Jean Grondin (Hg.), Gadamer Lesebuch

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Tübingen, Mohr Siebeck, 1997, XV u. 308 Seiten.

Prof. Dr. Matthias Heesch
94030 Passau

1. Vorüberlegungen:

Die Theologie als Wissenschaft unter den Bedingungen der Neuzeit ist gekennzeichnet durch tiefgreifende Unsicherheiten über Gegenstandsbezug und Methodik. Zwar hat diese Unsicherheit auch innertheologische Gründe, so etwa die gegen die szientifischen Gewißheiten der Orthodoxie gerichtete Erinnerung des Pietismus an die eigene Überzeugung der Orthodoxie über den Charakter der Theologie als sapientia eminens practica’. Mit diesen innertheologi schen Gründen vermengt und zunehmend diese verdrängend sind aber philosophische, näherhin wissenschaftstheoretische Gründe, die sich für die Theologie als Wissenschaft im Laufe der jüngeren Geschichte als Schwierigkeiten erwiesen haben. Diese Gründe ergeben sich aus dem Adäquanzbegriff der Wahrheit, der den älteren Wissenschaftskonzeptionen durchgehend zugrundeliegt. Die adaequatio intellectus ad rem besagt, da8 der Gegenstand als für sich subsistierend den ihn intendierenden Bewußtseinsakt so prägt, daß sich daraufhin die Möglichkeit sachentsprechenden Wissens ergibt’. Schon lange bevor die auf Adäquanz beruhende Konzeption von Wissenschaft insgesamt in eine Krise geriet, deren sachliche Berechtigung hier einstweilen dahingestellt bleibe’, kam es zu einer wissenschaftstheoretischen Krise der Theologie. Der Philosoph Kant hat in seiner Kritik der reinen Vernunft die These vertreten, daß alle objektivierenden Aussagen über Gott ihr Ziel verfehlen müssen, weil die Struktur von Erfahrung gleichbedeutend ist mit der von Endlichkeit und deswegen Einsichten hetreffend Unendliches, mithin Unerfahrbares, nicht möglich sind-‘. Kants Philosophie ist also der krisenhafte und gerade darin konstruktive Ausgangspunkt für die Denkbemühungen des modernen Protestantismus’. Es hat dabei nicht an Stimmen gefehlt, die eine Emanzipation der, wie man meinte, solchermaßen der Philosophie anheimgegebenen Theologie forderten. Dem ist insofern zuzustimmen, als die Theologie sich nicht von der Philosophie – womit ja denn doch letztlich der in Büchern und aktuellem Wissenschaftsbetrieb begegnende Komplex verschiedener Meinungen gemeint ist – die Themen vorgehen lassen darf. Andererseits: Die Evangelische Theologie hat ein Wirklichkeitsverständnis auszuarbeiten und kann sich vermöge des umfassenden Begriffsradius von Wirklichkeit von den Themen und Methoden der Philosophie nicht suspendieren. Das gilt umsomehr, als nach evangelischer Überzeugung zwischen das Subjekt und die Sache eben nicht eine die Sache selbst garantierende Instanz wie das römische Lehramt tritt. Die Evangelische Theologie muß also die ihr zur Explikation anvertraute Sache, die Christusoffenbarung in dieser Welt und für diese Welt, mit den aus der Sache heraus sinnvoll erscheinenden Mitteln zur Darstellung bringen, und das schließt die sachlichen und methodischen Einsichten der Philosophie ein. Die Krise, die durch Kant ausgelöst worden ist, ist mancher von Ressentiments geprägten Ablehnung der »säkularen Moderne« zum Trotz also ein Ruf in dic Sachbezogenheit der Theologie. Sie ist im übrigen gleichzeitig ein Ruf zur Bewahrung des eigentlich Christlich-Theologischen, also ein Appell zur Unterscheidung des aus der Sache heraus Richtigen und Falschen. Dies ist zu bemerken, um die im folgenden zu führende Auseinandersetzung mit einer neuen philosophischen Publikation in einen theologischen Kontext einzuordnen. 

2. Zum Gadamer Lesebuch:

Zu denjenigen Philosophen, die einen großcn Einflu8 auf die Evangelische Theologie in unserem Jahrhundert gewonnen haben, gehört mit Sicherheit Hans-Georg Gadamer. Ausgehend von Überlegungen Schleiermachevs, Diltheys, Heideggers u.a. formulierte er eine hermeneutisch ausgerichtete Philosophie, die in der Gegenwartsdiskussion wohl mehr oder weniger als die hermeneutische Philosophie wahrgenommen wird. Unter Bezugnahme auf die Wende zur Lebenswelt in der Philosophie Diltheys, Heideggers und des späten Husserl bedenkt. G.s hermeneutische Philosophic jene Situation, die immer dann entsteht, wenn bestehende Überlieferungen auf aktuelle Situationen hin verstanden werden sollen, wie dies in der Theologie und in der Rechtsanwendung geschieht, aber auch die Grundlage aller anderen Interpretationsvorgänge bildet (141-171 u.ö.). Gerade wegen der ausdrücklichen Thematisierung der theologischen Verstehenssituation ist G.s Philosophie im Rahmen dieser Disziplin interessant und vielfach rezipiert und bedacht worden. Das Erscheinen einer Auswahlausgabe wird deswegen auch theolo gisches Interesse finden. Der von J. Grondin herausgegebene Band zielt darauf ab, eine Übersicht über G.s Denken und Werk zu vermitteln. Er beinhaltet u.a. eine von G. selbst verfaßte Darstellung seines wissenschaftlichen Werdegangs (1-30) und den Abdruck eines Gesprächs zwischen G. und dem Herausgeber (280-295). In diesen die Person und das wissenschaftliche Wollen des Autors zur Geltung bringenden Rahmen werden Aufsätze G.s gestellt, die sich zentral eben mit der Hermeneutik als Lehre vom methodischen Verstehen des Überlieferten unter Gegenwartsbedingungen befassen. Die Auswahl im Lesebuch setzt dabei drei Schwerpunkte, denen entsprechend auch der vorliegende Bericht unterteilt werden soll: Es werden die Grundvoraussetzungen deutlich, die G. für seine hermeneutische Philosophie macht (im folgenden 2.1.). Es werden weiter zwei relevante Anwendungsgebiete mit einigen Aufsätzen G.s vorgestellt: Einmal die Ästhetik, also die allgemeine Lehre vom Kunstschönen (2.2.) und die Geschichte der Philosophie (2.3.). Mit einer kurzen Gesamtwürdigung soll unser Bericht dann seinen Ahschluß finden (2.4.). 

2.1. Die Grundvoraussetzungen der hermeneutischen Philosophie:
Es ist nicht ganz einfach und mag wohl auch auf anfechtbare Resultate führen, soll aber hier dennoch unternommen werden, aus Texten, die unterschiedlichen Schaffensperioden des Autors angehoren, einen summarischen Querschnitt zu gewinnen. Mit diesem Vorbehalt kann aber gesagt werden, daß G.s zentrale Frage, aus deren Beantwortung die Grundlagen seiner hermeneutischen Philosophie gewonnen werden, die nach der Reichweite und Relevanz von Sprache ist. Die Romantik, einerseits, hatte die Relevanz sehr eingeschränkt: Das wirklich Seiende – damals weitgehend hewußtseinstheoretisch bestimmt – wird sprachlich nicht erreicht (141). Andererseits aber soll, wohl in Aufnahme von Motiven Wittgensteins und des späteren Heidegger, die Gleichsetzung von im Verstehen präsentem Sein (und von anderem zu reden, ist nicht sinnvoll) und Sprache gelten (285). Die hermeneutische Philosophie hat sich also auseinanderzusetzen mit der Beziehung zwischen Macht und Ohnmacht unseres Denkens und seiner Begriffe, die ja nie anders als sprachlich gegeben sind. G. wählt seinen Ausgangspunkt zur Lösung dieser Frage wiederum beim späteren Heidegger: Als wahres Wort soll das Wort vom Sein her bestimmt sein, es ist also die Erschlossenheit des Seins (123). Aus dieser Annahme ergibt sich eine gewisse Offenheit nach beiden Seiten: Einerseits wird vermieden, sprachliches Sein mit dem Sein schlechthin gleichzusetzen’, was auch dadurch verdeutlicht wird, daß die Sachhaltigkeit des Wortes, da0 es also »sagt«, wie G. formuliert, mit dem Akt des Sagens”‘ verbunden wird (124). Auf der anderen Seit aber gilt, daß dennoch die Sinnerschließung von Gegebenem – von dem wiederum abgesehen von Sinn gar nicht die Rede sein kann – sich im Dialog ereignet (30). Die Sprache wie auch die Kunst sind Lebensformen, die den in ihnen tätigen Subjekten nicht verfügbar sind, deren Unverfügbares aber sich gerade erst in diesem kommunikativen und interpretierenden Handeln der Subjekte ereignet (194). Dabei soll jeder Subjektivismus ausgeschlossen sein. Denn, so versteht G. das dialogische Prinzip in der griechischen, insb. Platonischen Philosophie, das Sprechen bedingt ein Leben der Subjekte in der thematischen Sache (204). Der isolierte Sachverhalt des als Bewußtsein gedeuteten Subjektes bleibt dabei ganz außer Betracht. Gerade weil das so ist, ist die sprachlich erschlossene Lebenswelt aller technischen Kunstwelt vorgängig und überlegen (205). Das Sprechen und das Kunstwerk haben ihre eigene Authenzität, das in ihnen Präsente ist Wirklichkeit jenseits aller mimetischen Aspekte: Verstehen ist immer ein Wiedererkennen (232). Die Sprache, die dergleichen ermöglicht, beinhaltet mithin einen Inbegriff des Wirklichen (245).

2.2. Das Kunstschöne:

Aus dem Berichteten ging schon die sachliche Nähe G.s zu Platon hervor, wobei vor allem auf die stark betonten Aspekte der Dialogizität und der Wiedererinnerung (mimesis) z.u verweisen ist. Gleichwohl fehlt ein wesentliches Element der platonischen Philosophie, die Ideenlehre. Die systematischen Gründe dafür sind ohne weiteres klar: Die Platonischen Ideen sind in sich statisch, obwohl sie dem endlich-seienden ihr Wesen dynamisch mitteilen’. So entsteht ein Dualismus zwischen unveründerlichem und veränderlichem Sein, den G. als ontologisch an Kant geschulter »moderner« Philosoph natürlich nicht mitmachen kann. Daraus ergibt sich weiter, daß die gesamte Theorie der Mimesis und die von ihr begründete Ablehnung der Dichtung von G. nicht übernommen wird. Hatte Platon die Dichter deswegen aus dem Staat verbannen wollen, weil sie die Mimesis der Mimesis herstellen, also sich dem Wahren der Ideen gegenüher noch weniger annähern als der in der Sinnenwelt befangene Mensch des Alltagslebens”, so muß, bei Ablehnung der Ideenlehre die ganze MimesisTheorie (Erfahrung Abbild von Ideen, Kunst Abbild des Abbilds) unakzeptabel werden. Wahrheit ereignet sich vielmehr im Strom des endlichen Seins. G.s Hochschätzung des Kunstschönen beruht nun darauf, daß er das gro0e Kunstwerk als exemplarischen Fall solchen sich Ereignens von Wahrheit versteht (182f.). Feiert sich nach Platon in der Dichtung die Selbstgenügsamkeit des Endlichen, so wird es sich nach G. im Kunstwerk gerade hinsichtlich seines Wesens transparent. Daraus leitet G. eine gewisse Objektivität des Kunstschönen” ab: Es ist nicht sinnvoll, nach dem darin subjektiv Gemeinten zu fragen, sondern man muß es in gegenwärtiger Interpretation verstehen ( 187). Das Kunstwerk ist also ein für die Selbstauslegung des Daseins besonders geeigneter Anknüpfpunkt. Deswegen ist die hermeneutische Philosophie auch in wesentlichen Teilen Theorie der Kunst. Nun ist es allerdings so, daß G.s Interpretation des Kunstschönen weithin formal ist. Das heißt, die Wahrheit des Kunstwerkes als solche wird bestimmt als seine Funktion innerhalb eines Lebensganzen, das mittels des zentralen Sachverhaltes Verstehen gedeutet wird. Was aber wird mit welchem Ergebnis verstanden? G. sieht natürlich, daß seine Theorie, so sehr sie einerseits von Platon abweicht, doch auch wieder seine Wurzeln dort hat: Denn in der Antike wurden das Gute und das Schöne je durcheinander bestimmt und konkretisiert (107f.), wobei die Meinung vorherrschte, hier apriorische Bestimmungen des idealinvariant gegebenen Guten und seiner Wirkung im Endlichen geben zu können. G. hingegen sieht das Kunstschöne sich in seiner Aneignung je immer wieder neu begründen, so wie die Sprache als Präsenz von Wahrheit im Gespräch sich je immer wieder ereignet (194). Das macht deutlich, daß der Verlust der ontologischen Grundgewißheiten der antiken Autoren ihre Rezipierbarkeit unter den Bedingungen der Moderne einschränkt. Denn eine platonisierende Ästhetik und Sprachphilosophie ohne die Ideenlehre, die die Ideen ja als konkrete Allgemeine darstellt-‘, wird in der angedeuteten Weise formalistisch.

2.3. Über die Geschichte der Philosophie:

Wie schon klar geworden sein dürfte, ist für G. die maßgebliche Quelle die griechische Antike, insb. Platon. Das hat darin seine Begründung, daß Platons Denken, auch die Ideenlehre mehr dialogischen als systematischen Charakter trägt”. G. weist darauf hin, daß Gegenständlichkeit im Sinne eines subsistierenden Aktkorrelats für die Platonische Philosophie nicht besteht, das hierfür verwandt Wort ist yrvngma: Die Gegenstände begründen sich in der ihr Erkennen leistenden dialogischen Interaktion (202). Daraus folgt weiter, daß das antike Denken dem Bereich des Ethos eine gewisse Substantialität zuerkennt (94), was bedeutet, daß die in der Neuzeit gemeinhin streng getrennten Bereiche theoretischen und praktischen Wissens in der Antike nicht streng getrennt waren. Denn, so die Folgerung, die G. aus seiner Interpretation ableitet, Gegenständlichkeit konstituiert sich im Platonischen Dialog wie in der Aristotelischen praktischen Reflexion, der phronesis (über diese: 95). Daraus ergibt sich als weitere Folgerung, daß gegenüber Freiheitsphänomenen die naturalistische Sichtweise abzuweisen ist (203), also etwa die These, menschliches Handeln ließe sich seinem Wesen nach mittels einer naturwissenschaftlich konzipierten Psychologie verstehen: Es sei das Erbe griechischen Denkens, sich solcher Grenzen »objektiven« Denkens bewußt zu sein (202). G. argumentiert von hier aus jedoch nicht nur gegen den »Objektivismus« der modernen Wissenschaft, sondern auch gegen dessen Korrelat, den »Subjektivismus« der transzendental-theoretischen Erkenntnistheorie in der Descartes und Kant-Nachfolge: Das griechische Denken sei »selbstvergessen« gewesen, sei also ein Leben in der dialogisch sich ereignenden Sache des Denkens gewesen (204). Diese »Selbstvergessenheit« sei der Neuzeit abhandengekommen, indem sich das Subjekt als Oberinstanz für alle Erkenntnis gebildet und es mithin an die Stelle des unmittelbaren Gewahrwerdens der Dialogizität und somit immer schon gegebenen Deutung unserer Wirklichkeitswahrnehmung getreten sei (15Ü) ‘. Für die Hermeneutik folgt daraus weiter, da8 die Begründung von Wirklichkeitswahrnehmung qua Dialogizität immer in der Gegenwart des Dialogs stattfindet. Das gilt auch gegenüber Geschriebenem. Die Interpretation im Diskurs der Gegenwart bringt es allererst in die Lage, an einer sinnerschlossenen Wirklichkeitsdeutung mitzuwirken (155 u.ö.). So dient die philosophiegeschichtliche Herangehensweise der Begründung eines hermeneutischen Aktualismus, also der These, daß Sinn sich im, allerdings geschichtlich rückgebundenen, Diskurs der Gegenwart ereignet. 

2.4. Schlußüberlegungen:

Aus dem vorstehenden Bericht kann folgendes als Summe abgeleitet werden: a) Wirklichkeit ist dialogisch, d.h. im Kern sprachlich, verfa8t, wobei die radikale Konsequenz einer Gleichsetzung von Wirklichkeit mit Dialogizität vermieden wird. b) Wirklichkeit ist demzufolge geschichtlich rückgebundene Gegenwart von Interpretationsleistungen. c) Die Entgegensetzung von Subjekt und Objekt und die darauf aufbauende Adäquanztheorie der Wahrheit wird aufgegeben. d) An die Stelle eines Subjektivitätsapriori tritt ein Intersubjektivitätsapriori. Eine systematische Diskussion dieser Thesen würde den gegebenen Rahmen übersteigen”. Es soll daher nur noch andeutungsweise auf folgendes hingewiesen werden: Grundsätzlich zu bezweifeln ist die Theorie vom Intersubjektivitätsapriori.
Diese Theorie liegt zwar im postmodernen Trend der Autlösung epistemischer Gewißheit durch Autlösung von deren Träger, dem Subjekt, gleichwohl mu8 die Frage an den Phänomenen selbst und nicht im Rahmen von Vorannahmen welcher Art auch immer entschieden werden. Was aher ist denn nun die grundlegende Phänomenalität. Doch wohl folgender Sachverhalt: Ich, das Subjekt, finde mich inmitten meiner Umwelt, aber doch finde ich mich konsistent als mich selbst. Ich bin in meiner Welt, in der mir die Anderen begegnen, als die mir Gleichenden, zugleich aber auch unendlich Abständigen. Letzterer Sachverhalt wird vor allcm daran deutlich, daß Subjekte gegeneinander nicht erschlossen sind. Ich höre zwar, was mir ein anderer sagt, aber wie er es genau meint, welche subjektiven Bestimmtheiten des Erlebens dahinter stehen, ist mir nicht erschlossen.
Dies ist – abgesehen von Husserls transzendentaler Phänomenologie” – nirgends so deutlich gesehen worden, wie in der Tiefenpsychologie Sigmund Freuds ‘. Weil es dem Therapeuten nicht möglich ist, die Erlebniswelt des Klienten unmittelbar wahrzunehmen, deswegen mu8 die Psychoanalysc auf das vermeintliche materielle Substrat des Bewußtseins rekurrieren. Die von J. Habermas vorgetragene Kritik an den positivistischen Tendenzen der Tiefenpsychologie'” trifft zwar ontologisch gesehen etwas Wesentliches, sieht aber die tiefere Ursache nicht: Die Psychoanalyse muß, um ihren Ansprüchen gerecht zu werden, auf die Möglichkeit authentischer Kenntnisnahme des Subjektes des Anderen zurückgreifen können und rekurriert daher, wegen der von Freud klar gesehen evidenten Unmöglichkeit unmittelbarer Erkenntnis des Subjektes außer mir, auf positivistische Theorien über die Materie und deren Selbstorganisation als das mich und die Anderen verbindende Moment. Als Ergebnis der Forschungen Freuds ist also festzuhalten: 1. These: Psychotherapie setzt authentische Kenntnis des anderen Subjektes voraus. 2. Feststellung: Diese ist in unmittelbarer Wahrnehmung unmöglich. 3. Schluß: Deswegen bedarf es ontologischer Annahmen über das gemeinsame Substrat meiner und der Anderen. Wir haben die These (1.) nicht zu diskutieren, erkennen aber die Feststellung (2.) als richtig an. Der Schluß (3.), da8 eine materialistische Ontologie das leisten soll, was die unmittelbare Wahrnehmung nicht vermag, ist anfechtbar”. Die Resultate psychoanalytischer Forschungen scheinen also eindeutig gegen die Annahme eines Intersubjektivitätsapriori im Sinne der unmittelbaren Transparenz der Subjekte füreinander zu sprechen.
Die obige Skizze von mir als Subjekt in je meiner Lebenswelt läßt sich mithin präzisieren im Sinne der Unvertretbarkeit meiner als Subjekt: Vermöge der kategorialen Differenz zwischen Eigensubjektivität und der Subjektivität der Anderen kann niemand an meine Stelle treten-. Diesen Sachverhalt muß eine philosophische Theorie einholen.
Daraus scheint sich weiter zu ergeben, daß auch die Rede vom konsistenten Objekt nicht obsolet ist. Die Welt erscheint dem in seiner Umwelt und Mitwelt lebenden Subjekt als Inbegriff von Umund Mitwelt, aher gerade darum als nicht verfügbar. Wirklichkeit ist zwar nicht unveränderlich, ihr gegenüber bestehen Handlungsoptionen, aber sie ist im ganzen keineswegs konstruiert-. Ja, es kann überhaupt nur gehandelt werden, weil dem Subjekt eine Welt als konsistente Objektivität gegenübersteht. Diese Welt ist zwar Gegenstand kommunikativen Handelns, aber doch mit zwei wesentliche Einschränkungen: Mein Welterleben ist im Kern (nicht in seiner Gesamtheit) unhintergehbar je meines und nicht durch Kommunikation entstanden. Außerdem gilt, daß sich zwar Wahrnehmung des Objektiven und Deutung faktisch nur in schwer differenzierbare Synthesen finden, daß aber gleichwohl die Wirklichkeit eben sie selbst und nicht ihre Interpretation ist .
. Dialogische Erkenntnistheorien wie die in dem zu besprechenden Werk vorgestellte, haben nun die Tendenz, diesen Schwierigkeiten auszuweichen. Daß es sich um Schwierigkeiten handelt, ist klar: In der Tat ist ja unsere Erkenntnis endlich, irrtumsanfällig, standpunktgebunden und oft genug hinsichtlich des Subjektive aussagekräftiger als hinsichtlich des Objektiven. Kommunikationsaprioristische Grundannahmen scheinen also davon zu suspendieren, die Fragilität und Fehlerhaftigkeit menschlicher Erkenntnis gleichwohl als objektiv ansehen zu müssen. Wenn Wahrheit sich im Dialog »ereignet« und nicht in der Anmessung an die Sache zustandekommt, dann kann die ganze Härte der erkenntnistheoretischen Grundfragen und -schwierigkeiten zugunsten einer Gleichsetzung des kommunikativen Weges mit dem Ziel hintangestellt werden. Dies mag gegenüber G.s differenzierten Analysen des Verstehens eine Vergröberung sein, trifft aber doch eine wesentliche Tendenz der hermeneutischen und sprachanalytischen Philosophie. Weder die kommunikative Struktur von Intersubjektivität, noch die »Abwesenheit« des Gegenstandes in unserer Erkenntnis’-‘ rechtfertigt die Entlastung des Subjektes von der Aufgahe, im Erkennen sich der objektiven Welt gegenüberzustellen: Daß endliches Erkennen – vom Sonderfall der mathematischen und logischen Evidenzen einmal abgesehenen – nie seine Gegenstände in voller Evidenz besitzt, kann die Abwendung vom Ideal der objektiven Erkenntnis nicht ergründen, auch wenn dieses faktisch nie mehr als Teilerfolge erzielt. 

Einleitend war die These aufgestellt worden, daß die Theologie sich von den Erkenntnisbemühungen der Philosophie nicht abkoppeln kann, weil es letztlich um die erkennende Darstellung der einen Wirklichkeit geht. Die Theologie hat es mit Gott als dem transzendenten Grund der endlich-geschichtlich verfaßten Wirklichkeit, wie er sich in Jesus Christus inmitten diese Wirklichkeit, d.h. an einem Punkt der Geschichte, aber mit Relevanz für die ganze Geschichte, erschließt. Wenn es möglich sein soll, diesen Sachverhalt zu erkennen, dann müssen die Regeln objektiver Erkenntnis auch hier gelten. Diese Einsicht hat vor allem Karl Barth immer wieder deutlich herausgearbeitet-. Es gibt, so wird man sagen müssen, kein Christentum ohne Dogmen, also ohne den Aspekt objektivierter Lehre. Die Tatsache, daß keine dieser Lehren in einem begriffsrealistischen Sinne ihren Gegenstand je erreicht, suspendiert nicht davon, Lehren aufzustellen und zu tradieren, also die religiöse Erfahrung in den Kategorien der in dieser Erfahrung intendierten Objektivität zu beschreiben. Das widerspricht natürlich manCH essentials der Gegenwartskultur. Dort gilt als tolerant, ja als einzig aufgeklärt, wer aus den Schwierigkeiten wahrheitsfähiger Rede etwa von Gott als dem transzendenten Weltgrund die Konsequenz zieht, hier einen völligen Skeptizismus obw;ilten zu lassen. Die Vorteile, die aus einer derartigen Sichtweise zu ziehen sind, sind deutlich: Wer nichts sagt, oder jedenfalls sich von der je subjektiven Verantwortung für Aussagen über Objektives suspendiert, kann auch nicht für tatsächliche oder vermeintliche Irrtümer angegriffen werden. G.s Philosophie kann nun die Diagnose nicht erspart bleiben, genau dieser Entlastung des Subjektes von der subjektiven Verantwortung für das intendierte Objektive Vorschub zu leisten. Die theologisch Folgen dieses Ansatzes sind fatal, sie betreffen eine dogmatisch indifferentistische Verfallgestalt des Christentums, die zwar nichts Falsches sagt – aber das um den Preis, am Ende gar nichts mehr zu sagen”. So wird also einer theologischen Rezeption der hermeneutischen Philosophie G.s die Unverzichtbarkeit der erkenntnistheoretischen Grundkategorien Subjekt und Objekt auf dem Gebiet der Theologie entgegenstehen. Von den Risiken, die mit ihnen verbunden sind, von der Beschränktheit und partiellen Irrtümlichkeit aller theologischen Lehre gibt es keine Entlastung. Abgesehen von diesen sachlichen Bedenken beinhaltet das Gadamer Lesebuch aber eine Übersicht über das Schaffen eines der hervorragenden Philosophen der Gegenwart, der mit seinen Einsichten – vor allem der Betonung der Geschichtlichkeit allen Denkens und Verstehen – nicht weniger als mit den dargestellten Schwierigkeiten seiner Theorie auf die Entwicklung von Philosophie und Theologie maßgeblich gewirkt hat. Schon aus diesem Grunde ist die hier behandelte Neuerscheinung sehr zu begrüßen und ihr ein weiter Leserkreis zu wünschen.

Anmerkungen

1 Nachweise hierzu rnit Seitenzahlen im Haupttext.

2 Bekanntlich stammt diese Formulierung von dem orthodoxen Lutheruner D. Hollaz : H. Schmidt, Die Dogmatik der evangelischen lutherischen Kirche, 1983, 27.

3 Dies ist die Auffassung v.a. der kIassischen griechischen Philosophie, bei Platon ausdrücklich thematisiert u.a.: Staat 509c-524d (Sämtliche Werke, dt. 1958,

4, 221-232), von Aristoteles impliziert vorausgesetzt etwa: Metaphysik 980a-983a (Philosophische Schriften dt. 1995, S, 1-7), zum Gesamten vgl.: W. Kranz, Die griechische Philosophie, 1950, 145-236. Die Diskussion um den Adäquanzbegrifl der Wahrheit kann hier nicht wiedergegeben bzw weitergeführt werden. Es sei hier lediglich bemerkt, daß er keineswegs einen naiven Objektivismus voraussetzt, wie vor allem E. Husserl herausgearbeitet hat, vgl. etwa die Überlegungen Husserls über Bewußtseinsakt und -korrelat .E. Husserl, Gesammelte Schriften, 1992,

5, 200-224. Vgl. exemplarisch: W. Welsch, Vernunft, 1995; hierzu kritisch vom Vf.: Das Neueste vom Ich, in PrTh 32/1997, 217-222, insb. 220f. (auch Belege aus dem Werk von Welsch). Einzelheiten dieser These habe ich im Rahrnen eines umfangreicheren Kant-Exkurses mit entsprechenden Belegen aus der Kritik der reinen Vernunft dargestellt: Transzendentale Theorie und religiose Erfahrung, 1990, 25-39.

6 Das gilt mit erstaunlicher Konsequenz und schulübergreifend, vgl. etwa die Darlegungen des Ritichlianers J. Kaftan Dogmatik ‘ 1920, 122-125; über K. Barth: J. F. Lohmann, Karl Barth und dcr Neukantinaismus. 1995, 206-211 u,ö.

7 Dem dient auch der bekannte Vorbehalt am Finale des Tractatus: L. Wittgenstein, Werkausgabe. 1984,1, 85.

8 Dabei handelt es sich also um eine Hundlung, die sprachlich motiviert sein mag, dennoch scheint G. keine völlige Gleichsetzung von Sprache und Handeln zu kennen, weil Sprache immer auf ihr vorausliegcnde Handlungs- und Erfahrungsräume verweist, vgl. etwa 85 ü.ö. 

9 Über die hier sich ergebenden Interpretationsfragen vgl. in Kürze: Kranz. 156f. 

10 Eugen Fink, Die Metaphysik der Erziehung im Weltverständnis von Pluto und Aristoteles, 1970. 101-113.

11 Diese Objektivität meint Unabhängigkeit vom subjektiven Vermeinen des Künstlers. Aber diese Unabhängigkeit ist begründet im Gesamtvorgang der intersubjekiven Interpretation, so daß die reklamierte Objektivität des Kunstwerkes der Auflösung von der Subjektivität korrelierler Objektivität als zentraler Kategorie, von der später noch zu reden ist, nicht widerstreitet. 

12 Kranz, 155 -159 

13 Kranz, 154.

14 Gadamer übernimmt diese These von Heidegger (150), der mit dem Hinweis darauf, daß »Dasein« immer Leben in und mit einer »Urnwelt« umfaßt, den Husserl’schen Cartesianismus als gleichermaßen subjektivistisch (Ignorieren der apriori immer gegebenen intersubjektiven Bezüge) und objektivistisch (Hypostasierung des Lebens des »Daseins« zum Cartesianischen »Bewußtseinsding«) kritisiert: M. Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Bewußtsein, l994, 210-231, 25I-292 (Umweltanalyse und Intersubjektivitätsapriori) 140-182, 213-251 (Kritik an der »rescogitans«-Theorie hei Husserl und Descartes). Die Sprachlichkeit dcs Intersubjektivitätsapriori wird vom frühen Heidegger, an den G. sich hier anschließt, allerdings noch nicht angenommen, G. dürfte hier Heideggers Spätwerk und Autoren der analytischen Philosophie, etwa Wittgenstein, verptlichtet sein. 

15 Vgl. jedoch meinen mit ähnlichen Positionen und deren systematisch-theologischer Interpretation befaßten Literaturbericht; PrTh 32/1997. 217-222, zum Grundsätzlichen v.a. 222. 

16 Vgl. insb. die 5. Cartesianische Meitation: Husserl, Gesammelte Schriften 8/1, 91-155.

17 Hier und im folgenden vgl. vom Vf.: Phänomenologische Psychologie’?, in: NZSTh 37/1995, 205-215. Dort wird auch herausgearbeitet, daß zwischen Tiefenpsychologie und Phänomenologie einige Nähe besteht, wohl auch begründet durch die gemeinsame Schülerfreundschaft Husserls und Freuds bei Franz Brentano. 

18 .I. Habermos, Erkenntnis und Interesse, “1991, 300-318 u.ö. 

19 Eine nähere Diskussion findet sich in dem erwähnten Aufsatz: NZSTh 37/1995, insb. 211-213.

20 Darnit ist natürlich nicht bestritten, daß jedes Subjekt immer schon unhintergehbar in intersubjektiven Bezügen steht, es geht lediglich um die Frage der epistemischcn Relevanz betreffend die unmittelhare Erkenntnis des Erlebens des Anderen. Diese ist nicht gegeben. 

21 In theologischer Hinsicht vgl. die Überlegungen des VF. In dieser Zeitschrift: Lehramt Evangelische Religion, 87/1997, 197-205, insb. 200-202. 

22 Was gegen den sg. Konstruktivismus zu sagen ist. Eine positive Darstellung dieser Richtung bietet etwa: E. v. Glasersfeld, Aspekte des Konstruktivismus, in: G. Rusch, S. Schmidt (Hg.). Konstruktivismus; Geschichte und Anwendungen, 1992, 20-33 und die weiteren Beiträge in diesem Band.

23 Husserl (Gesammelte Schriften 5, 232-234 u.ö.) hat das in seiner Lehre vorn »noetischen Kern«, also der Selbstidentität des im Bewußtseinsakt intendierten Gegenstandes, behandelt.. Es ist darauf hinzuweisen, daß die Fragestellung vom »Idealismus« oder »Realismus« hier gar nicht aufgeworfen ist, sondern lediglich die Gegebenheit des Objektiven im es auffassenden Bewußtsein unter Hintanstellung aller Fragen nach Positivität bedacht wird.

24 Dies hat als wesentliche Schwierigkeit des Erkennens herausgearbeitet: J. Derrida, Grammatologie dt. l994, 244-282 u.ö.: Der Ge genstand entzieht sich unserer Thematisierung, und dies grundsätzlich. Deswegen ist der u.a. von Rousseau hehauptete: Vorrang der unmittelbar Wirklichkeit thematisierenden Rede vor der diese indirekt wiedergebenden Schrift abzulehnen 

25 Vgl. in Kürze: Lohmann, 377-388 und die dort gegebenen Verweise auf Barths Schriften.

26 Zu dieser Frage vgl. vom VF: Kirchliche Lehre und Gesellschaft, in: Die Neue Ordnung 5O/1996,465-470. 

Dr. habil. Matthias Heesch
Gaußstr. 20, 42097 Wuppertal 

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