Wolfgang Huber: Gerechtigkeit und Recht.

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Grundlinien christlicher Rechtsethik,
Gütersloh: Christian Kaiser / Gütersloher Verlagshaus, 1996, 480 Seiten, 98,- DM.

Prof. Dr. Matthias Heesch
94030 Passau

Die Beziehungen zwischen christlicher Religion und Recht sind schon ausweislich des biblischen Zeugnisses mannigfaltig. Rechtsdenken hat auch die Geschichte des Christentums zu einem nicht geringen Teil bestimmt. Dies gilt allerdings in unterschiedlicher Hinsicht, wobei sich die Aspekte teilweise entlang der konfessionellen Grenzen näher bestimmen. Der römische Katholizismus geht in gewisser Weise davon aus, daß sich das Ganze der kirchlichen Glaubens- und Sittenlehre parallel dogmatisch-ethisch wie auch juristisch fassen läßt. Das lehramtlich konstatierte Dogma ist auch Element der Rechtssubstanz der römischen Kirche und damit – was in ökumenisch interessierten protestantischen Kreisen gerne verkannt wird – in hohem Maße invariant. Die evangelisch-reformierte Kirche ihrerseits faßt zwar nicht die Substanz des Glaubens bzw. des Ethos in rechtlichen Kategorien, geht aber doch davon aus, daß die Kategorie des Gesetzes sich auch dazu eignet und demzufolge auch dazu angewandt werden muß, das Leben im Glauben zu bestimmen. Dieser sogenannte tertius usus legis wird im Luthertum bestritten, wobei gleichwohl auch lutherischerseits von bestimmten Figuren des Rechtsdenkens Gebrauch gemacht wird: Das Gesetz ist die rechtsförmig auftretende Forderung, den Dekalog zu erfüllen. Das hat eine mehr naturrechtliche und eine mehr individualethische Funktion. Im Sinn des eher naturrechtlich vorgestellten Aspekts, des sg. usus politicus legis, beinhaltet das Gesetz, dessen Substanz im Dekalog niedergelegt ist, zufolge von Röm 2, 15 aber auch den Nichtjuden unmittelbar bekannt ist, die essentiellen Grundlagen des Zusammenlebens im rechtlich geordneten Gemeinwesen, das die Lutheraner als schöpfungsmäßig geordnet verstehen. Der usus theologicus wiederum verweist den Sünder auf die in Christus angebotene rechtfertigende Gnade, indem sie ihn dessen überführt, sich selbst angesichts der Forderungen des Gesetzes, dessen Kern die im ersten Gebot niedergelegte Glaubensforderung ist, nicht rechtfertigen zu können. Damit wird das Gesetz als Implikation des Lebens in der Rechtfertigung aber nach lutherischer Auffassung völlig suspendiert: Zwar lebt der simul iustus et peccator immer noch, soweit er eben Sünder ist, unter dem Gesetz. Soweit er aber nicht mehr Sünder ist, gewinnt das Gesetz wesentlich den Charakter einer Beschreibung dessen, was im christlichen Leben immer schon gegeben ist und auch geschieht und verliert damit letztlich seine Eigenschaft als forderndes Gesetz. So sehr Luther und das Luthertum in politischen Fragen immer legalistisch, ja rechtspositivistisch dachten, so wenig das Gesetz für den Christen, der bis zum Ende der Tage immer auch Sünder und damit eben dem Gesetz unterworfen ist, in politischer oder theologischer Hinsicht seine Gültigkeit verliert, so wenig ist doch die Substanz des Glaubens selbst nach ihrer dogmatischen wie ihrer ethischen Seite von gesetzlicher Beschaffenheit. Der scheinbar paradoxe Befund eines Zusammenfalls von Legalismus und tendentiellem Antinomismus – letzterer jedenfalls soweit geltend, als der Glaube der Gerechtfertigten gemeint ist – der das Luthertum kennzeichnet, findet so seine Erklärung.

Die vorstehend versuchte Skizze zeigt, daß das Problem einer Verhältnisbestimmung von Glaube und Recht einerseits zentrale Bedeutung hat, und daß andererseits trotzdem – oder wohl eher: deswegen – keine allseits und gar interkonfessionell akzeptierten Lösungen vorliegen. Daß also die zentrale theologische Frage einer Verhältnisbestimmung von Glaube und Recht nach wie vor im Streit ist, sichert dem nachfolgend zu besprechenden Werk, das sich aus theologischer Sicht – manches von juristischer Seite liegt vor und wird in dem Buch auch verwertet – mit der Beziehung der theologischen Ethik zum Recht befaßt, ein hohes Interesse. Das gilt umso mehr, als an neuerer theologischer Literatur, die sich des Themas im Sinne eines vollständigen rechtsethischen Entwurfs annimmt, durchaus kein Überfluß besteht.

H.s Prämisse ist, daß das Recht theologisch unter dem Aspekt seiner ethischen Relevanz interpretiert werden muß, daß aber auch umgekehrt Rechtsgeltung nicht unter Absehung von ethischen Fragen konstatiert werden kann. Der Autor bemüht sich, seine auf dieser Grundlage vorgehende Analyse der Fragestellung in den Rahmen der bisherigen rechtsethischen Diskussion einzuzeichnen. Dieser Rahmen ist in unserem Jahrhundert wesentlich geprägt durch die Kontroverse zwischen dem Erlanger Luthertum und Karl Barth. Paul Althaus, Wortführer der Erlanger, hat das Recht aus der Schöpfung abgeleitet. Das Recht entspricht dem Willen des Schöpfers zur Wohlordnung der Schöpfung, die sich freilich unter den Bedingungen der Sünde nicht ungebrochen aufrechterhalten bzw. herstellen läßt. Das positive Recht, wie defizient es auch immer sein mag, hat an diesem schöpfungstheologisch beschreibbaren Wesen allen Rechts Anteil. Für diese Anteilhabe ist die Erfüllung bestimmter ethischer Desiderate nicht entscheidend. Daraus ergibt sich ein Legalismus des Rechtsverständnisses, der die ethische Frage nach der Legitimität nicht mehr stellt (113-118). H. hat aber schon zuvor im Anschluß an den Juristen G. Radbruch die These entwickelt, daß angesichts bestimmter schwerer ethischer Defizite – natürlich nicht jedes beliebigen Desiderats – der Rechtscharakter auch des verfahrensmäßig korrekt zur Geltung gekommenen Rechts zu bestreiten ist. Hierfür bieten die teilweise rechtsförmig bemäntelten Ausschreitungen der totalitären Diktaturen unseres Jahrhunderts Anschauungsbeispiele (80-84 u. ö.). Die Frage der ethischen Legitimität kann also im Rahmen einer legalistischen Position wie der von Althaus nicht wirklich beantwortet werden. H. analysiert nun die Position von K. Barth (119-127 u. ö.): Barth hatte eine Überwindung des lutherischen Legalismus von dem Gedanken einer christologischen Grundlegung des Recht her versucht. Er fragt, woher denn christliche Erkenntnis aller Art überhaupt kommen könne: Sie kann, so lautet die Antwort, nur aus der Christusoffenbarung und ihrer biblischen Bezeugung kommen. Deren Implikation ist aber eine politisch als Stadt verfaßte Gemeinschaft der Gerechtfertigten, wie vor allem Apk. 21 deutlich macht. Wenn also von politisch verfaßter Gemeinschaft christlich-ethisch die Rede ist, dann muß die in Christus neu begründete Gemeinschaft zugrunde gelegt werden. Von hier aus gewinnt, um die bekannte Abhandlung Barths zu zitieren, die Christengemeinde ihre Kriterien, Belange der Bürgergemeinde zu beurteilen. Während die Althaus’sche Position die materialen Implikationen ihres Rechtsverständnisses dem gegebenen Recht entnehmen konnte, erfordert die Position von Barth eine viel weitergehende konstruktive Bemühung. Denn mit dem Verweis auf das Bestehende können die erforderlichen Konkretionen eines an Christologie und Eschatologie anknüpfenden Rechtsverständnisses gerade nicht geleistet werden. Ebenso wie der Rechtspositivismus, mit dem das Erlanger Rechtsverständnis jedenfalls die Affirmation des Bestehenden als Maxime gemeinsam hat, kann auch das Naturrecht, also die These von der Existenz invarianter Grundstrukturen des menschlichen Zusammenlebens, nicht als Quelle materialer rechtsethischer Einsichten dienen. Es ist also die Aufgabe, die H. sich mit seinem Buch stellt, auf der Grundlage eines Ansatzes, der im wesentlichen an den Grundstrukturen der Rechtsethik Barths orientiert ist: – christologisch-eschatologischer Grundansatz mit, freilich nicht unkritischem, Rekurs auf biblisch bezeugte Formen und Maximen von Gemeinschaft (158-166 u. ö.), von daher Zurückweisung von Rechtspositivismus und anderen Formen des Legalismus sowie der Argumentation aus dem Naturrecht – eine konkrete Rechtsethik auszuarbeiten. Das Recht muß in diesem material vordefinierten Zusammenhang dann abgeleitetet-funktional verstanden werden: Es dient einem bestimmten sich Befinden des Menschen in seinem sozialen Umfeld, seine ethischen Prinzipien können im Sinne des Gesagten nicht aus substanzhaft verstandenen Gegebenheiten abgeleitet werden. Aufgabe der Rechtsethik ist mithin eine solche Bestimmung von Recht, die dieses einerseits in seiner Eigenart, einschließlich seiner Unterschiedenheit von persönlichem Ethos, wie auch in seiner Gebundenheit an das persönliche Ethos einschließlich seiner Gestalt als je individuell angeeignetes Ethos verständlich macht (61-72 u. ö.). Erreicht werden soll damit, daß einerseits, wie schon erwähnt, der Legalismus des Rechtspositivismus und der Erlanger Lutheraner mit ihrer Entkoppelung von Recht und Ethos bzw. der Restriktion des Zusammenhangs auf die bloße moralische Grundforderung, daß man sein Handeln eben am Recht zu orientieren habe, ausgeschlossen bleiben. Andererseits soll über Barths am Gedanken der Entsprechung orientierte und im einzelnen recht wenig konkrete Rechtstheologie hinaus eine konkrete christliche Rechtsethik grundgelegt werden, die auch auf sich gegenwärtig stellende Einzelfragen antwortfähig ist (127).

Diese konkrete Antwortfähigkeit der christlichen Rechtsethik soll durch Einbeziehung eines rechtsethischen Theorems geleistet werden, das für heutige Rechtskonzeptionen – jedenfalls unter den Bedingungen freiheitlich-demokratischer Grundverfassungen – zentral ist, nämlich der Menschenrechte (225-286 u.ö.).

Menschenrechte sind Rechte der Einzelnen, die deren Integrität und Entfaltungsmöglichkeiten, einschließlich sozialer und politischer Partizipationsmöglichkeiten, auf der Basis für alle gleicher, garantierter Chancen gewährleisten und regeln. Auch die sozialen Menschenrechte, also die, die Teilhabe am gesellschaftlichen Gesamtgeschehen regeln sollen, sind immer die Rechte von Individuen. Die von J. Galtung u. a. ins Gespräch gebrachte Konzeption von als »Menschenrechte der dritten Generation« firmierenden Gruppenrechten weist H. – mit Recht – zurück (265), weil sich mit dieser Konzeption eine Äquivokation in den Menschenrechtsbegriff einzuschleichen droht, die ins Unklare bringt, daß die Inhaber von Menschenrechten immer Menschen, d. h. Individuen sind, auch dann, wenn es um deren Beziehungen zur Gemeinschaft und um Güter geht, die sich nur gemeinschaftlich realisieren lassen. Aus analogen Gründen weist H. – gleichfalls mit Recht – die Konzeption von Rechten der Natur zurück (312-316, vgl. insg. 301-321): Nur Menschen können Rechte haben, eine Erweiterung des Rechtsbegriffs darüber hinaus würde Unklarheiten in den Begriff eintragen. Die Eigendignität der Natur sollte daher mit den Begriff der »Würde« benannt werden. Diese stellt dann ein Gut dar, dessen Schutz der Rechtsordnung obliegt, das aber nicht selbst den Status eines Rechtes hat.

Die theologischen Wurzeln von H.s Rechtsverständnis kommen besonders klar in seiner Darstellung des Strafrechts aus theologisch-ethischer Sicht zur Geltung. Wegen der in Christus ein für allemal geleisteten Sühne ist das Strafrecht von seiner Funktion, Sühneakte zu schaffen bzw. zu regeln, entbunden (218, 334, vgl. insg. 215-221). Seine Zweckbestimmung ist vielmehr zuerst in der Resozialisierung zu sehen, die ihrerseits dem gesamtgesellschaftlichen Zweck dient, allen Gesellschaftsgliedern ein relativ ungefährdetes Zusammenleben in Ausübung ihrer jeweiligen Rechte zu sichern (337 u. ö.)

Dieser Teilbericht über H.s. rechtsethischen Entwurf macht deutlich, daß es dem Autor tatsächlich gelungen ist, von konsistenten theologischen Grundannahmen her einen nachvollziehbaren Weg zur ethischen Konkretion zu beschreiten, die ihrerseits wieder auf ihre theologischen Grundlagen wie auch auf die intendierten Bereiche der sozialen Wirklichkeit hin transparent ist. Daß die dogmatischen Grundlagen der hier gebotenen ethischen Theorie nicht autochthon sind, sondern vielmehr eine bestimmte Interpretation der dogmatischen Grundlegung des Ethischen in der Dogmatik K. Barths zugrundelegen, ist nicht kritisch gegen den Ansatz einzuwenden, denn der Rekurs der Ethik auf die Dogmatik als ihre Voraussetzung entspricht der protestantischen Nachordnung der Ebene des Handelns hinter die des Glaubens und der Gewißheit. Ethik ist Anwendung der Dogmatik und eine solche Anwendung, nach ihren Prämissen, ihrer Ableitung und ihrer Konkretion besonders transparent und nachvollziehbar, liegt hier vor. So gesehen ist H.s Buch im besten Sinne bemerkenswert.

Wenn man Kritik an dem Werk bzw. der darin geäußerten Position anbringen wollte, dann müßte diese die Prämissen betreffen. Es ist ja hervorgehoben worden, daß – akzeptiert man diese Grundannahmen – H.s Argumentation konsistet und überzeugend ist. Das heißt dann auch, daß eine Kritik H.s mehr oder weniger doch mit einem Gegenentwurf aufzuwarten hätte. Das ist natürlich im gegebenen Rahmen nicht möglich. Es sei jedoch abschließend auf zwei Zusammenhänge hingewiesen, die Einwände gegen H.s Ansatz begründen könnten:

a) Das Verfahren der Rückkopplung eines ethischen Entwurfs an dogmatische Prämissen, die außerhalb des ethischen Entwurfs selbst liegen, ist, wie gesagt, als solches nicht zu beanstanden. Gleichwohl kann es in diesem Zusammenhang geschehen, daß ungelöste erkenntnistheoretische und dogmatische Fragen als ungelöste von der dogmatischen Ausgangsposition in die ethische Konkretion übernommen werden. Das ist m. E. in dem hier zu besprechenden Werk geschehen, indem Barths Konzept der Analogie qua Entsprechung (124-127) zugrundegelegt wird. Dieses Konzept hat eine wesentliche Wurzel in einer bestimmten, durch die neukantianische Platoninterpretation Paul Natorps und Heinrich Barths geleiteten Deutung der antiken Philosophie und ihrer theologischen Anwendbarkeit. Eine Kritik dieses Verfahrens ist hier natürlich nicht möglich. Es ist aber darauf hinzuweisen, daß an dieser Stelle, in der Folge ungelöster erkenntniskritischer Fragen, ein zentrales Problem für die ethische Anwendbarkeit von Barths Theologie liegt. Denn argumentiert wird ja mit Hilfe einer Urbild-Abbild-Korrelation, was u. a. die Frage der Erkennbarkeit des Urbildes und gegebenenfalls auch die der praktischen Reichweite solcher Erkenntnisse aufwirft. Es hätte dem weit ins Grundsätzliche ausholenden Werk H.s gut angestanden, den epistemologischen Grundfragen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Das gilt umso mehr, als sich mit dem – von H. zurückgewiesenen – Rechtspositivismus ja die metajuristische These verbindet, eine transzendentale Deduktion der Gültigkeit rechtlicher Normen sei unmöglich, weswegen man sich auf die Affirmation der Geltung dessen zu beschränken habe, was eben gilt. Die Unmöglichkeit einer solchen transzendentalen Deduktion soll hier, durchaus in Übereinstimmung mit H., keinesfalls behauptet werden, die These einer solchen Unmöglichkeit ist aber dennoch so abwegig nicht, als daß die Auseinandersetzung mit ihr nicht weitere Überlegungen über die Aneignung von Barths Analogiekonzeption hinaus wünschenswert erscheinen ließe. Auch der Hinweis auf die biblische Rede von Gerechtigkeit erfüllt diese Forderung nicht.

b) Die Trennung von Gesetz und Evangelium, wie sie das Neuluthertum des 19. Jahrhunderts und die Erlanger Theologie des 20. Jahrhunderts vornimmt – wohl doch auf der Linie eines genuin verstandenen Luther – hat jedenfalls den Vorteil, daß weltliche Belange weltlich geordnet werden können. Mit dieser Interpretation der Zwei-Reiche-Lehre, die die Differenz von Gesetz und Evangelium in ethischen Fragen konkretisiert, ist etwa der Althaus’sche Legalismus nicht identisch. Der Intention der Zwei-Reiche-Lehre wurde hier gerade nicht Rechnung getragen. Die von H. mit Recht monierte Ideologieanfälligkeit des Erlanger Legalismus (118) hat ihre Wurzeln darin, daß Althaus (und viele, die ihm gefolgt sind) uneingestanden die Zwei-Reiche-Lehre zugunsten politischen Wunschdenkens verabschiedet hatten. Denn der Kern der Zwei-Reiche-Lehre ist eine funktionale Betrachtung der Gegebenheiten und Erfordernisse im Reich zur Linken, nicht etwa die bedingungslose Affirmation disfunktionaler Fehlentwicklungen, die dort jederzeit und phasenweise in besonderem Maße vorkommen. Die eigentliche Intention der Zwei-Reiche-Lehre, die die rein vernunftgemäße Regelung innerweltlicher Angelegenheiten gebietet, hätte es nahegelegt, die politische Situation der 30er Jahre nach rationalen Kriterien zu prüfen. Das Ergebnis einer solchen Prüfung, wenn sie denn ohne ideologische Prämissen unternommen worden wäre, hätte sicher anders ausgesehen, als die politischen Optionen, die seitens des Erlanger Luthertums, jedenfalls in der Frühphase des »Dritten Reichs«, befürwortet worden sind. Barths Einebnung der Differenz von Gesetz und Evangelium und die in der Konsequenz liegende Zurückweisung der Zwei-Reiche-Lehre bringt die Schwierigkeit mit sich, daß stets mit dem Evangelium argumentiert werden muß, wenn die theologische Ethik etwas zu politischen Fragen sagen will, was unbestreitbar ihre Aufgabe ist. Daß eine solche Argumentationsweise nicht lutherischem Denken entspricht, indem sie den Bereich des Glaubens in den rechtlich-politischen Bereich mit hinein nimmt, ihn also in gewisser Weise verrechtlicht und politisiert, wie sie auch den letzteren Bereich den Normen des Evangeliums unterwirft, sollte die Skizze am Beginn der Rezension deutlich gemacht haben. Dabei geht es nicht um die Behauptung der Möglichkeit eines »unpolitischen« Christentums, sondern um die gegen H. geltend zu machende These, daß auch christlich-ethisch in weltlichen Belangen weltlich argumentiert werden muß. H.s Ethik nimmt also nicht einen (im Titel beanspruchten) schlechterdings »christlichen«, sondern dezidiert den evangelisch-reformierten Standpunkt unter Übernahme von dessen Barth’scher Interpretationen ein. Konkretisierend ist nun zu fragen: Beinhaltet das Evangelium wirklich materiale Einsichten, die sich ohne weitere Annahmen in unsere politische Wirklichkeit transformieren lassen? Ist die »biblische Parteilichkeit« (165 u. ö.), also die Parteinahme für die tatsächlich oder vermeintlich Deklassierten, ein Regulativ für konkretes – politisches oder gar juristisches – Handeln unter den Bedingungen hochkomplexer moderner Gesellschaften? Wer entscheidet überhaupt darüber, zu wessen Gunsten solche Parteinahme geboten ist? Liegt die Definitionskompetenz in solchen Fragen nicht allzu oft in den Händen derer, deren Lobbyisten sich der Mechanismen der im Medienzeitalter nahezu industriell verfertigter Meinungsangebote am besten zu bedienen wissen? Es ist hier nicht die Frage, ob die »Option für die Armen« von H. material richtig bestimmt worden ist. Es ist lediglich zu fragen, ob die Transformation etwa der prophetischen Kritik des Reichtums auf Kosten der Armen in die soziale Wirklichkeit der Industriegesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts gelingen kann, ohne daß weitere politisch-ethische Annahmen dazwischen treten. Diese treten bei H. tatsächlich dazwischen. Es ist aber nicht ersichtlich, daß die im Verlauf des Buches dem Leser nahegelegte Stringenz der Transformation Raum läßt für die ausführliche Begründung der materialen politischen Optionen, die sich in manchen Passagen sogar parteipolitisch zuordnen ließen. Zu nennen wäre etwa die topisch wirkende Kritik an der angeblichen Übermacht der Interaktionskategorie des Marktes in verbreiteten Vorstellungen von Gerechtigkeit (155 f. u. ö.). Dabei geht es hier nicht um eine materiale Beurteilung dieser These. Es geht aber um die Feststellung, daß in diesem hier paradigmatisch herausgegriffenen Kontext bedeutend mehr argumentativer Aufwand erwartet werden kann, als H. bietet, denn mit der Kritik an der Marktwirtschaft wird – mit guten oder schlechten Gründen – das bisher erfolgreichste wirtschaftspolitische Modell in Frage gestellt. Daß im übrigen alle menschlichen Belange dem Markt faktisch unterliegen oder, normativ betrachtet, Marktgesetzen folgen sollten, ist nie ernsthaft behauptet worden, auch nicht von dem gelegentlich als Beispiel eines dezidierten Markt-Ideologen herangezogen ökonomen Hayek (158 u. ö.). Dieser hat vielmehr auf die soziale Abfederungsbedürftigkeit des Marktes hingewiesen1: Weil der Markt alles mögliche, aber eben nicht die Menschenwürde zu bieten hat, muß diese denjenigen, die sich durch marktkonformes Handeln nicht zu behaupten vermögen, durch soziales Eingreifen Einzelner oder des Staates garantiert werden. Die von H. suggerierte Anfälligkeit des Marktmodells für ein markttotalitäres Modell von Interaktion ist also eine These, die weitergehende Begründungen verlangt, als sie H. vorlegt. Die interpretierende Würdigung des Bestehenden – nicht nur unter dem Vorzeichen einer sich gegen, aus welchen Gründen auch immer, Unerwünschtes richtenden »kritischen« Haltung – gehört auch zu den Aufgaben einer Ethik, die es in diesem Sinne nicht nur mit Normen zu tun hat. Insgesamt soll hier, wie gesagt, weder für noch gegen bestimmte politische Optionen Stellung genommen werden. Es geht lediglich um den Hinweis, daß die fundierende Inanspruchnahme eines vor allem im Punkt der Konkretisierbarkeit unter den Bedingungen der Moderne unterbestimmten Argumentationsparadigmas wie der Barth’schen Analogiekonzeption einen schwer kalkulierbaren Bedarf an materialen Hilfsannahmen etabliert, der dann ein Ideologisierungspotential eigener Art mit sich bringt.

Es bleibt also der Hinweis auf ein sehr gut lesbares Buch, das in vielerlei Hinsicht – die Rückbindung ethischen an dogmatisches Argumentieren, die, manche Schwierigkeiten allerdings eher überspielenden als lösende, Stringenz der Ableitung der ethischen Konkretionen aus den zugrunde gelegten Prämissen, nicht zuletzt die Fülle der bedachten Fragen, schließlich die bedenkenswerten und sensiblen Überlegungen des Autors etwa zur Organspende seien ausdrücklich erwähnt – im besten Sinne paradigmatische Bedeutung hat. Dem Grundanliegen des Buches, die ethische Relevanz und die Unabkoppelbarkeit des Rechtes von der Ethik darzulegen, hätte allerdings eine weitergehende Auseinandersetzung mit den Grundsatzfragen, insb. der epistemologischen Begründung und Reichweite des Barth’schen Analogiekonzepts, gut getan. Auch die Beziehung zwischen Fundamentalannahmen und material-politischen Hilfsannahmen, die zu deren Konkretisierung erforderlich sind (und deren Heranziehung als solche keinen Kritikpunkt darstellt), wäre dann deutlicher geworden. Wenn also das Buch in manchen Einzelheiten, bedauerlicherweise auch solchen von grundlegender Bedeutung, einen ambivalenten Eindruck hinterläßt, stellt es doch einen insgesamt beachtliche Beitrag zur ethischen Diskussion dar, dem man innertheologisch und, sollte es das für theologische Werke noch geben, auch über die Grenzen von Theologie und Kirche hinaus eine große, interessierte und kritische Leserschrift wünscht.

Anmerkung:
1 F. a. v. Hayek: Der Weg zur Knechtschaft, dt. 1994, 60. 

Dr. habil. Matthias Heesch
Gesamthochschule Wuppertal
Gaußstraße 20, 42097 Wuppertal
 

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