Niemand hat die Absicht, das Alte Testament abzuschaffen

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Dr. Markus Sasse
Hintere Straße 9, 76756 Bellheim

Gedanken zu einer Debatte um die Verbindlichkeit des Alten Testaments

1. Die Debatte

Dieser Titel klingt ironisch oder anspielungsreich, ist aber ganz wörtlich zu verstehen. Durch die Gazetten – aber mehr noch durch die Kommentarforen – geistert seit einigen Monaten die Befürchtung eines Markion redivivus: [1] Der Berliner Professor für Systematische Theologie Notger Slenczka provozierte (2013) und provoziert mit der These, „dass das AT in der Tat, wie Harnack vorgeschlagen hat, eine kanonische Geltung in der Kirche nicht haben sollte.“ [2] Diese im Kontext des theologischen und kirchlichen Mainstreams unerhörte These blieb dann auch erstmal ungehört. Seit Anfang 2015 entsteht eine hoch emotionale Debatte, in der es auch um die Frage geht, ob man überhaupt über Slenczkas These debattieren sollte. Geradezu reflexartig stand der Antijudaismusvorwurf im Raum, der eine inhaltliche Debatte letztlich unmöglich macht. Wer möchte schon gerne, nur weil man einige Anfragen des Beschuldigten für berechtigt hält, öffentlich als judenfeindlich gelten. Entsprechend der Brisanz der These und der durch sie provozierten Reaktionen kam es zu wissenschaftlichen und kirchlichen Distanzierungen bzw. Klarstellungen, zu demonstrativen Verweigerungen und Forderungen der Studierenden nach einer öffentlichen Disputation. [3]

Zurück zum Titel: Notger Slenczka hat nicht die Absicht, das Alte Testament abzuschaffen. In seiner Provokation geht es um die Frage, ob der kirchliche (= evangelische) Umgang mit dem Alten Testament nicht faktisch eine Herabstufung der Verbindlichkeit als Glaubensnorm bedeute. Dieser Umgang sei eben dadurch bedingt, dass man heute nicht mehr annehme (anders als die Kirchenväter, die Scholastik, Luther, Barth, Barmen etc.), dass das Alte Testament in seinem ursprünglichen Sinn Christus verkündige bzw. verheiße. Die Christusverkündigung sei aber der Grund für die Kanonizität. Mit Markion (s.o.) hat das nicht viel zu tun. Bekanntlich hatte jener noch mehr im Sinn als nur die Abschaffung des Alten Testaments. Versuche, das Alte Testament als Glaubensnorm zu relativieren oder gar abzuschaffen, hat es in der Kirchengeschichte immer wieder gegeben: Dazu gehören neben dem schon erwähnten Adolf von Harnack Luthers Umgang mit dem Dekalog, Schleiermachers Vorschlag, das Alte Testament dem Neuen Testament als Anhang beizufügen etc. Auch in der pfälzischen Kirche sollte 1818 „das Neue Testament als Glaubensnorm ausreichen.“ [4] Wichtiger allerdings ist der Hinweis, dass die theologische Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament immer wieder kontrovers diskutiert wurde und wird. Da geht es auch schon mal um Abstufungen im Rang der Verbindlichkeit. Rochus Leonhardt nennt in seinem Diskussionsbeitrag Gerhard Ebeling, Wilfried Joest, Dietz Lange und Falk Wagner. [5] Slenzcka geht allerdings darin über ähnliche Positionen hinaus, dass er das Alte Testament den Rang zukommen lassen will, den Luther den Spätschriften [6] des Alten Testaments bescheinigt hat: „Das sind Bücher, so nicht der heiligen Schrift gleich gehalten, und doch nützlich und gut zu lesen sind.“ Nochmal: Man kann heute theologisch unmöglich behaupten, das Alte Testament verkündige im Ursprungssinn Jesus Christus. Hat man diese Einsicht innerkirchlich und im kirchlich-jüdischen Dialog genügend reflektiert und daraus Konsequenzen gezogen?

Die Debatte ist skandalisiert, emotionalisiert und personalisiert, und das sollte sie nicht sein. So abwegig die Konsequenzen, die Slenzcka formuliert, auch sein mögen, das Thema ist wichtig – auch in meinem Arbeitsfeld, dem schulischen Religionsunterricht. Der höchst amüsante Spott, den Friedrich Wilhelm Graf in der FAZ [7] über alle Beteiligten ausgegossen hat, führt schon eher in die richtige Richtung – auch wenn er nun wirklich nicht dazu beitragen wird, die Situation zu ent-emotionalisieren. Ausgehend von Grafs Kritikpunkten möchte ich die Thesen Slenczkas hinterfragen – unter besonderer Berücksichtigung der Rolle des Alten Testaments im Religionsunterricht.

 

2. Die kirchliche Wirklichkeit: Das Alte Testament im Gottesdienst

Ist die Einschätzung Slenczkas bezüglich des Gebrauchs des Alten Testaments in der evangelischen Kirche überhaupt zutreffend? Hier sollte man die verschiedenen kirchlichen Handlungsfelder einzeln betrachten. Biblische Texte werden nicht nur gelesen, sie werden auch inszeniert. So ist die Verwendung der Texte im liturgischen oder seelsorgerlichen Kontext zu unterscheiden von einer kritischen Lektüre, die im Religionsunterricht oder in der Bildungsarbeit angestrebt wird.

Das Alte Testament war lange in den Predigtreihen unterrepräsentiert. Durch die erneuerte Perikopenordnung, die sich derzeit in der Erprobungsphase befindet, kommt es zu einer bedeutenden Aufwertung der alttestamentlichen Predigttexte. Dass es bei den Predigten über alttestamentliche Texte zu besonderen Problemen käme, konnte ich bislang nicht wahrnehmen. Wer den Anspruch hat, sich über den aktuellen Auslegungsstand auf dem Laufenden zu halten, muss natürlich mit mehr Vorbereitungsaufwand rechnen. Dies hat auch damit zu tun, dass das Alte Testament aufgrund des erheblich größeren Textumfangs trotz der Textvermehrung nur in einer kleinen Auswahl rezipiert wird. Problematischer sehe ich den Umgang mit den Psalmen im Gottesdienst. Die Art und Weise, wie die Psalmen für den Gottesdienstgebrauch bearbeitet werden ist zumindest erläuterungsbedürftig. Das betrifft weniger die Psalmen, die zu kulturellen Texten geworden sind (Ps 23, Ps 90), als vielmehr die „normalen“ Gottesdienstpsalmen, die entsprechend ihrer thematischen Verwendung gekürzt (Ps 137) oder in einen neuen Kontext hinein gebettet werden.

 

3. Die kirchliche Wirklichkeit: Altes Testament und Religionsunterricht

Zur kirchlichen Wirklichkeit gehört auch der von den Kirchen mitverantwortete schulische Religionsunterricht. Dort begegnen die Texte im Kontext von konkreten Glaubensfragen. Allerdings geht es nicht nur darum, welchen Beitrag die Einzeltexte zur Beantwortung dieser Fragen leisten können. So gehört es auch zur Aufgabe kirchlicher Bildungsarbeit, die Art des Umgangs mit den Texten zu reflektieren. Daher sollten im Unterricht auch die von Slenzcka formulierten Probleme thematisiert werden: Wie verwenden wir Bibeltexte im Gottesdienst? Wie lauten die Auswahlkriterien für einen Predigttext? Wie verbindlich sind biblische Aussagen – damals und heute? Ist das Christentum eine Buchreligion? Was war zuerst: die Kirche oder die Bibel? Dies gilt aber auch unabhängig von der Frage nach der Zuordnung von Altem und Neuem Testament. Die Fragestellungen, die Slenzcka mit dem Begriff Kanonizität verhandelt, sind in der kirchlichen Wirklichkeit weitgehend ohne Relevanz. Hier sehe ich enormen Klärungsbedarf.

Im Gottesdienst ist die Bibel Heilige Schrift, d.h. man kann Respekt und Wertschätzung voraussetzen. Das ist im schulischen Unterricht nicht der Fall – angesichts zunehmend heterogener Lerngruppen. Die kirchliche Sozialisation, die Respekt und Wertschätzung vermittelt, geht zurück. In vielen Fällen ist der schulische Unterricht Erstkontakt mit der Bibel – und häufig bleibt es auch der einzige. [8] Was im Gottesdienst Voraussetzung ist, ist in der Schule eine angestrebte Kompetenz. Dabei begleitet die Arbeit an biblischen Texten die Schülerinnen und Schüler von der Grundschule bis zum Abitur. Der Umgang mit den Texten wird dabei Schritt für Schritt „erwachsener“.

Das Alte Testament spielt im Unterricht eine besondere Rolle. Das hat viel mit dem Umfang der Textsammlung und der Entstehungszeit von fast einem Jahrtausend zu tun. Die angesprochenen Themen (Gott, Schöpfung, Mensch, Bund, Kult, Religion und Politik, Ethik, Geschichte etc.) sind noch nicht systematisiert, sondern immer aus der Situation des Textes heraus zu verstehen. Daher können sich die speziellen Antworten der alttestamentlichen Texte im Laufe der Zeit verändern und an die Situation der Adressaten anpassen. Dies ermöglicht eine größtmögliche Offenheit im Weiterdenken der biblischen Inhalte bis in die heutige Zeit. Dogmatische Engführungen haben diesen Reichtum der Texte oftmals verdeckt (z.B. Erbsünde, philosophische Gottesbilder, unsterbliche Seele). Das Alte Testament liefert so etwas wie eine „Sprachlehre des Glaubens“ (Ulrike Schorn) [9], eine eigene Sicht auf unsere Wirklichkeit, die sich von naturwissenschaftlichen, politischen oder ökonomischen Weltsichten unterscheidet. Es gehört zu den zentralen Aufgaben des Religionsunterrichts, für diese Sichtweise zu werben.

Der Berner Alttestamentler Ernst-Axel Knauf bemerkt dazu: „Wir können als Christen das Alte Testament nur lesen, indem wir es zugleich als jüdische Bibel lesen. Insofern müssen wir anerkennen, dass das so genannte Alte Testament – ich spreche lieber von der hebräischen Bibel – bereits eine fertige, abgeschlossene Bibel ist. Ich glaube, dass in diesem Weltentwurf alle existentiellen anthropologischen und theologischen Probleme, die es wert sind, dass man darüber nachdenkt, schon angesprochen sind.“ [10]

Hier treffen historische und didaktische Aspekte aufeinander: Als die alttestamentlichen und die neutestamentlichen Texte zu einem Kanon kompiliert wurden, musste keine neue religiöse Gesamtsicht entwickelt werden. Viele inhaltliche Aspekte haben sich vom Alten zum Neuen Testament nicht verändert. Die meisten Veränderungen und Entwicklungen vollzogen sich bereits vorher – meist innerhalb des alttestamentlichen Schriftkorpus. Es gab für die neutestamentlichen Autoren keinen Grund sich zu bestimmten Themen zu äußern, wenn diese nicht strittig waren. Christliches Profil erhält die Textsammlung nicht durch veränderte Inhalte, sondern durch eine andere durch das Evangelium geprägte heilsgeschichtliche Anordnung der Einzelschriften.

Als Religionslehrer stehe ich vor einer ähnlichen Situation. Das Neue Testament vermittelt die christliche Grundidentität (s.u.), die für die Bildungsarbeit zentralen Themen, die mit der „Prägekraft des Christentums“ in Verbindung gebracht werden [11], begegnen bereits im Alten Testament:

– Der Mensch als ganzheitliches Beziehungswesen mit der Tendenz über sich hinauswachsen zu wollen (Gen 2,4b-3,24),

– die Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf (Gen1,1-2,4a; Jer 10; Hos 11,9; Ps 90,2; Ps 102),

– die daraus resultierende grundsätzliche Skepsis gegenüber menschlicher Herrschaft (Jes 31,3),

– der höchst dynamische Heilswille Gottes, der allen Geboten vorausgeht,

– die Befreiung von Knechtschaft (Ex 20; Ps 77; Ps 105),

– die Verbindung von Gottesliebe und Nächstenliebe (Dtn 6,4ff.; Lev 19,18; Ex 20 / Dtn 5; Jer 7),

– die Verbindung von Gottesdienst und sozialer bzw. persönlicher Gerechtigkeit (Jer 7; Ps 15; Ps 24),

– die Unterscheidung von Person und Tat,

– der Mensch als Bild Gottes mit entsprechenden Erwartungen (Gen 1,26f.; 5,1; Lev 11,44f.; 19,2; Mt 5,48; 1Petr 1,15f.),

– die realistische Einsicht, dass ethisch gutes Handeln nicht zu einem besseren Leben führt (Ps 73; Koh 7,15; 8,14),

– die Notwendigkeit von Umkehr und Erneuerung des Gottesverhältnisses etc. (Jer 7).

Angesichts dieses Befundes ist es angebracht, in diesem Sinne von einer „jüdisch-christlichen Tradition“ [12] zu reden, auch wenn der aus den USA stammende Begriff heute meist von populistischen Politikern verwendet wird, um Muslime zu kränken. Theologisch und didaktisch ist es wichtiger, den Eigenwert der alttestamentlichen Texte angesichts der späteren philosophischen und politischen Transformationen zu verteidigen, als einen Gegensatz zum Neuen Testament zu konstruieren, der historisch abwegig wäre. Dabei geht es nicht nur um die Vermittlung kulturell relevanten Wissens. Die biblischen Inhalte beruhen auf menschlichen Erfahrungen, die das Erlebte mit Gott in Beziehung bringen bzw. sich selbst von Gott her verstehen. Gerade das Menschenbild in seiner komplexen Ambivalenz ist außerordentlich realistisch und eben dadurch auf Hoffnung ausgerichtet. Diese Lebensnähe bietet Anknüpfungspunkte für die Realität der Schülerinnen und Schüler. [13] Darüber hinaus liegen die oben genannten Inhalte nicht einfach in strukturierten Lehrsätzen vor. Sie stammen aus unterschiedlichen Kontexten und äußern sich in verschiedenen Gattungen. Eine offene Systematisierung erfolgt erst im Unterricht in der Arbeit an den konkreten Texten.

Im weiteren Verlauf des Interviews antwortet Ernst-Axel Knauf auf die Frage, was wir mit dem Neuen Testament hinzugewonnen haben: „Das weiss ich auch nicht, auch wenn das etwas ketzerisch klingt. (…) Für mich hat das Neue Testament überwiegend liturgische Bedeutung, als Kultlegende von Kirchenjahr und Eucharistie, aber es löst kein einziges theologisches Problem.“ [14]

Hier würde ich ihm widersprechen. Die neutestamentlichen Autoren haben ungewollt auf lange Sicht erhebliche theologische Probleme verursacht – das ist wahr. Das hat vor allem damit zu tun, dass man sich inhaltlich immer mehr von den frühjüdischen Grundlagen abgekoppelt hat. Liest man das Neue Testament unter Ausblendung der späteren Dogmengeschichte, geht es u.a. um

– die Erinnerung an Jesus von Nazaret, dessen Botschaft vom Reich Gottes und dessen Zuwendung zu den religiös und sozial Vernachlässigten,

– den aktuellen Umgang mit der Heilsgeschichte angesichts des epochalen Wendepunkts der Hinrichtung und Auferweckung Jesu,

– ein neues durch Christus gestiftetes Verhältnis zu Gott,

– die Befreiung von der unheilvollen Herrschaft der Sünde,

– die Verhältnisbestimmung zum zeitgenössischen Judentum, von dem man sich zunehmend entfremdet,

– die neue Existenz in einer Gemeinschaft angesichts der Anfechtungen durch die unerlöste Außenwelt,

– das Abbilden der Gottesbeziehung durch die Einheit der Gemeinde,

– die Motivation, angesichts beginnender Verfolgungen bei der Gemeinde und damit bei Gott zu bleiben.

Der Neuanfang ist epochal, steht aber in vollständiger Kontinuität mit der bisherigen Heilsgeschichte Gottes. Das Christusgeschehen hat in der Tat zu einem neuen Blick auf die später so genannten alttestamentlichen Schriften geführt – allerdings nicht in jeder Hinsicht. Zentrale Inhalte (z.B. in der Anthropologie und in der Gotteslehre) wurden weder umgedeutet noch überboten (s.o.). Aber auch wenn Inhalte der Schriften Israels argumentativ überboten werden (Christologie, Eschatologie; vgl. Joh 1,17), geschieht dies meist als Aktualisierung. Im Übrigen ist Überbietung kein an sich christliches Phänomen, sondern hat frühjüdische Vorstufen (z.B. Kritik an der Tora bzw. Mose in Hi 31; Jer 31) [15] und findet sich auch in der jüdischen Schriftauslegung.

Das sieht Slenczka ganz anders: „Ich würde vorschlagen, das Alte Testament als vorchristliches Buch zu verstehen, das von den ersten Jüngern Jesu und von den ersten Gemeinden als Zeugnis ihrer Gotteserfahrung vor der Begegnung mit Christus vorausgesetzt wird. In den Schriften des Neuen Testaments hingegen sehen wir, wie dieses Zeugnis des vorchristlichen Glaubens an Gott neubestimmt wird und durch die Begegnung mit Christus einen neuen Sinn gewinnt: Der Sinn der Welt ist Jesus Christus (Johannes 1, 1-14; Kolosser 1, 16f.); der Gekreuzigte ist der Gottessohn (Markus 15, 34) und der ‚Herr‘, der Träger des Gottesnamens, von dem das Alte Testament spricht (Philipper 2, 11). Das vorchristliche Selbst-, Welt- und Gottesverständnis, das wir im Alten Testament vor uns haben, wird radikal neubestimmt.“ [16]

Das Alte Testament bekommt durch das Christusgeschehen für die frühen Christen eine zusätzliche Qualität: Jesus ermöglicht ein bestimmtes Verständnis der Schrift (vgl. Lk 24,27; Apg 8,26-40; 2Kor 3,12-18), es wird aber auch erwartet, dass man ohne Jesus bzw. vor dem Christusgeschehen als Jude die Schrift verstehen kann (Joh 3,10; Mk 12,28-34parr). Die Schriften bezeugen Jesus (z.B. Joh 5,39; Lk 24,27.44). Was wird denn bezeugt? Von Jesus ist im Alten Testament nicht die Rede. Bezeugt wird Gottes Herrlichkeit, die im Wirken des Menschen Jesus und im Handeln Gottes an seinem Gesandten, Christus, Sohn, Menschsohn erfahrbar wurde (2Kor 4,6; Joh 1,14). Diese Herrlichkeit wurde schon vor Jesus in verschiedenen Epochen der Heilsgeschichte wahrgenommen und gedeutet. In Jesus diese Herrlichkeit repräsentiert zu sehen, ist das Hauptargument für seine Messianität. Die Pointe lautet: In Jesus kommt nichts Neues, sondern etwas ganz Altes. Das Proprium des christlichen Glaubens ist keine neue religiöse Idee, [17] sondern die einzigartige Verdichtung der alttestamentlichen Heilstraditionen auf den konkreten Menschen Jesus aus Nazaret.

Der Religionsunterricht versucht in diese Argumentationsstruktur einzusteigen: Was hatte dieser Jesus an sich, dass man ihn in diesen alttestamentlichen Kategorien gedeutet hat? Welchen Eindruck hat er auf die Menschen damals gemacht, dass sie Gottes Handeln in ihm erkannten bzw. diesen Eindruck mit Hilfe der Heiligen Schriften erinnerten? Wie konnten sein Tod und seine Auferweckung von seinen Anhängern als typisches Heilshandeln Gottes erfahren und erfolgreich verbreitet werden? Diese Fragen sind nicht einfach historischer Natur, sie führen zur Frage nach der Wahrheit der Religion, die sich (zu Recht oder zu Unrecht) auf Jesus Christus beruft: War Gott in diesem Menschen am Werk, um die Menschheit mit sich zu versöhnen? Es geht dabei auch um die Frage nach Gott. Erst eine intensive Beschäftigung mit den alttestamentlichen Texten ermöglicht es, in der Auferweckung Jesu eine typische Handlung Gottes zu sehen.

Zwei weitere typische Merkmale des Alten Testaments sind für den Religionsunterricht von Bedeutung: Bildung und Geschichte. Der Bildungsaspekt des christlichen Glaubens muss nicht erst von außen auf die Schriften übertragen werden. Das Alte Testament und der TaNaK enthalten Bildungsstrategien, rufen zur pädagogischen Weitergabe zentraler Inhalte auf, verdeutlichen an konkreten Beispielen die Komplexität des Gottesverhältnisses. Dies betrifft besonders das Deuteronomium, aber auch das weisheitliche Schrifttum sowie viele narrative und poetische Texte mit einem hohen Identifikationsgrad. Die Bibel ist ein Lernbuch. [18] Dies gilt sowohl historisch als auch didaktisch. [19] Beide Kanonteile bieten nicht nur Inhalte, sondern sind auch an deren pädagogischer bzw. didaktischer Umsetzung interessiert. Das Alte Testament ist nicht nur die inhaltliche Grundierung des Neuen, sondern auch die didaktische Grundierung. Damit verbunden ist der Geschichtsbezug beider Teile des christlichen Kanons. [20] Wegen dieses Geschichtsbezugs ist Erinnerungsarbeit notwendig. Zentrale Werte sind an geschichtliche Entwicklungen gebunden, Offenbarungsinhalte sind konkret und personenbezogen. Dies hat Konsequenzen für die Verbindlichkeit. Es geht nicht um das buchstabengetreue Anwenden biblischer Aussagen. Verbindlichkeit ist nur im Modus der Auslegung zu haben. Als ausgelegte Texte, die oftmals selber das Ergebnis innerbiblischer Auslegungsprozesse sind, sind sie verbindlich.

 

4. Die Frage nach den Adressaten: Judentum und Kirche

Dass ich aus Slenczkas Anfragen für meine Arbeit andere Konsequenzen ziehe, hat etwas mit seiner Behandlung der Adressatenfrage zu tun.

„Sobald sich das Bewusstsein ausbildet, dass dieses Buch nicht von der Kirche, sondern von einer Religionsgemeinschaft handelt und zu ihr spricht, von der sich die Kirche getrennt hat, wird das Verhältnis der Kirche zu diesem Schriftenkorpus hochproblematisch: Es handelt sich eben von vornherein nicht mehr um ein unmittelbar in die eigene Geschichte hineinredendes Buch, sondern um die Identität stiftende Urkunde einer anderen Religionsgemeinschaft. Dieses Bewusstsein der Unterscheidung von Kirche und Judentum als zweier Religionsgemeinschaften hat sich – jedenfalls in der abendländischen Christenheit – durchgesetzt und auch in der Deutung des Verhältnisses der Urchristenheit zum zeitgenössischen Judentum niedergeschlagen. Damit wird aber das Alte Testament zu einem Dokument einer Religionsgemeinschaft, die mit der Kirche nicht identisch ist. (…) Damit ist aber das AT als Grundlage einer Predigt, die einen Text als Anrede an die Gemeinde auslegt, nicht mehr geeignet: Sie – die christliche Kirche – ist als solche in den Texten des AT nicht angesprochen. Sie kann im gemeindlichen Gebrauch diese Texte unter dem hermeneutischen Schlüssel der neutestamentlichen Texte aneignen, unterscheidet sie aber auch in der traditionellen Gestalt der Theologie als Altes vom Neuen Testament. Unter den Bedingungen historischer Arbeit wird sie dieses Schriftenkorpus allerdings als Produkt und Identitätsgrundlage einer religiösen Gemeinschaft verstehen, von der sich die Alte Kirche zunehmend unterschieden hat und der gegenüber sich die Alte Kirche ein Korpus kanonischer Texte gegeben hat, das fortan auch die Grenzbestimmungen der Rezeption und den Schlüssel des Verständnisses des AT an die Hand gibt.“[21]

Die einzelnen Schriften des Alten Testaments haben nicht die Kirche als Adressaten [22] – darin ist Slenczka uneingeschränkt Recht zu geben. Ist es aber überhaupt theologisch sinnvoll, Kanonizität mit der Adressatenfrage zu verbinden. Wer waren denn die Adressaten? Die einzelnen Textsammlungen innerhalb der Schriften Israels haben unterschiedliche Adressaten, je nachdem, wann diese Sammlungen abgeschlossen oder in Geltung gesetzt wurden (z.B. Esra und die Tora als Verfassung Jehuds) bzw. einzelne Gruppen diese Texte nach einer Abspaltung für sich reklamiert haben (z.B. Samaritaner, Essener). Ganz grob könnte man sagen: Die später so genannten alttestamentlichen Texte, die in Gestalt der Septuaginta (als Übersetzung der Diaspora) zum ersten Kanonteil der christlichen Bibel wurden, waren ursprünglich die Heiligen Schriften des Frühjudentums (unter der Einschränkung, dass die Zugehörigkeit einzelner Texte aus dem Bereich der Schriften noch umstritten war). Vom Alten Testament als Schriftensammlung zu reden, ist erst seit der Zeit der Alten Kirche möglich. [23] Zur Zeit der neutestamentlichen Autoren ist die Rede vom Alten Testament ein Anachronismus. Die Kanongrenzen (auch der Begriff Kanon ist eigentlich unpassend) waren noch nicht festgelegt.

Erstadressat der Texte ist das biblische Israel in Gestalt des Frühjudentums. Dies ist nicht einfach mit dem Judentum identisch, auch wenn sich das Judentum in Kontinuität zum biblischen Israel sieht. [24]Das Frühjudentum ist eine Religion, die in ihrer spezifischen Form so nicht mehr existiert. Das rabbinische Judentum und das Christentum (und auch letztlich die Samaritaner) sind aus dem Frühjudentum hervorgegangen. Dabei ist es zu entscheidenden Transformationen gekommen: Das Christentum hat die Zugangsschwelle zu den Heiden gesenkt und letztlich die durch die Tora geregelte frühjüdische Lebensweise aufgegeben. Das Judentum kompensierte den Verlust des Tempels durch die schon im Frühjudentum begonnene Ausweitung der Toragebote auf das alltägliche Leben. Bedingung für die Zugehörigkeit wurde neben den frühjüdischen identity (jetzt boundarymarkers der Glaube an den himmlischen Charakter der Tora. [25] Dass es angesichts dieser unterschiedlichen Entwicklungen der beiden Religionen zu jeweils spezifischen Textverständnissen kommen musste, liegt auf der Hand. Die jüdischen wie die christlichen Lesegemeinschaften des TaNaK bzw. des Alten Testament (und des Neuen Testaments!) sind nicht mit den von den Verfassern bzw. Redaktoren intendierten Rezipienten identisch. Die Differenz zum Judentum besteht daher nicht in der Adressatenfrage. Das Judentum hat andere Identifikationsgrundlagen für die heiligen Schriften, da eine andere Gruppenidentität vorauszusetzen ist. [26] Kirche ist nicht die Fortführung des Volk-Gottes-Verhältnisses unter neuen Bedingungen. Es geht um einen neuen Heilsweg, nicht um einen neuen Bund, der den alten auflöst oder ersetzt. [27]

Viele Probleme, die Slenczka bezogen auf das Alte Testament formuliert, lassen sich auch auf das Neue Testament übertragen. Reden alle neutestamentlichen Texte von der Kirche? Haben alle das Evangelium von Jesus Christus (wie Slenczka es versteht) zum Gegenstand? Die Fremdheitsempfindungen, für die Slenczka meiner Ansicht nach zu Unrecht gescholten wurde [28], gelten doch auch für nicht wenige Texte des Neuen Testaments.

Problematisch erscheint mir auch die Zuweisung des Alten Testaments zur vor- und außerchristlichen Gotteserfahrung:

„Jeweils unsere vor- und außerchristliche Gotteserfahrung wird in der Begegnung mit der Verkündigung von Jesus Christus neubestimmt; das Alte Testament hat für uns seinen Wert darin, dass es uns Worte gibt, unsere Gotteserfahrung, die wir vor und außerhalb der Begegnung mit Christus machen, in Worte zu fassen: Dank für erfahrene Güte in unserem Leben; Erlösungsbedürftigkeit; Leiden unter Gott. Und diese Erfahrung wird in der Verkündigung Jesu Christi neu bestimmt.

Aber das Alte Testament ist noch nicht Zeugnis für dieses Neue. Ich würde vorschlagen, dass wir uns nicht, wie das die bisherige kirchliche Tradition tat, nun von diesem Neuen her zurückwenden auf das AT und dort wiederfinden, was wir in Christus erfahren haben. Es bedarf dessen nicht, dass wir im Alten Testament nun diese neue, christliche, trinitarische Gotteserfahrung wiederfinden und damit dem Judentum das Recht bestreiten, sich auf das Alte Testament zu beziehen.“ [29]

Diese von Slenczka vertretene Einheit von Soteriologie und Christologie, die zugleich eine Neubestimmung der vor- bzw. außerchristlichen Gottes-, Menschen- und Weltverständnis bewirkt, findet m.E. keine Entsprechung in den neutestamentlichen Texten (auch nicht in Offb 21,5; vgl. dazu Jes 43). Die Einheit von Soteriologie und Christologie, die in den neutestamentlichen Texten formuliert wird, ist in allen ihren Ausprägungen theozentrisch (also weder bi- noch trinitarisch) und verbleibt damit in den theologischen Möglichkeiten des Frühjudentums. Und eben darin liegt ihre argumentative Kraft für die Begründung der Heidenmission. Für die Heidenchristen ist die soteriologische Interpretation der Hinrichtung Jesu die Eintrittskarte in die bereits laufende Heilsgeschichte.

Nicht nachvollziehbar ist für mich die kanonische Qualifizierung des Alten Testaments als Vorstufe des christlichen Glaubens. Der durch Erinnerung und Ritual gepflegte Kontakt zu den Vorstufen des jeweiligen Glaubens (als Bekenntnis zur Unverfügbarkeit Gottes) gehört zu den heute so genannten Alleinstellungsmerkmalen des jüdischen und christlichen Schriftverständnisses. In der Vorordnung vor die Propheten und die Schriften wird dies bereits im Frühjudentum zum Ausdruck gebracht. Die entscheidenden inhaltlichen Offenbarungen sind in der Urgeschichte, in der es weder Tempel noch Staat noch Land gab, verortet. Darin liegt die besondere Bedeutung der Tora als Urkunde des Judentums. Sie ist der Maßstab für die Beurteilung der mit dem Buch Josua einsetzenden Geschichte des Volkes und seiner politischen und religiösen Führer. Die Perspektive des Exils ist dabei unverkennbar. Im Prozess der Entstehung des christlichen Kanons geschieht etwas Ähnliches: Die in Gestalt der Septuaginta vorliegenden frühjüdischen Schriften werden als Ganzes (nicht nur der Pentateuch) zur Vorstufe des christlichen Glaubens, der sein neues bzw. spezifisches Selbstverständnis in den neutestamentlichen Schriften zum Ausdruck bringt. Das Alte Testament wird dadurch zur Urkunde des frühen Christentums. Die Wahrheit dieser Schriften liegt neben der Apostolizität in der Übereinstimmung mit den später so genannten alttestamentlichen Schriften.

Auch ohne christologische Interpretation ist das Alte Testament der Alten Kirche ein christliches Buch. Es ist dies nicht, weil es sich an Christen richtet, oder im Ursprungssinn über Christus geschrieben wird. Christlich ist es, weil es die Kirchenväter im Rahmen der theologischen Konstruktion einer allgemeinen Heilsgeschichte dem Neuen Testament vorgeschaltet haben. Sie haben damit auch die Leserichtung als christlich verbindlich erklärt. Dass die Kirchenväter das AT nicht verworfen haben, liegt daran, dass sie noch einen Sinn für das Typische im Handeln Gottes hatten. Sie erkannten – wie schon die ersten Christen – im Wirken, im Sterben und in der Auferweckung Jesu die Handschrift des Gottes Israels. Es ging den ersten Christen nicht um das Ob oder Wie oder Wo der Auferstehung, sondern um das Wer. Die angeführten Zeugen sind nicht einfach Gewährsleute für die Historizität der Auferstehung, sie bezeugen vielmehr, dass es das Handeln Gottes war, das Jesus für kurze Zeit ins Leben zurückbrachte, um ihn dann in die göttliche Wirklichkeit zu überführen. Tragisch ist, dass es trotz dieser Entscheidung nicht gelungen ist, ein respektvolles Verhältnis zum Judentum zu entwickeln und theologisch zu begründen. Stattdessen entwickelte sich ein hybrides Selbstverständnis, das jüdischen Lesern die Fähigkeit absprach, die eigenen heiligen Texte verstehen zu können.

Historisch geschah die Kanonentstehung im Prozess vom Wandel von einer Bekehrungsreligion zu einer Traditionsreligion – ein Prozess, der bereits in den paulinischen Gemeinden einsetzte. Immer stärker ging es daher um das Herausbilden von frühchristlichen Normen und Werten. Die Schriften Israels bildeten dafür die religiöse Grundlage (vgl. u.a. Röm 15,4-15). Durch das Neue Testament wird das Alte Testament zu einem religiösen Text. Die in den alttestamentlichen Texten formulierten Werte sind keine frei schwebenden allgemein-menschlichen Werte, sondern an konkrete Identifikationen gebunden. Eine Abkopplung dieser Werte von diesem Kontext führt zu einer Profanisierung dieser Werte.

Die Wahrheit des Christentums liegt damals wie heute in der heilsgeschichtlichen Plausibilität von Altem und Neuem Testament. Alles hängt allerdings an den Voraussetzungen: Wenn ich mit der Betonung der geradezu alles umfassenden Neubestimmung die heilsgeschichtliche Plausibilität bestreite, ist die Position Slenczkas plausibel. Dies käme für mich allerdings in die Nähe einer Selbstkasteiung der eigenen spirituellen Identität: Ein ununterbrochen aktivierter Erlösungsmodus, der die eigene Freiheit mit der unerlösten Welt kontrastiert. Diesen Schritt kann ich allerdings in Slenczkas Ausführungen nicht erkennen. Er verbleibt mit seinem Votum – so provozierend manches auch klingen mag – im Rahmen einer traditionellen Vorordnung des Neuen Testaments vor dem Alten Testament. [30]

Frank Crüsemann hat in seinem viel beachteten Buch das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen Testaments bezeichnet. [31] Aus historischer Perspektive ist dieser Vorschlag plausibel. Ein Aussteigen aus diesem Wahrheitsraum macht ein historisches aber auch systematisch-theologisches Verständnis der frühesten christlichen Texte unmöglich. Ohne ihre alttestamentliche Grundierung werden wichtige neutestamentliche Aussagen zu oberflächlichen Slogans. Zu wissen, wovon man redet, wenn man solche Basisaussagen verwendet, ist eine der wichtigen Aufgaben christlicher Bildungsarbeit und Ziel jeder kompetenzorientierten Bibeldidaktik. Man kann sogar noch weiter gehen: Ohne diesen Wahrheitsraum ist Christologie vollkommen sinnlos [32], es sei denn man verbleibt in den üblichen Bahnen stark vereinfachter Erlösungsreligionen. Anders formuliert: Jesus ist der von Gott gesalbte Christus; das Öl stammt aus dem Alten Testament.

Ist aber dieser historische Zusammenhang, der für die ersten Christen wegen ihrer Zugehörigkeit zum Volk Gottes von zentraler Bedeutung war, auch maßgeblich für eine systematisch-theologische Verhältnisbestimmung der beiden Kanonteile? Bei Kanonizität geht es nicht (nur) um Verständlichkeit, sondern um Verbindlichkeit. [33] Entscheidend ist hier m.E. das gemeinsame Gottesverständnis. [34]Ohne das besondere Gottesverständnis des Alten Testaments hängt das zentrale Heilsereignis des Christentums inhaltlich in der Luft. Bekanntlich hat man früher hier gerne einen signifikanten Gegensatz sehen wollen: Strafender alttestamentarischer (!) Gott, liebender Gott als Vater Jesu. Tendenzverschiebungen im Gottesverständnis haben etwas mit dem Wechsel der Zielgruppe zu tun. So wird die Anrede Gottes als Vater der Gläubigen im Alten Testament vermieden, um sich von den vorderasiatischen Fruchtbarkeitskulten abzugrenzen. Im Neuen Testament gehört die Rede von Gott als Vater der Gläubigen dann zum besonderen Profil von Jesusbotschaft und urchristlicher Verkündigung.

5. Die Heiligkeit der Texte: Kanonizität und Verbindlichkeit

Texte werden heilig durch ihren Gebrauch in einem als heilig erklärten Kontext. Dazu schreibt Friedrich Wilhelm Graf: „Texte sind aber nicht heilig, weil ein Gott sie geschrieben hat, sondern weil fromme Menschen ihnen einst besondere Orientierungskraft zur Selbstdeutung in einer Erinnerungsgemeinschaft zuerkannten.“ [35]

Die Kirchenväter machten sich (und uns) zu Adressaten dieser Schriften, die sie Altes Testament nannten. Ihnen ging es dabei um die Einheit des an seinem Volk und an seinem Sohn Jesus Christus handelnden Gottes (s.o.). Mit dem Abschluss des Kanons reagierten sie auf eine ausufernde literarische Produktion und auf einen allzu unbekümmerten Umgang mit den alten Texten. Heiligkeit hat etwas mit einem geforderten Umgang zu tun. Erstaunlich ist aber angesichts des begrenzenden Charakters der Kanonbildung das hohe Ausmaß an inhaltlicher Pluralität. Die Schriften des Alten wie des Neuen Testaments sind von ihren jeweiligen Endredaktoren auf Auslegung hin angelegt. Hinter diese Grundeinsicht kann man nicht zurückgehen. Der Umgang mit dieser Pluralität verlangt religionspädagogisch zweierlei: die historische Verortung der Einzeltexte mit ihren Bedeutungspotenzialen einschließlich ihrer Rezeptionsgeschichte; aber auch die Vermittlung einer Bibelkompetenz, die die Bibel als Buch mit internen Argumentationsstrategien und heilsgeschichtlichen Dramaturgien wahrnimmt. [36] Was nun die Verbindlichkeit angeht, unterscheidet sich der Umgang mit den biblischen Texten in den unterschiedlichen kirchlichen Handlungsfeldern. Geht es im gottesdienstlichen Kontext (Lesungen und Predigt) um die Vergegenwärtigung der Gottesbeziehung durch die Rückbindung an die Ursprünge, fragt der schulische Religionsunterricht zunächst nach den Inhalten und deren allgemeiner Relevanz. Erst danach sollte man in das Gespräch über mögliche religiöse Erfahrungen von Schülerinnen und Schülern einsteigen. Es geht um die Frage, warum bestimmte Glaubensüberzeugungen und Lebensformen im Christentum verbindlich sind. Hier steht nicht die Identifikation mit den christlichen Glaubensinhalten im Vordergrund. Vielmehr ist darauf zu achten, den Schülerinnen und Schülern Distanzierungsmöglichkeiten zu bieten. Beide Erinnerungsstrategien sind auf Erfahrungen bezogen. In den biblischen Texten Literatur gewordene Glaubenserfahrungen werden auf ihre Anwendbarkeit in der heutigen Situation befragt. [37] Entsprechend gilt: „Aufgabe der Theologie als Modus religiöser Selbstreflexion auf Religion muss es vielmehr sein, dieses innere Erleben zu rationalisieren, d.h. begrifflicher Erschließung, argumentativer Auseinandersetzung und Nachvollziehbarkeit zugänglich zu machen. Nur so lässt sich unter den Bedingungen der Gegenwart die Rede von der Autorität der Schrift verantworten.“ [38]

Theologisch ist das Alte Testament in beide Richtungen zu lesen. Als Altes Testament ist diese Schriftensammlung historisch und hermeneutisch ein christliches Buch, d.h.: es wurde trotz und wegen der jüdischen Herkunft seiner Einzeltexte zur heiligen Schrift des Christentums – allerdings ausschließlich im Doppelpack! Das Bekenntnis zu Christus, durch den der Gott Israels ein neues Gottesverhältnis gestiftet hat, geht jeder Lektüre oder Inszenierung des Alten Testaments voraus. [39]Die heilsgeschichtliche Plausibilität ist aber nur erfahrbar, wenn man die Kanonteile in ihrer kanonischen Reihenfolge liest. Dies gilt sowohl für eine innerkirchliche wie für eine distanzierte Lektüre der Heiligen Schrift.

 

6. Ausblick und offene Fragen

1. Die Debatte um die Kanonizität des Alten Testaments sollte beendet werden, da sie zu viele emotionale Irritationen verursacht hat. Allerdings steckt hinter Slenczkas Votum doch offensichtlich ein Vorschlag zur Frage nach dem Wesen des Christentums. Dass die Zuordnung der Kanonteile für diese Frage von erheblicher Bedeutung ist, ist ebenso offensichtlich. Slenczka betont mit Recht die Eigentümlichkeiten des Christentums gegenüber dem Judentum. Christentum ist etwas anderes als „Judentum light“.

2. Slenczkas Vorschlag hat den Charme der Einfachheit. Als Religionsdidaktiker sehe ich da enormes Potenzial, als Bibelwissenschaftler sträuben sich mir die Haare. Slenzckas Wunsch nach einer klaren und eindeutigen systematischen Zuordnung von Altem und Neuem Testament lässt sich mit historischen Mitteln nicht erfüllen. Die Suche nach der „Mitte der Schrift“ hat bislang nur zu unzumutbaren Engführungen geführt. [40] Dennoch ist sein Vorhaben, das Phänomen Christentum auf eine prägnante Formel zu bringen, sinnvoll und notwendig.

3. Die Behauptung von historisch bedingter Komplexität macht das Christentum im Kontext einer religiös pluralen Lebenswelt letztlich profillos. Historische Wissenschaft allein wird immer zu hoch ausdifferenzierten Ergebnissen führen, die kaum noch ein deutliches Profil erkennen lassen. Die Beziehungen zwischen Bibelwissenschaft(en) und Systematischer Theologie sind hier noch nicht zufriedenstellend gestaltet. [41]

4. Christentum ist mehr als Erlösung und Neubestimmung. Es ist eine wertegeleitete Sicht auf die Wirklichkeit, die ihren Ausgangspunkt in der Erlösung durch das Handeln Gottes durch und an Christus hat. Das Verhältnis von Neubestimmung und heilsgeschichtlicher Kontinuität bleibt ein spannendes Themenfeld.

5. Was versteht Slenzcka eigentlich unter dem Begriff Kanon? [42] Kanon als kulturwissenschaftlicher Begriff ist längst nicht mehr ein theologischer Spezialbegriff. [43]

6. Die Überforderung des Literalsinnes seit der Reformation [44] hat letztlich zu den Problemen geführt, auf die Slenczka eine aus seiner Sicht schlüssige Antwort formuliert hat. Angesichts des unmittelbar bevorstehenden Reformationsjubiläums wäre es mehr als angebracht, die seit mehr als 200 Jahren bestehende Krise des Schriftprinzips erneut zu thematisieren. Was bedeutet sola scriptura unter den Bedingungen der Gegenwart und angesichts des z.T. manipulativen Umgang Luthers mit biblischen Texten? Weder Rezeptionshermeneutik noch die Wiederbelebung des vier- oder mehrfachen Schriftsinnes bieten hier zufriedenstellende Lösungen an.

7. Es stünde dem Protestantismus gut an, sich auf eine Wesensdebatte einzulassen – gerade angesichts einer immer mehr religiös unmusikalisch werdenden Mitwelt. Der spezifische Umgang mit Heiligen Schriften ist zudem ein wichtiges Thema auch in interreligiöser Perspektive.

[1] Vgl. z.B. „Der Gott des Gemetzels. Ein Theologieprofessor fordert die Abschaffung des Alten Testaments“(http://www.faz.net/-gpg-82ehv ). Zum Problem vgl. auch Ludger Schwienhorst-Schönberger: Die Rückkehr Markions, in: communio / IKaZ 44 (2015), 286-302.

[2] Notger Slenczka: Die Kirche und das Alte Testament, in: Elisabeth Gräb-Schmidt / Reiner Preul (Hrg.): Das Alte Testament in der Theologie (Marburger Jahrbuch Theologie XXV), Leipzig 2013, 83-119: 83. Der Aufsatz ist verfügbar auf der Homepage von Notger Slenczka unter https://www.theologie.hu-berlin.de/de/st/slenczka-die-kirche-und-das-alte-testament.pdf. Auf der Homepage finden sich auch Reaktionen auf Slenczkas These und Reaktionen auf die Reaktionen: https://www.theologie.hu-berlin.de/de/st/AT

[3] Dazu und was in Berlin und anderswo zu diesem Thema so läuft vgl. die Beiträge auf http://www.theologiestudierende.de/

[4] Klaus Bümlein, Evangelische Kirche der Pfalz (Protestantische Landeskirche), in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_44489 (08.11.2012). Auch erreichbar unter http://www.evkirchepfalz.de/landeskirche/geschichte.html. Es kam bekanntlich anders.

[5] Vgl. Rochus Leonhardt: Viel Lärm um nichts. Beobachtungen zur aufgeregten Diskussion um den Berliner Theologen Notger Slenczka, in: zeitzeichen 6/2015, 13-16. Einen weiteren knappen Überblick bietet Rochus Leonhardt: Grundinformation Dogmatik, Göttingen 22004, 112-120. Darauf verweist auch Friedhelm Hartenstein: Zur Bedeutung des Alten Testaments für die evangelische Kirche. Eine Auseinandersetzung mit den Thesen von Notger Slenczka, in: ThLZ 140 (7/8/2015), 738-751: 739.

[6] In den Medien ist häufig von Apokryphen die Rede, was die Diskussion nur weiter verwirrt, da damit auch die von der Kirche verworfenen Texte der frühchristlichen Zeit bezeichnet werden.

[7] Online unter http://www.faz.net/-gsf-82lvh.

[8] Vgl. Martin Fricke: Biblische Themen, in: Martin Rothgangel / Gottfried Adam / Rainer Lachmann (Hrg.): Religionspädagogisches Kompendium, Göttingen 82013, 374-388: 374; Friedrich Schweitzer: Welche Exegese braucht die Religionspädagogik? Oder: Keine biblische Religionspädagogik ohne religionspädagogische Exegese?, in: JBTh 25 (2010), 265-285: 268f.

[9] Vgl. den lesenswerten Artikel von Ulrike Schorn: Religionspädagogik und Altes Testament (http://www.theo-web.de/zeitschrift/ausgabe-2006-01/Schorn_relpd-END2.pdf )

[10] http://www.forum-pfarrblatt.ch/archiv/2010/forum-nr-8-2010/forumpublicationarticle.2010-03-25.8144400127

[11] Vgl. Wolfgang Huber: Die jüdisch-christliche Tradition, in: Hans Joas / Klaus Wiegandt (Hrg.): Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt/Main 22005, 69-92; Thomas Krüger: »Wer weiß denn, was gut ist für den Menschen?« Zur Bedeutung des Alten Testaments für die evangelische Ethik, in: ZEE 55 (2011), 248-261.

[12] So Huber, Die jüdisch-christliche Tradition (Anm. 11).

[13] Vgl. Schorn, Religionspädagogik und Altes Testament (Anm. 9), 131.

[14] Knauf (Anm. 10).

[15] Vgl. Markus Witte: Jesus Christus im Spiegel des Alten Testaments, in: Jens Schröter (Hrg.): Jesus Christus (Themen der Theologie 9), Tübingen 2014, 13-70: 19.

[16] Notger Slenczka: Neuer Sinn durch Christus, in: Evangelische Zeitung 13.5.2015(http://www.dieevangelische.de/dossier-der-woche/detail/nachricht/neuer-sinn-durch-christus.html)

[17] Vgl. Klaus Berger, Ist Christsein der einzige Weg?, Stuttgart 1997, 88-92; Frank Crüsemann: Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel, Gütersloh 2011, 162ff.

[18] Vgl. als Überblick Michael Landgraf: Die Bibel als Lehrbuch, in: Mirjam und Ruben Zimmermann (Hrg.): Handbuch Bibeldidaktik, Tübingen 2013, 71-76.

[19] Vgl. dazu Christian Frevel: Lernort Tora. Anstöße aus dem Alten Testament, in: Norbert Mette / Matthias Sellmann (Hrg.): Religionsunterricht als Ort der Theologie (QD 247), Freiburg, Basel, Wien 2012, 109-137.

[20] Vgl. dazu Konrad Schmid: Der Geschichtsbezug des christlichen Glaubens, in: Wilfried Härle / Heinz Schmidt / Michael Welker (Hrg.): Das ist christlich. Nachdenken über das Wesen des Christentums, Gütersloh 2000, 71-90.

[21] Slenczka, Die Kirche und das Alte Testament (Anm. 2), 118f.

[22] Vgl. zum Folgenden Schwienhorst-Schönberger, Die Rückkehr Markions (Anm.1), 294ff.

[23] Vgl. dazu Hubert Frankemölle: Das Neue Testament als Kommentar? Möglichkeiten und Grenzen einer hermeneutischen Thes aus der Sicht eines Neutestamentlers, in: Franz-Lothar Hossfeld (Hrg.): Wieviel Systematik erlaubt die Schrift? Auf der Suche nach einer gesamtbiblischen Theologie (QD 185), Freiburg, Basel, Wien 2001, 200-278.

[24] Vgl. Rolf Rendtorff, Die Bibel Israels als Buch der Christen, in: Christoph Dohmen / Thomas Söding (Hrg.): Eine Bibel – zwei Testamente: Positionen biblischer Theologie, Paderborn 1995, 97-113: 103f.

[25] Vgl. Luke Neubert: Tora und Identität im rabbinischen Judentum: Ein Beitrag zur Identitätsbildung anhand des Toraverständnisses, in: Eberhard Bons (Hrg.): Identität und Gesetz. Prozesse jüdischer und christlicher Identitätsbildung im Rahmen der Antike (BThSt 151), Neukirchen-Vluyn 2014, 103-137.

[26] Vgl. Bernd Janowski: „Verstehst du auch, was du liest?“ Reflexionen über die Leserrichtung der christlichen Bibel, in: Franz-Lothar Hossfeld (Hrg.): Wieviel Systematik erlaubt die Schrift? Auf der Suche nach einer gesamtbiblischen Theologie (QD 185), Freiburg, Basel, Wien 2001, 150-191: 180.

[27] Vgl. dazu Crüsemann, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen (Anm. 17).

[28] Slenczka, Die Kirche und das Alte Testament (Anm. 2), 119. Dazu auch Hanna Liss: An der Sache vorbei. Eine jüdische Sichtweise zum Streit um Notger Slenczka und das Alte Testament, in: zeitzeichen 9/2015, 42-44: 42.

[29] Notger Slenczka: Die Kirche und das Alte Testament. Das Neue Testament als Wahrheitsraum des Alten – Eingangsstatement zur Podiumsdiskussion Köln 11.06.2015 (https://www.theologie.hu-berlin.de/de/st/vortragkolnendgestalt.pdf), 6.

[30] In diesem Sinne verstehe ich das Votum von Rochus Leonhardt, Viel Lärm um nichts (Anm. 5)

[31] Crüsemann, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen (Anm. 17).

[32] Vgl. Karl-Wilhelm Niebuhr: Schriftauslegung in der Begegnung mit dem Evangelium, in: Ulrike Nüssel (Hrg.): Schriftauslegung (Themen der Theologie 8), Tübingen 2014, 43-103: 63.66-68

[33] Vgl. Hermann Spieckermann: Die Verbindlichkeit des Alten Testaments. Unzeitgemäße Betrachtungen zu einem ungeliebten Thema, in: JBTh 12 (1997), 25-51.

[34] Vgl. dazu Klara Butting: Die Psalmen als Mantel des Messias, in: Ulrich Duchrow / Craig Nessan (Hrg.): Befreiung von Gewalt zum Leben in Frieden / Liberation from Violence for Life in Peace (Die Reformation radikalisieren / Radicalizing Reformation 4), Berlin 2015, 262-279; Niebuhr, Schriftauslegung (Anm. 32), 96f.; Markus Sasse: Neuere Entwicklungen in der alttestamentlichen Forschung. Teil 4: Gesetz und Gnade – Das Alte Testament im christlich-jüdischen Dialog, in evangelische aspekte 4/2012, 34-38.

[35] http://www.faz.net/-gsf-82lvh

[36] Vgl. dazu Thomas Meurer: Die Wiederentdeckung der Bibel als Buch. Zum gegenwärtigen Paradigmenwechsel in der Erforschung des Alten Testaments, in: JRP 23 (2007), 29-37; Markus Sasse: Neuere Entwicklungen in der alttestamentlichen Forschung. Teil 3: Das Buch und die Bücher – oder: Geschichte und Geschichten, in: evangelische aspekte 3/2012, 35-40.

[37] Vgl. dazu weiterführend Jörg Lauster: Schriftauslegung als Erfahrungserhellung, in: Ulrike Nüssel (Hrg.): Schriftauslegung (Themen der Theologie 8), Tübingen 2014, 180-206: 202ff.

[38] Lauster, Schriftauslegung als Erfahrungserhellung (Anm. 37), 185.

[39] Vgl. Spieckermann, Die Verbindlichkeit des Alten Testaments (Anm. 33), 47.

[40] Zum Problem vgl. aus alttestamentlicher Perspektive Manfred Oeming: Viele Wege zu dem Einen. Die „transzendente Mitte“ einer Theologie des Alten ‚Testaments im Spannungsfeld von Vielfalt und Einheit, in: Stefan Beyerle / Axel Graupner / Udo Rüterswörden (Hrg.): Viele Wege zu dem Einen. Historische Bibelkritik – Die Vitalität der Glaubensüberlieferung in der Moderne (BThSt 121), Neukirchen-Vluyn 2012, 83-108.

[41] Vgl. Jörg Lauster: Erfahrungserhellung. Zur Bedeutung der Bibel für die Systematische Theologie, in: JBTh 25 (2010), 207-220; Konrad Schmid: Sind die Historisch-Kritischen kritischer geworden? Überlegungen zu Stellung und Potential der Bibelwissenschaften in der Theologie, in: JBTh 25 (2010), 63-78.

[42] Vgl. Leonhardt, Viel Lärm um nichts (Anm.4), 15f.

[43] Vgl. Georg Steins: Der Kanon ist der erste Kontext. Oder: Zurück an den Anfang, in: BiKi 62 (2/2007), 116-121: 117.

[44] Vgl. dazu Schwienhorst-Schönberger, Die Rückkehr Markions (Anm.1), 289f.

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