Ihm dort wieder begegnen. Man könnte sie auf die Geschlossene bringen und mit Medikamenten abfüllen. Sie kennt sich aus, mit der Psychiatrie, mit sich, mit ihrem besonderen Erleben. Seit vielen Jahren.

Sie hatte gerade ihr medizinisches Examen in Heidelberg sehr gut bestanden, ihr Lieblingsprofessor stellte sie als persönliche Assistentin ein, es war der Himmel auf Erden, mit ihm und für ihn zu arbeiten. Doch plötzlich, erzählt sie immer wieder, geschah etwas, das Arbeiten fiel schwer, ging gar nicht mehr, je mehr sie sich mühte, um so weniger brachte sie zustande. Sie versuchte, es geheim zu halten, verzweifelte, bis der Professor sie eines Tages seinem psychiatrischen Kollegen vorstellte und ihr erster Klinikaufenthalt in Heidelberg folgte. Das war vor über 20 Jahren. Von da an ging’s bergab. Steil.

Sie stammt aus sehr gut bürgerlichem Elternhaus, die einzige Tochter, hatte im Gymnasium eine Klasse übersprungen. Nach der ersten stationären Behandlung versackte sie in der alternativen Szene. Sie ließ nichts aus, geriet an die schrägsten Vögel, und immer wieder in die Psychiatrie.

Sie ist groß und schlank, war wohl auch sehr hübsch, doch die beiden letzten Jahrzehnte sind wie ein aufgeschlagenes Buch in ihr Gesicht gezeichnet und dort nachzulesen.

„Haben Sie ihn gesehen?“, fragte sie mich, wenn wir uns in der Klinik trafen. „Sie meinen Professor Häusle?“ „Er sitzt im Rollstuhl, vor der Cafeteria, ich bin schuld, ich habe ihn soweit gebracht.“ „Frau Z., wir haben viele Rollstuhlfahrer hier und der Mann neben der Tür drüben ist Herr A von der Wohngruppe Schlossberg, ich kenn’ ihn gut.“ „Nein, es ist Prof. Häusle“, flüstert sie, den Tränen nah. „Er ist hier, er sitzt im Rollstuhl, ich bin schuld.“ „Ich glaub’ Ihnen, dass Sie in dem Mann ihren Professor sehen, doch es ist Herr A.“ „Rufen Sie bitte die Heimleitung an, er ist vor 14 Tagen hier aufgenommen worden, ich habe ihn zerstört.“ Ich rufe in ihrer Gegenwart an, frage nach Prof. Häusle, dem neuen Bewohner. Der Mitarbeiter schaut nach, bestätigt durch den Telefonlautsprecher, dass sie keinen Bewohner namens Häusle in der Abteilung haben.“ Sie hört mit und sagt dann zu mir. „Er sitzt im Rollstuhl, er ist hier, ich habe ihn vernichtet.“

Sie kann nicht mehr zu den 14-tägigen Gesprächen in mein Zimmer kommen. Zu groß ist ihre Angst. Überall seien ja Kameras und in meinem Zimmer hätten sie kleine Mikrofone versteckt.

Sie bewohnt mit ihrer Mutter, die auch ihre Betreuerin ist, in einem kleinen Dorf ein stattliches Haus. Ein paar Mal habe ich sie jetzt dort besucht. Dabei hab ich ganz Erstaunliches erlebt: Wenn ich komme, bin ich nun ihr Gast, sie ist die Gastgeberin. Wir sitzen in kostbaren antiken Möbeln, trinken Tee aus Meißner Porzellan. Das großzügige Zimmer voller alter und moderner Kunst. Sie fragt nach meinem Befinden, wir reden über Literatur, ihren Alltag, ihre kleinen Projekte darin, ihre Umgebung, wir reden ganz normal. „Ich muss jetzt in der Gegenwart meiner Mutter die Medikamente nehmen.“ „Gut, dass Sie die Medikamente nehmen“, sage ich, „es geht Ihnen besser.“ „Ja“, sagt sie, “eigentlich soll ja die Symptomatik damit verschwinden, aber mein Wahn bleibt, zum Teil jedenfalls. Wenn ich die hohe Dosis nehme, setzen mich die Nebenwirkungen matt, ich kenne meine Dosis, zum Glück ließ Mutter mit sich handeln.“ „Was passiert, wenn Sie die Medikamente lassen?“ „Dann dreh ich durch, flipp’ aus, treibe Wahnblüten bis zum Anschlag“.

Unglaublich. Ich kenne sie seit Jahren. Nie haben wir so geredet. Es sind zwei Welten. Die Klinik und ihr Zuhause. Es sind auch zwei Welten in ihrem Kopf. Kurz bevor ich gehen will, sagt sie: „Nächstes Mal muss ich das Schlimmste aus meinem Leben erzählen.“ Ich sage: „Lassen Sie uns doch gut überlegen, wie sinnvoll das für Sie ist.“ „Ich habe große Schuld auf mich geladen!“ „Frau Z., ich weiß, dass Sie das quält, doch ich befürchte, dass dann alles wieder ganz aktuell in Ihnen ist, dass Sie die Katastrophen im Erzählen neu inszenieren. Dass Ihnen das dann nicht gut tut.“ „Wenn ich es Ihnen erzähle, ist es anders, als wenn ich es den Ärzten erzähle. Die erklären mich für verrückt. Aber es ist doch meine Realität. Bitte kommen Sie wieder.“

Es ist ein ständiges Pendeln zwischen den Welten. Sie wird mir wieder erzählen müssen, dass Sie den Professor schlimmster sexueller Übergriffe bezichtigt habe, dass sie einen Flugkapitän, den sie als Studentin kennen lernte, durch einen Fluch mit seinem Flugzeug samt 190 Passagieren habe abstürzen lassen.

Wir werden aber auch wieder über feministische Theologie oder Bachs Kantatenkunst diskutieren, und sie wird mich zwischen feinem Darjeeling und edlem Assamtee wählen lassen.

Frau Z. irrt, ihre paranoide Schizophrenie lässt ihr keine Wahl. In ihrem Irren und Nichtirren, in ihrer eigenen und unserer gemeinsam verstehbaren Welt ist so viel ernste, liebe- und sorgenvolle Menschlichkeit. Sie nimmt am Kreis junger Frauen ihrer Kirchengemeinde teil, und diese jungen Frauen nehmen am jeweiligen Leben und Erleben ihrer Kameradin teil. Sie ist drin und draußen, in ihrer eigenen Welt und zusammen mit allen, teils in ruhiger Zufriedenheit, teils gequält von schlimmen Schuldgefühlen in tiefster Verzweiflung.

Eine psychische Erkrankung, gleich welche, kann jeden treffen. Es ist eine Möglichkeit unserer menschlichen Existenz. Es kann lang und tief in unseren Genen schlummern, es können die Neurotransmitter und anderes in unserem Gehirn Botschaften vertauschen, es kann ein schlimmes Erlebnis uns aus der Bahn werfen. Auf einmal oder schleichend ist alles anders. Nichts ist mehr wie vorher. Menschen erleben sich wie in einem andern Film, auch mit größter Willensanstrengung kommen sie nicht dagegen an. Sie merken es schmerzhaft und irritiert. Oder andere merken es verunsichert, entsetzt. Uns Menschen kann das treffen. An jedem Ort, zu jeder Zeit. In jeder Generation, in jeder Kultur, ob Mann oder Frau. Es kann sich etwas gravierend verändern. Wir können anders werden, als wir sind, als wir waren, als wir sein wollen, als andere uns wollen. Wir können uns dann in unserer Wahrnehmung, in unseren Gefühlen, in unserem Denken und Handeln irren. Sogar verirren. Wir können schlimmstenfalls unser Ich verlieren, können uns verlieren in Leere, in aufgewühltem Außer-sich-sein, in Ängsten, in Süchten, in abgehobener Euphorie, in Zwängen, in Niedergeschlagenheit, in totaler Erschöpfung. Anders sein ist menschlich. Sich dann irren auch.

Menschen, die anders sind, machen immer auch Angst. Man meint, sich schützen zu müssen, zumindest will man sich von ihnen abgrenzen. So will man nicht sein. Man nannte darum früher solch andere Menschen oder Menschen mit solch anderen als den üblichen Erfahrungen: Irre. Und sperrte sie in für sie bestimmte Häuser, Irrenhäuser. Aus größtmöglichem Distanzinteresse. Doch auch Irre sind Menschen. Ja, und Irre sind menschlich, nicht selten menschlicher als die unheilbar Normalen. Inzwischen wurde auch der Unterbringungsprozess vermenschlicht, aus den Anstalten entwickelten sich Krankenhäuser und heute leben und arbeiten wir in Fachkliniken für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie.

Irren ist menschlich geworden. Gott sei Dank. 1978 veröffentlichten Klaus Dörner und Ursula Plog zum ersten Mal ihr Lehrbuch „Irren ist menschlich“, 1984 völlig neu bearbeitet, inzwischen in der  21. Auflage. Es kennzeichnet einen deutlich anderen Zugang zu den Welten psychisch Kranker als die eher neuro-biologisch orientierten Lehrbücher für Psychiatrie.

Was soll der Titel: „Irren ist menschlich?“ fragen sie und schreiben: „Er soll uns daran erinnern, dass die Psychiatrie ein Ort ist, wo der Mensch besonders menschlich ist; d.h., wo die Widersprüchlichkeit des Menschen oft nicht auflösbar, die Spannung auszuleben ist: so das Unmenschliche und Übermenschliche, das Banale und Einmalige, Oberfläche und Abgrund, das Kranke und Böse, Weinen und Lachen, Leben und Tod, Schmerz und Glück, das Sich-Verstellen und Sich-Wahrmachen, das Sich-Verirren und Sich-Finden.“

Dörner und Plog erweitern den individualistisch-anthropologischen Ansatz der Psychiatrie schon vor dem systemischen Boom „ökologisch“, die Umwelt des Kranken miteinbeziehend. So beschreiben sie vor den jeweiligen Diagnosen und Therapien die „Landschaften“ der jeweiligen Krankheiten, die ‚Landschaft in Aufruhr’ bei der Manie, die ‚Landschaft der Zerreißproben’ beim schizophrenen Menschen, die ‚Landschaft der Sehnsucht, der Wunschlandschaft’ der Süchtigen. Neben Krankheit sprechen sie gern von Kränkung und von Störung. „Ein psychisch Kranker ist ein Mensch, der bei der Lösung einer altersgemäßen Lebensaufgabe in eine Sackgasse geraten ist. Das Ergebnis nennen wir Krankheit, Kränkung, Störung, Leiden, Abweichung. Es sind grundsätzlich allgemein-menschliche Möglichkeiten; d.h. sie sind für uns alle unter bestimmten inneren oder äußeren Kontext-Bedingungen Ausdrucksformen der Situation ‚so geht es nicht mehr weiter’. Daher sind sie grundsätzlich uns allen innerlich zugänglich und bekannt.“

Wenn das so ist, dann begegnen wir im Kontakt mit psychisch auffälligen Menschen immer auch Teilen von uns selbst. Es ist gut, wenn wir sie kennen, ihren Stellenwert für unser jetziges Leben einschätzen können. Vielleicht ist es sogar noch besser, wenn wir uns im Blick auf unsere besonderen Seiten, Themen oder Fallen mit uns selbst beschäftigt haben, sie in unser Ich integriert haben, wie wir das gerne nennen. Also etwa, wie sieht das mit meinem eigenen Suchtpotenzial aus? Wie gehe ich selbst mit meiner eigenen Depressivität um? Wo bin ich so ganz anders als die andern und was heißt das für den Kontakt mit ihnen. Was macht mir wie Angst und was mach ich mit dieser Angst?

Ich lerne in jeder Begegnung mit einem Andern immer auch etwas über mich und meine Landschaft. Werde angenehm oder erschreckt an etwas erinnert. Das ist gut so, denn so kann es zu einer echten Begegnung auf Augenhöhe kommen. Wer meint, psychisch Kranke von oben mit besserem Wissen behandeln zu können, wird bald alleine dastehen, weil die meist sehr sensiblen Menschen ihn einfach stehen lassen, keinen Bock haben auf Bevormundung und Besserwisserei.

Irren ist menschlich – ein Buchtitel zum Thema. Ein anderer, 2009 erschienener Titel wurde binnen Kurzem zum Bestseller: „Irre! Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen“, von Manfred Lütz, einem Psychiatrie-Chefarzt aus Köln. Das ist eine flott geschriebene, mit kabarettistischem Schwung erstellte Analyse unserer Zeit und Gesellschaft mit ihrem ganz normalen Wahnsinn und ganz normalen Blödsinn. Und doch ist es für uns Laien auch eine lustige Einführung in die Welt der Psychiatrie. Humorvoll, knapp und dennoch sachgemäß werden die wichtigsten Therapiemethoden vorgestellt und in einer „heiteren Seelenkunde“ alle Diagnosen und alle Therapien beschrieben. Und das auf 185 Seiten. Schon witzig, dieser Anspruch auf diesem Format, aber macht nichts, wahrscheinlich haben Menschen dieses Buch gelesen, die nie und nimmer ein dickes Lehrbuch in die Hand nehmen würden. Das Kapitel über Schizophrenie heißt treffend: „Irren ist menschlich“.

Gut gefällt mir die Grundeinstellung von Manfred Lütz seinen Patienten gegenüber. Ich zitiere sein „Vorspiel“, darin das 1. Kapitel des Buches: „Wenn man als Psychiater und Psychotherapeut abends Nachrichten sieht, ist man regelmäßig irritiert. Da geht es um Kriegshetzer, Terroristen,  Mörder, Wirtschaftskriminelle, eiskalte Buchhaltertypen und schamlose Egomanen – und niemand behandelt die. Ja solche Figuren gelten als völlig normal. Kommen mir dann die Menschen in den Sinn, mit denen ich mich den Tag über beschäftigt habe, rührende Demenzkranke, dünnhäutige Süchtige, hochsensible Schizophrene, erschütternd Depressive und mitreißende Maniker, dann beschleicht mich mitunter ein schlimmer Verdacht: Wir behandeln die Falschen! Unser Problem sind nicht die Verrückten, unser Problem sind die Normalen!“

„Das Ende vom Lied“ heißt sein Schlusskapitel und zum Schluss werde ich daraus noch einmal zitieren. Zuvor aber noch ein paar Begegnungen mit Menschen, die sich irrten, weil sie an einer oder mehreren der psychischen Störungen leiden.

Robert G. ist ein Bär von einem Menschen, ein Athlet. Durchtrainiert im Fitnessstudio, wo er Rekorde beim Spinning bricht. Wenn er von seinem Wohnort etwa 40 Kilometer von der Klinik zum Gespräch kommt, fährt er mit seinem Rennrad und betritt taufrisch mein Zimmer. Dann erzählt er die letzten 14 Tage. Da wär’ eine Frau gewesen, die wollte mehr als nur Gespräch. Aber er traute sich nicht, zog sich zurück. Irgendwann muss er ihr sagen, dass er plötzlich am Morgen nicht mehr aus dem Bett kommt. Allenfalls aufsteht, um die Rollläden runter zu lassen. Er schläft dann zwei, drei Tage durch. Dann ist erneut alles zu Ende, er will nicht mehr aufstehen, am besten gar nicht mehr aufwachen. Es hat doch alles keinen Sinn. Er ist ein totaler Versager. Sein Vater hatte recht, dass er ihn schlug, dass er ihm die Flausen, Ingenieur werden zu wollen, aus dem Kopf schlug. Maurer ist ein anständiger Beruf. Und nur wer anständig trinkt, ist auch ein anständiger Maurer.

Er schlug alle, der Vater, im Suff, die Mutter, die Schwestern, ihn, bis er eines Tages stark genug war. Da schlug Robert seinen Vater fast tot. Seither war Ruh. Aber es kamen immer öfter diese Phasen, da ging nichts mehr, nur eins ging noch, zur Tankstelle gehen. Er holte sich zum Trinken genug. Schlief ein, wachte auf, trank weiter. Beim letzten Mal holte er sich im Supermarkt seinen Stoff, trank gleich dort. Und schlief ein. Neben dem Supermarkt. Es war allerdings Ende Januar, am Morgen fand ihn die Putzfrau, alarmierte die Polizei, die ihn in die Klinik brachte. Er war fast gestorben, ein anderer wäre gestorben. Ich kannte Menschen, die im Winter erfroren, ein Lehrer, der mir besonders ans Herz gewachsen war, im Garten eines Pfarrhauses. Robert G. hat überlebt, weil er ein Bär ist. „Ich will das nicht mehr. Ich will auch nicht mehr auf eure Suchtstation. Ich will meine Depression nicht mehr in Alkohol ertränken.“ Er hat viele Entgiftungen bei uns, zwei, drei Langzeittherapien gemacht, weiß alles über sich und Alkohol. Er kam für einige Wochen auf die Station für depressive Menschen, er hat sich eine neue Stelle gesucht, will eine Ausbildung machen, die seinen Interessen entspricht.

Robert G. quälen gleich zwei Erkrankungen. Immer wieder knockt die Depression ihn aus. Er irrt, wenn er glaubt, das sei das Ende von allem, es lohne sich nun nichts mehr, er bekäme sowieso nichts auf die Reihe, niemand wolle ihn und er könne auch niemanden zufrieden stellen. Es ist so menschlich, so zu fühlen, wenn man depressiv abstürzt. Aber es ist ein Irrtum. Eine Fehleinschätzung der Realität. Er könnte aufstehen, Kontakt aufnehmen, mindestens kleine Schritte tun – doch sein Gehirn sagt ihm: „Lass es, sinnlos, du kannst nicht.“

Er irrt ein zweites Mal, wenn er meint, wenn schon nichts mehr gehe, dann könne man sich auch totsaufen. Im Lauf der Jahre hat sich die Sucht verselbständigt. Er muss gar nicht mehr überlegen, entscheiden, ob er trinken will oder nicht. Er geht wie in Trance.

Alkoholkranke Menschen haben oft zunächst eine Depression oder eine Angsterkrankung. Sie irren, wenn sie meinen, dieses Leiden mit „Stoff“ beseitigen zu können. Natürlich wirken Suchtstoffe erleichternd, beruhigend, nehmen den Druck, das schlechte Gefühl, die Angst. Doch es sind und bleiben Suchtstoffe, und sie verlangen bald Nachschub und immer mehr. Es ist ein Irrtum, man könne den Teufel mit Beelzebub austreiben. Manchmal ist die Reihenfolge auch umgekehrt: Da folgen die anderen Leiden aus der Abhängigkeitserkrankung.

Bernd H. ist ein ganz aktives Mitglied in der Therapiegruppe auf der Suchtstation. Er hat schon 60, 70 Entgiftungen und einige Landzeittherapien hinter sich. Man sieht es ihm nicht an, er wirkt in seinem Trainingsanzug sportlich jung. Er sagt zu denen, die zum ersten Mal da sind und sich fragen, ob sie überhaupt alkoholkrank sind: „Du musst zu deiner Erkrankung stehen. Wir sind alkoholkrank. Da kann man nichts machen. Bauen immer wieder einen Rückfall, das gehört zur Krankheit.“ Und wenn einer sagt: „Hierher komme ich nie wieder, ich habe hier genug gesehen und es ein für allemal kapiert“, dann belehrt er: „Das gibt es gar nicht, natürlich wirst du rückfällig, wir sind alkoholkrank, das gehört dazu, wir sehen uns wieder.“

Bernd H. irrt ganz menschlich, wenn er meint, er könne seine Verantwortung an seine Erkrankung abgeben. Oder wenn er davon überzeugt ist, dass die Erkrankung bei jedem Menschen gleich ablaufe.

Er wollte wieder in die Langzeit, sein Antrag wurde abgelehnt. „Das war meine letzte Chance“, sagte er deprimiert, „jetzt ist das hier bei euch meine letzte Chance. Jetzt muss ich es schaffen, ja, ich weiß, ich will es schaffen.“ Auch das ist ein Irrtum, eine Chance, und sei es die 100., zur letzten zu erklären.

Wie oft hörte ich auf der Suchtstation Klassiker wie: „Ich brauch nur einen Job, es muss nur meine Frau wieder zu mir zurückkommen, ich habe meinen Notfallkoffer, habe die Tagesstruktur auswendig gelernt, werde in drei Vereinen morgen anfangen, das Thema Sucht war gestern“ – ach, wie menschlich ist doch solches Irren!

‚Irren ist menschlich’ kann manchmal aber auch wirklich lustig sein. Mein Routinebesuch auf der Gerontostation, im Aufenthaltsraum, die Patienten sitzen in ihren Sesseln, viele müde, manche scheinen weit weg. Da kommt eine knapp 80-Jährige auf mich zu, packt mich bei den Händen, tanzt mit mir durch den Raum und fragt: „Schatz, merkst du was?“ „Was könnte ich merken?“ „Heute ist unsere Verlobung, wir werden bald heiraten!“ „Oh.“ „Siehst du dort oben die Madenburg? Die schenk’ ich dir zur Hochzeit! Die hab’ ich extra für dich, mein Schatz, aufgehoben!“

Es ist schon etwas her, ich weiß nicht mehr, wie ich mich aus der Affäre zog. Maniker können den Laden aufmischen, dass es eine Freude ist. Mitunter auch ein Schreck. Der Sohn eines Schrotthändlers hätte beinahe das traditionsreiche väterliche Geschäft ruiniert. Er hatte vor seiner Einlieferung drei 20-Tonner mit Anhänger bei MAN bestellt.

Ein ganz anderes Kapitel sind Menschen, die über ganz dünnes Eis zu gehen scheinen. Andauernd, auch mitten im Sommer. Manchmal dauert es lang, bis die Menschen verstehen, was eigentlich ihr Leiden ist. Manchmal dauert es noch länger,  bis die Helfer eine Idee davon haben, worum es bei diesem psychischen Leiden geht.

Frau C. fällt mir in der Tagesklinik gleich beim ersten Gruppenbesuch auf. Sie ist sowas von extrem vornehm und auffällig schick angezogen, leicht übertrieben geschminkt, reserviert, abwartend. Bis zu ihrer Aufnahme in die Tagesklinik arbeitete sie als stellvertretende Geschäftsführerin eines Schicki-Micki-Supermodeschuppens in der Großstadt, den ich mit dem Inhalt meines Geldbeutels  gar nicht erst betreten brauche. Es gäbe Spannungen mit der Chefin, ihre Konzepte würden überhaupt nicht mehr zusammen passen. Es sei ganz schrecklich, wenn eine Kundin käme, sei sie seit neustem völlig verunsichert, ihre Hände zitterten, ihr werde heiß und kalt, manchmal schlecht. Sofort käme die Chefin und würde übernehmen. Sie sei nun krank geschrieben. Sie könne kaum schlafen, traue sich nicht mehr, Auto zu fahren, ohne ihren Mann gehe gar nichts. Der geplante Kurzurlaub in der Türkei habe abgesagt werden müssen, weil sie furchtbare Angst vorm Fliegen habe. Und sich gar nicht vorstellen könne, wie sie in fremder Umgebung überleben soll. Ihr Mann habe sich Urlaub genommen, müsse jetzt aber bald wieder arbeiten, das würde sie nicht überleben. Immer wieder würden sie Lebensüberdrussgedanken quälen, nur ihrer 21-jährigen Tochter wegen sehe sie von einem Suizid ab.

In der Gruppe braucht sie lange, bis sie Zuwendung und Zuneigung anderer Teilnehmenden annehmen kann. Sie schweigt meist die ganze Stunde, äußert sich, wenn überhaupt, eher abwertend.

Sie war mehrere Monate in der Klinik. Wurde mit unterschiedlichen Medikamenten behandelt, erst mit Verdacht auf Depression, dann auf Anpassungsstörung, dann auf Angsterkrankung. So ganz sicher war sich niemand. 14 Tage nach ihrer Entlassung war ein zweiter, nicht ganz so langer Aufenthalt in der Tagesklinik nötig.

Nach der Maueröffnung war sie in den Westen gekommen, hatte hier nach ihrer Scheidung ihren jetzigen Mann kennen gelernt, war schnell im Unternehmen aufgestiegen – dann der Absturz. Ihre stete Botschaft an alle war: „Es geht nichts. Ich kann nicht, Ihr könnt nicht. Ich habe Angst, sie geht nicht weg, also ziehe ich mich zurück. Es gibt kein Dagegen-Angehen.“ Durch ihr Haute Couture Kostüm, durch ihre geschönte Maske war die Angst, die Ohnmacht spürbar, sobald sie den Raum betrat.

Sie hat ja keine der klassischen Angsterkrankungen. Aber dennoch viel Angst und mehr noch. Ihr Erleben ist ohne Frage schrecklich. Dennoch: Sie irrt, wenn sie meint, nur Rückzug böte Schutz und Sicherheit, gegen ihre Ängste könne sie nichts machen. Wir werden im Workshop morgen sehen, wie es gelingen kann, dass nicht die Ängste mit uns, sondern wir mit der Angst umgehen lernen können.

Ängste verleiten leicht zum Irrtum. Ein Mensch in einer Panikattacke fühlt und denkt: „Jetzt werde ich gleich sterben.“ Doch es ist ein Irrtum, die Attacke vergeht nach 20 bis 30 Minuten und auch alle körperlichen Symptome verschwinden wieder. „Ich kann nichts machen, am besten ich vermeide alles, was mich in Gefahr bringen könnte“ – ein Irrtum, der Menschen mit solchem Leiden fast alle Lebensqualität nehmen kann.

Auf noch zwei Patientengruppen aus dem psychiatrischen Umfeld will ich eingehen. Horst G. ist 48 Jahre alt und inzwischen über zehn Jahre in der forensischen Klinik bei uns. Vorher war er im Gefängnis und in anderen Kliniken. Er stammt aus einem überdurchschnittlich reichen Elternhaus, doch seine Herkunftsfamilie ist das reine Chaos. Seine Mutter überhäufte ihn als Kind mit Geschenken, war dann wochenlang beruflich im Ausland. Der Vater, ein begnadeter Sportler, sammelte Preise und Rekorde. Schon als Schüler geriet Horst G. In die Drogenszene, lernte nicht nur konsumieren, sondern vor allem auch beschaffen, kannte alle kriminellen Tricks und kannte sie nicht nur. Die Eltern trennten sich, mit dem dann folgenden Stiefvater, der drei Jahre jünger als er selbst ist, lieferte er sich handfeste Gefechte. Er zeigte mir davon seine Schussverletzung im Rücken. Er selbst leerte über dem Kopf eines Junkies eine heiße Bratkartoffelpfanne aus.

Wir hatten wöchentlich ein Gespräch. In seinem Zimmer. Auf Station. Meine Augen mussten sich erst an die fast völlige Dunkelheit gewöhnen, die dichten Vorhänge waren zu, hinter einem Schrank schummerte ein kleines rotes Licht. Es begann immer dasselbe Ritual: Er warf alles, was sich auf dem Stuhl aufgetürmt hatte, ins Chaos aus Kleidern, CD’s, Lebensmitteldosen und undefinierbar Anderem, das den Raum völlig ausfüllte. Dann kochte er, ich weiß nicht wie, mir einen Tee. Während dessen schimpfte er ununterbrochen. Über das dreckige Personal, für das er Schimpfworte fand, die man in einem solchen Vortrag besser nicht verwendet. Über die bekloppten Mitpatienten der Station, die so dumm wie behindert seien. Kleine Einwandversuche meinerseits überhörte er großzügig. Er steigerte sich immer mehr in seine grenzenlose Wut, am Schluss schrie er mir sein Unglück um die Ohren. Manchmal kamen Pfleger gerannt, weil sie fürchteten, ich sei in Gefahr. Dann atmete er aus, sagte „So! – Möchten Sie zum Tee noch ein Gebäck? – Sie sind der einzige Mensch hier, der mich versteht. Diese sogenannten Therapeuten verstehen nur eins, nämlich ihren Feierabend. Hier, lesen Sie mein neuestes Schlechtachten, dann wissen Sie alles. Er gab mir die 98 Seiten bis zum nächsten Gespräch mit. Ich musste ihm immer irgendetwas mitbringen, meist Lebensmittel. Als mir das einmal zu viel wurde, schrie er, dass er sich Kritik verbitte, dass ich ein Versager sei wie all die anderen Schweine auch und ihn nicht mehr zu besuchen brauche. Vier Wochen später bat er dringend um ein Gespräch.

Ihn seinem Gutachten wurden ihm gleich vier Persönlichkeitsstörungen attestiert: eine Borderline-, eine dissoziale, eine narzisstische und die histrionische Persönlichkeitsstörung. Drogenabhängigkeit inklusive.

Es sind wahrscheinlich die anstrengendsten Menschen, die uns in und außerhalb der Psychiatrie begegnen können, Menschen mit Persönlichkeitsstörungen. Persönlichkeitsstörungen sind von der Kindheit oder Jugend an bestehende extreme Persönlichkeitseigenarten. Sie führen zu erheblichem Leid, das diese Menschen oder ihre Umgebung erleben. Früher sprach man von Psychopathen – in unseren Ohren eher ein Schimpfwort. Wörtlich übersetzt sehr treffend: Menschen, die unter ihrer Psyche leiden. Sie führen ein mühsames Leben. Verstehen sich selbst nicht und werden nicht verstanden. Etwa Menschen mit der Borderline-Störung. Sie stehen unter solch ungeheuren Spannungen, dass mitunter nur das Ritzen oder Schneiden Erleichterung verschafft. Sie haben einen Hang zur Selbstschädigung, der oft in einer Sucht ausgelebt wird. Sie spalten ihre Umwelt, auch Teams, in Gute und Böse, können nur schwarz-weiß denken, beten einen als Engel an und verfluchen einen im nächsten Augenblick als Teufel. Sie sind emotional instabil und schwanken in Extremen.

Es gibt inzwischen auch ganz gute Behandlungskonzepte. Allerdings ist es eine hohe Kunst, solche Menschen zu gewinnen, eine fragile professionelle Beziehung durchzuhalten, die Hoffnung nicht aufzugeben. Irren ist auch da menschlich. Aber nicht nur auf Patientenseite. Manchmal irren auch Therapeuten und Einrichtungsleiter, wenn sie aus der ungeheuren vergeblichen Anstrengung schließen, bei dem und dem sei aufgrund seiner Geschichte und seines jahrelangen Klinikaufenthalt nichts mehr zu machen.

Ich musste als Seelsorger nichts „machen“. Nur da sein. Verlässlich sein. Aushalten. Mit der Realität konfrontieren und die andere, die Patientenrealität, für mich realisieren. Und ich erlebte kleine und große Wunder echter Menschlichkeit. Horst G. weinte bei mir wie ein Kind. Er spielte mir seine Musik vor und hörte meine. Er gestaltete den Gottesdienst an den Festtagen mit. Er gab mir sein Testament über seine paar Sachen. Er bereitete zu seinem Geburtstag für uns beide eine Pizza zu, wie ich noch nie zuvor eine genießen konnte.

Irren ist menschlich: Wir meinen zu wissen, wenn wir eine Diagnose lesen oder hören. Wir wissen nichts. Erst wenn wir uns einlassen auf den einzigartigen, einmaligen Menschen, sein Leiden spüren, seine Ohnmacht und seine Kraft, fangen wir an zu ahnen, wer er ist, und entdecken den schmalen Pfad der Veränderung.

„Da ist nichts mehr zu machen. Wegschließen.“: Irren ist menschlich.

Zuletzt noch ein kurzer Blick auf eine Krankheit, die gar keine ist. Die dafür aber immer mehr im Kommen ist. Psychiatrien eröffnen eigene Stationen für sie, Spezialkliniken werben um entsprechende Klienten. Für den Spiegel ist es die „Volkskrankheit des 21. Jahrhunderts“.

In einer Konsum-, Genuss- und Arbeitswelt, in der wir auf Selbstoptimierung und Selbstausbeutung getrimmt sind, in der wir immer perfekter sein wollen oder müssen, wo wir immerzu online sind, alle zwanzig Minuten unsere Mails checken, Coachingkurse besuchen, um noch effektiver zu werden – da kann es zu einem Symptomenkomplex aus körperlichen und psychischen Reaktionen kommen, den man gemeinhin „Burnout“ nennt.

Es ist keine psychiatrische Krankheitsdiagnose, in der ICD-10 kommt es als Diagnose (noch) nicht vor (wird allenfalls als totaler Erschöpfungszustand notiert). Und doch laufen immer mehr Patienten über die Stationen eines psychiatrischen Krankenhauses, müde, mit hängenden Schultern, großen Augen, fragendem Blick, schwacher Stimme, fassungslos über ihr eigenes Schicksal – und wenn man sie fragt, was sie denn hierher gebracht habe, sagen sie: „Ich habe Burnout“. Sie sagen es frei heraus. Depressions-, Angst-, Sucht-, gar Psychosepatienten fragt man das besser nicht.

Mit Burnout outet man sich gern. Es scheint wie die Premium-Variante psychischen Leidens, eine Edelausgabe, die ohnehin nur die Besten, die Fleißigsten, die Engagiertesten bekommen können. Sie haben ja alles richtig gemacht. Nur von allem halt leider etwas zu viel. Es ging ja nicht anders, die Umstände, die Firma, der Betrieb, das Geschäft, die Familie. Ach ja. „Burnout ist die Krankheit des entfesselten unternehmerischen Selbst, dem ständig eine Zielvereinbarung mit sich im Nacken sitzt“, sagte neulich Christoph Bartmann in der Aula des SWR 2, und er nennt sie „die Krankheit des modernen Angestellten“. Mit dem Burnout habe die Krankheit des „Genussarbeiters“ die Bühne betreten. Ich arbeite, also bin ich. Ich arbeite viel, also bin ich mehr. Ich arbeite unaufhörlich, also bin ich Spitze. Die Sucht des Workaholics findet Anerkennung über Anerkennung, innen und außen. Die ganze Ichwichtigkeit wird mit Hilfe eines unersättlichen Ichideals unaufhörlich in die Höhe geschraubt, bis die Luft dünn wird und die Lebensenergie sich in Tinnitus, Bluthochdruck, Herzrasen, kalte Schweißausbrüche, Magen-Darmprobleme, Schlaflosigkeit, Antriebslosigkeit, Angst, Niedergeschlagenheit verflüchtigt.

Einmal in der Klinik angekommen, erzählen Burnoutgeplagte gern und ausführlich ihre Geschichte. Da klingt von ferne noch der Stolz über die ungeheure Leistung bis vor kurzem mit. Sie müssten jetzt wohl ein bisschen mehr auf ihr Leben achten. Überhaupt „Achtsamkeit!“ Ich weiß meist nicht, was ich darauf sagen soll. Wer sich nur ein bisschen kurieren will, aber die Ursachen des Burnout nicht bekämpfen kann oder will, wer an seinem Lebens- und Arbeitssystem grundlegend nichts verändert, wer im System bleibt, dem bleibt auch das Syndrom. Und all die geschäftstüchtigen Antistressangebote, das empfohlene positive Denken, Entspannung, linksdrehender Joghurt und Bachblüten, Kurklinik und Marathonlauf sind Teil der Performance dieses unheimlichen Syndroms, in dem alles zusammenläuft und an die Wand fährt.

Das heißt nun nicht, dass Menschen, die in einer totalen Erschöpfung gelandet oder auf dem besten Weg dorthin sind, nicht kompetente Hilfe bräuchten. Nur welche? Es sind bereits 130 (!) brisante Begleiterscheinungen des Burnout-Syndroms bekannt. Allein der Gedanke an mindestens 120 zu entwerfende Gegenmaßnahmen erschöpft schon total. Nur klare Diagnosen weisen auf nachvollziehbar umsetzbare Therapien. Darüber hinaus ist das 4. Gebot ein (An)gebot, sein Leben in Ruhe und  Distanz geregelt neu zu finden.

Es ist ein Irrtum, mit „Burnout“ sei alles klar. Klar ist nur, dass ihm (fast) kein Makel eines psychischen Defektes anhängt.

Damit komme ich ans Ende der Expedition durch dieses Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das Land all der liebenswürdigen, merkwürdigen, sonderbaren, fantasievollen und farbigen Gestalten, die mitten unter uns und ab und zu in Kliniken leben.

Manfred Lütz schreibt in seinem Schlusskapitel zu den Menschen mit psychischen Störungen: „Sie lassen sich nicht uniformieren. Sie erlauben sich verrückte Gedanken. Sie sprengen starre Konventionen. Damit erweisen sie uns alle einen großen Dienst, denn sie halten die humane Temperatur einer Gesellschaft über dem Gefrierpunkt, indem sie nicht nur ein menschliches Gesicht, sondern ganz viele unterschiedliche menschliche Gesichter geben. Psychisch Kranke sind nicht bloß gewöhnlich, sie sind außergewöhnlich. …Nichts Menschliches ist ihnen fremd. Wenn man … erst einmal die unsichtbaren Schranken niedergelegt hat, die immer noch die Normalen von den anderen trennen, wird der Blick frei für diese liebenswürdige und bunte andere Welt, die chaotischer, aber auch fantasievoller, die erschütternder, aber auch existenzieller, leidvoller, aber auch weniger zynisch ist als die glatt lackierte allgemein herrschende Normalität.“

In der Psychiatrie begegnete ich in den Patienten und auch in den Mitarbeitenden nur Originalen, keinen Kopien. Farbige Grenzgänger unserer Gesellschaft, außergewöhnlich, manchmal gewöhnungsbedürftig. Immer echt, nie serienmäßig. Ich begegnete ihnen als Seelsorger. Ich musste keinem erklären, was das ist. Der muslimische Junkie bat mich, bei Gott ein gutes Wort für ihn einzulegen; die aus der Kirche ausgetretene Borderlinerin stritt mit mir über den Sinn des Lebens; der erschöpfte Suchtpatient beklagte sich bei mir über sein Teufelchen im Kopf, das immer seinen Lebensengel vertreibe; die aus dem Osten kommende konfessionslose Karrierefrau, die von Kirche so viel Ahnung hat wie ich vom Komödienstadl der deutschen Volksmusik, kam jeden Freitag in meine Begegnungsgruppe; der sehr eingeschränkte, persönlichkeitsgestörte, ratlose, angepasste, sprachlose Dauerpatient im Maßregelvollzug adoptierte mich zu seinem (Ersatz)vater.

Man muss Seelsorge nicht erklären. Man muss sich nur zur Verfügung stellen und verstehen, was der jeweils andere braucht, wozu er mich jetzt gerade beauftragt und wozu nicht. Man muss bereit sein, mehr hören als reden zu wollen. Das Gehörte formuliert einem dann schon die ansprechende, entsprechende Sprache. Man braucht mehr Herz als Verstand. Aber ohne Verstand verstünde man nichts. Man muss sich hineinbegeben wollen in die so fremden Welten der andern. Nichts wissen, nichts raten, nichts machen. Und dann immer mehr sehen, was ist, anders ist, leidvoll ist, veränderbar ist und was nicht. Kontinuität ist wichtig. Und die Bereitschaft zur Intensität. Zur Verlässlichkeit und zum Verschwiegensein. Kooperationsfähigkeit wird erwartet, weil manche Aufträge der Patienten an die Mitarbeitenden weitergegeben werden sollen. Eine diffizile Angelegenheit, jedesmal.

Dann kann Seelsorge sein und werden, was sie ist: Lebensvergewisserung in ungewisser Zeit und Situation. Lebensorientierung in verfahrener Lage. Halt, wenn der Boden wegbricht. Trost für untröstliche, trostlose Seelen. Befreiung aus unnötigen Zwängen. Ermutigung für völlig Verunsicherte. Gemeinschaft für diejenigen, die allein sind, obwohl viele sie umgeben. Lebensdeutung für diejenigen, die sich auf die Spur kommen wollen, Bilanzarbeit für jeden, der zusammenfassen und neu beginnen will, Zuspruch und Gebet, Predigt und Segen, Vergebung, Lebensrekonstruktion und -neukonstruktion. Auf jeden Fall ist Seelsorge eine professionelle oder semiprofessionelle zwischenmenschliche Beziehung und personale Kommunikation, die viel Arbeit an sich selbst voraussetzt. Wenn sie gelingt, ist es ein Stück Himmel auf Erden, denn Gott ist mit dabei, wo zwei oder drei in seinem Namen zusammen sind, und seine Geistkraft stärkt die Geistesgegenwart, in der Heil und Heilung, Liebe und Friede, Einsicht und Aussicht, Sinn und Hoffnung erfahren werden.

„Sie müssen die Menschen lieben“, sagte ein Mann, als ich vor 20 Jahren aus der Gemeinde in die Krankenhausseelsorge wechselte. Was lieben in der Seelsorge heißt, durfte ich dann lernen und üben. Es war viel Aushalten, Mit-Aushalten dabei und zu den Betroffenen halten, viel stellvertretendes Durchhalten und Offenhalten. So war viel Segen spürbar, der wachsen und reifen ließ, was leben wollte. Seelsorge öffnet den vielen besonderen Welten selbst eine eigene besondere Welt, die transzendiert, darüber hinausdenkt, -fühlt, -wacht und -glaubt. Menschen, die mit ihren psychischen Leiden intensiv leben lernen, sehnen sich nach diesem Raum des Gerechtfertigt- und Angenommenseins, nach der Liebe Gottes, die alles trägt, bewegt und vollendet.

Da ist dann Gewissheit. Irren war menschlich.

Dennoch bleibt: „Es irrt der Mensch, so lang er strebt“; so lässt Goethe Faust sinnieren. Und Lessing weiß: „Mancher hat aus Furcht zu irren, sich verirrt“. „Errare humanum est“, schreibt schon Hieronymus in seinen Briefen. Und Sophokles, Euripides und Hippolytos: „Irren ist des Menschen Los“.

Wir werden weiter irren. Und andere auch. Doch immer wieder werden wir Gewissheit finden, wo wir uns im Geist Gottes menschlich, voller Interesse und Güte und Verständnis begegnen.

Vortrag beim Mitarbeiterfortbildungswochenende der Telefonseelsorge, Ebernburg, am 22. Juni 2012.

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Wolfgang Roth
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