Ottmar Schreiner (MdB)
Platz der Republik 1, 11011 Berlin
Vorbemerkung
Herzlichen Dank für die Einladung. Es ist sehr ehrenhaft, hier in der einzigen katholischen Universität des deutschsprachigen Raums sprechen zu dürfen.
Bis vor wenigen Monaten wäre mir auf die Frage „Wie hältst Du es eigentlich mit dem ‚Dritten Weg’?“ wohl keine rechte Antwort eingefallen. Vermutlich wäre mir der in den 1960er bzw. 1970er Jahren sehr bekannte und international renommierte tschechoslowakische Wirtschaftstheoretiker Ota Sik in den Sinn gekommen. Er versuchte damals, die jeweiligen Mängel des kapitalistischen Wirtschaftssystems im Westen und des staatsmonopolistischen Systems im Osten zu überwinden und auf diese Weise zur Synthese eines „Dritten Wegs“ zwischen Ost und West zu kommen. Dieser Dritte Weg scheiterte bekanntlich an sowjetischen Panzern. Der „Dritte Weg“ der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland droht nicht an sowjetischen Panzern, möglicherweise aber an seinen inneren Widersprüchen zu scheitern.
Die Politik wurde erst vor einigen Monaten mit dem Thema befasst. Etliche Medien berichteten über den Vorwurf von Ver.di, vor allem das Diakonische Werk der EKD betreibe Lohndumping und verweigere seinen Beschäftigten grundlegende Arbeitnehmerrechte. Dem folgte dann ein Antrag der Linkspartei im Deutschen Bundestag, zu dem der zuständige Fachausschuss für Arbeit und Soziales Ende dieses Monats eine parlamentarische Anhörung durchführt. Die Synode der EKD wiederum verabschiedete Anfang November des vergangenen Jahres ein Kirchengesetz, das die Grundsätze der Arbeitsverhältnisse in der Diakonie festschreiben soll. (Die Überschrift dieses Gesetzes lehnt sich sprachlich an entsprechende Werke des Bundesgesetzgebers an, übertrifft diese sogar noch und heißt: „Arbeitsrechtsregelungsgrundsätzegesetz“). Da die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände inzwischen weit über eine Million Menschen beschäftigen, ist alleine schon diese Größenordnung hinreichender Grund ein öffentliches, d.h. politisches Thema zu sein.
Ich habe mich bei der Vorbereitung auf die heutige Veranstaltung gefragt, in welcher Eigenschaft ich eigentlich spreche. Als Mitglied der Legislative fragt man sich in erster Linie: Gibt es aus deiner Sicht Handlungsbedarf für den Bundesgesetzgeber? Die Antwort lautet schlicht: Ja, aber wenig. Etwas ausführlicher werde ich mich in meinen Eigenschaften als überwiegend an sozialdemokratischem Gedankengut orientiertes politisches Individuum sowie als Katholik äußern. In dieser letzten Eigenschaft habe ich der katholischen Soziallehre Etliches zu verdanken. Der im hier versammelten Kreis einschlägig bekannte und von mir sehr geschätzte Prof. Dr. Oswald von Nell-Breuning sagte vor vielen Jahren einmal in Anwesenheit des daraufhin hochentsetzten Norbert Blüm: „Das Godesberger Programm der SPD ist die Kurzfassung der katholischen Soziallehre“. Zwischen den Eigenschaften zwei und drei gibt es also etliche Überschneidungen.
Die Kirchen und ihre Einrichtungen haben ein vom Grundgesetz geschütztes Recht, die überbetrieblichen Arbeitsbedingungen auf eine besondere Weise zu gestalten: nämlich mit dem (Unternehmens-) Leitbild der christlichen Dienstgemeinschaft. Die Kirchenautonomie ist innerhalb der Schranken der allgemein geltenden Gesetze garantiert. Das Grundrecht auf Selbstverwaltung und Selbstbestimmung der Kirchen kann mit (Grundrechts-) Positionen der Beschäftigten, z.B. aus Artikel 9 GG, konkurrieren. Im Kollisionsfall ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs eine sorgfältige Güterabwägung geboten.
Meines Erachtens fordert niemand aus dem politischen Raum eine Änderung der Verfassung. Das wäre auch töricht. Dann kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass die Kirchen daran festhalten können, die Arbeitsbedingungen auf einem eigenen Weg zu vereinbaren. Im Streitfall entscheiden dann die staatliche Arbeitsgerichtsbarkeit und in letzter Instanz das Bundesverfassungsgericht bzw. der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Auf einem ganz anderen Blatt steht, ob das kirchenrechtliche Instrumentarium angesichts der staatlicherseits massiv veränderten Rahmenbedingungen für soziale Arbeit noch zweckmäßig ist.
Die Kommerzialisierung der sozialen Arbeit
Der Sozial- und Gesundheitsbereich in Deutschland wurde ab Mitte der 1990er Jahre grundlegend umgestaltet. Bis dahin war er ein Teil der politisch gewollten Daseinsvorsorge, die von gemeinnützigen und öffentlichen Trägern umgesetzt wurde. Die Kosten wurden innerhalb bestimmter Grenzen, so wie sie anfielen, refinanziert. Maßgebliches Instrument für die Bezahlung der Personalkosten war der Bundesangestelltentarif (BAT). Dieser regelte meist über genehmigte Stellenpläne auch die Finanzierung staatlicher Institutionen oder von Sozialkassen. Auf diese Weise wurde der gesellschaftliche Preis der sozialen Dienstleistungen bestimmt. Der BAT galt zwar unmittelbar nur für den öffentlichen Bereich; von einigen Besonderheiten abgesehen, wurde er im Ergebnis vom gesamten organisierten Wohlfahrtssektor übernommen. Das galt namentlich auch für die Caritas und die Diakonie, die vor allem bis Ende der 1990er Jahre enorm expandierten. Die Kirchen stellen mit ihren sozialen Einrichtungen einen bedeutenden Teil der Sozialwirtschaft und beschäftigen insgesamt bis zu 1,5 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Damit prägen sie den deutschen Sozialstaat erheblich mit.
Der Anteil der sozialen Dienstleistungen an der Wertschöpfung und der Beschäftigung wird auch künftig weiter zunehmen. Im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung berechnete die Prognos-AG den voraussichtlichen Beschäftigungszuwachs (nur) in den Bereichen Pflege und Kinderbetreuung für unter 3-Jährige bis zum Jahr 2025. Die Studie geht von nachfolgenden Bedarfen aus, die durch den Ausbau sozialer Dienste zu decken sind. Bei den Pflegebedürftigen (in allen Pflegestufen) wird von einer Zunahme von ca. 2,2 Mio. auf über 3,1 Mio. angenommen. Dem entspricht ein (Vollzeit-) Beschäftigungszuwachs von ca. 440.000 Stellen.
Bei der Kinderbetreuung soll sich der Studie zufolge die Anzahl der zu betreuenden Kinder von knapp 420.000 auf ca. 900.000 mehr als verdoppeln. Statt ca. 100.000 werden dann knapp 240.000 Stellen gebraucht. Die beiden Beispiele zeigen, dass die gesellschaftliche Nachfrage nach sozialen Diensten weiter ungebrochen zunehmen wird. Verantwortung für andere, insbesondere für die Schwachen und Armen zu tragen, Anwältin für die Bedürftigen zu sein – das war immer ein zentraler Selbstanspruch der Kirchen. Soziale Arbeit, das muss gute Arbeit sein! Welchen Beitrag können die Kirchen auf einem Feld leisten, das historisch eine einzigartige Domäne christlicher Betätigung war? Ein kurzer Blick zurück muss genügen.
Die Kirchen hatten es zwar bei der Gründung der Bundesrepublik Deutschland abgelehnt, den Weg der freien Ausgestaltung arbeitsrechtlicher Bedingungen in Tarifverträgen zwischen gleichberechtigten und voneinander unabhängigen Vertragsparteien mitzugehen (Zweiter Weg). Auf der Grundlage ihres vom Grundgesetz geschützten Selbstbestimmungsrechts entschieden sie sich für einen Dritten Weg. Auf die Zusage hin, vorbildliche Arbeitsverhältnisse einrichten zu wollen, wurde ihnen eine eigene Regelungskompetenz zugesichert. Die im Dritten Weg für die Lohn- und Arbeitsbedingungen zuständigen Arbeitsrechtlichen Kommissionen verzichteten allerdings für lange Zeit auf eine eigene Regelungskompetenz, übernahmen regelmäßig den BAT und wurden deswegen auch als „teuerste Kopiermaschine“ der Welt verspottet.
Im Kern der politischen Neugestaltung der sozialen Dienste stand die Refinanzierung der Dienstleistungen. Nunmehr wurden nicht mehr die effektiv anfallenden Kosten der Träger erstattet, sondern u.a. Leistungs- und Fallpauschalen eingeführt. Zudem soll bei der öffentlichen Vergabe von Aufträgen nur noch der preisgünstigste Anbieter zum Zuge kommen. Das Kostendeckungsprinzip wurde vom Wettbewerbsprinzip abgelöst. Es war absehbar, dass im stark personalintensiven Sozialsektor der Konkurrenzdruck zwischen den Wohlfahrtsverbänden sowie den neu hinzugekommenen privaten Trägern zu bislang nicht gekannten Belastungen bei den Patienten und Hilfebedürftigen, aber auch bei den Beschäftigten führen musste.
In einer Broschüre des „Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt“ (KDA) vom Oktober 2011 heißt es: „Diese politisch gewollte Ökonomisierung und Kommerzialisierung sozialer Dienste trifft kirchliche Wohlfahrtsverbände an einer empfindlichen Stelle. Christliche Werte – wie z.B. Zeit für ganzheitliche Zuwendung in der Pflege – erzeugen Kosten, die gegenwärtig nicht refinanziert werden und so zu einem Wettbewerbsnachteil führen.“ Diakonie und Caritas bewegen sich in der Tat in einem sehr tiefgreifenden Dilemma: Als unverzichtbarer Bestandteil der sozialstaatlichen Versorgung unterliegen sie – wie andere Anbieter auch – dem staatlich verordneten Preis- und Kostenwettbewerb. Eine bloße betriebswirtschaftliche Anpassungs- und Optimierungsstrategie aber würde die eigenen ideellen Grundlagen der christlichen Wohlfahrtsverbände bedrohen und letztlich auch zerstören.
Der Kern des Konflikts
Der Konflikt ist eine Folge des politisch gewollten und initiierten Wettbewerbs, der in seiner jetzigen Ausgestaltung zu Lasten der Hilfebedürftigen wie auch der im Sozialsektor Beschäftigten geht. Weder die Kirchen noch die Gewerkschaften können die Grundfrage klären; sie können und müssen dabei aber behilflich sein. Die Grundfrage lautet: Wie viel (Geld) sind die sozialen Dienste unserer Gesellschaft wert? Daran schließt sich dann die Frage an, wie viel kostensenkende Lohnkonkurrenz es dort geben soll? Diese Fragen muss die Politik beantworten, die für die Ausgestaltung der (finanziellen) Rahmenbedingungen verantwortlich ist, innerhalb derer dann die Tarif-Parteien – sei es auf dem zweiten, sei es auf dem dritten Weg – zum Zuge kommen. Eines jedenfalls ist klar: Wenn der Wettbewerb sich in einem sehr engen Finanzkorsett abspielt und es zudem an für alle verbindlichen Regeln mangelt, dann ist der Lohndrückerei in besonderem und miserablen Arbeitsbedingungen im allgemeinen Tür und Tor geöffnet.
Ich möchte dies an zwei aktuellen Beispielen aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln illustrieren. Mit Schreiben vom 7.02.2012 teilte mir der Geschäftsführer der Caritas Trägergesellschaft Saarbrücken mbH (drei Krankenhausstandorte) mit, allein beim Caritasklinikum Saarbrücken seien insgesamt jährlich ca. 25.000 Patienten stationär behandelt worden. Für die Arbeitsverhältnisse aller 1.600 Mitarbeiter gelten die Arbeitsvertragsrichtlinien des Deutschen Caritasverbandes. Dies bedeute, dass sich die Vergütung für Ärzte an den Tarifvereinbarungen des Marburger Bundes und die der Pflegekräfte an den Vereinbarungen des TVöD orientierten. Die Personalkosten für die Jahre 2011 und 2012 stiegen voraussichtlich um ca. 8 %; diese seien ohne eine nennenswerte Vergütungserhöhung abzudecken, da die Steigungsrate für die Vergütungspreise (Landesbasisfallwert) im gleichen Zeitraum sich auf minimale 0,3 % belaufe. Ohne ausreichende Preiszuwächse könnten die unabweisbaren Kostenzuwächse nicht refinanziert werden.
Das Schreiben endet mit dem Appell, „nun endlich positive Zeichen für die Krankenhäuser zu setzen und eine schnelle und ausreichende Refinanzierung zu ermöglichen“. Dieses Beispiel ist typisch für das gesamte Feld sozialer Arbeit: Der Grund ist eine sich ständig weiter öffnende Schere zwischen den realen Refinanzierungsmöglichkeiten und den Kosten, die bei personalintensiven Pflegeeinrichtungen vor allem Personalkosten sind. Die Steigungsrate dieser Kosten wird schon seit längerem nicht mehr von den Steigungsraten z.B. der Pflegesätze aufgefangen. Diese Entwicklung bedroht im Rahmen marktradikaler Ökonomisierung sowohl die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten als auch das christliche Selbstverständnis der Einrichtungen.
An dieser Stelle soll als zweites Beispiel der bald 93-jährige FDP-Politiker Walter Scheel zu Wort kommen, der bei Konrad Adenauer Entwicklungshilfe-, dann bei Willy Brandt Außenminister und von 1974 bis 1979 Bundespräsident war. Heutzutage liest man aus gegebenem Anlass oft, die einzige Macht des deutschen Bundespräsidenten sei das Wort. Damit solle Orientierung gegeben werden. Walter Scheel hat das Wort: „Wirken wir daran mit, den Beruf des Pflegers attraktiver zu machen. Ich möchte noch erleben, dass junge Schulabsolventen ebenso stolz den Berufswunsch Pflegekraft äußern wie etwa Bankkaufmann. Es ist doch ein Skandal, dass Deutschland, dieses wohlhabende Land, kein Geld hat, seine alternde Bevölkerung auch außerhalb von Familien würdevoll bis zum Tod zu versorgen! Die Gesellschaft, vor allem aber die Politik hat die Pflicht, sich der Würde der Alten anzunehmen und für sie einen für ganz Deutschland geltenden Lebensentwurf zu formulieren.“ Walter Scheel schließt dann sein leidenschaftliches Plädoyer mit einem Satz von Immanuel Kant: „Die Pflicht gegen sich selbst besteht darin, dass der Mensch die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person bewahre“ (Süddeutsche Zeitung, 4.1.2012).
Sicherlich gibt es ganz erhebliche qualitative Unterschiede zwischen den Pflegeeinrichtungen und deshalb wäre es auch falsch, alle über einen Kamm zu scheren. Aber richtig ist doch auch, dass es in der Kranken- und Pflegebranche ganz erheblich an finanziellen Mitteln mangelt und die Arbeitsbedingungen in vielen Heimen miserabel sind. Es käme auch der kirchlichen Glaubwürdigkeit sehr zugute, wenn sich ihre Repräsentanten gelegentlich mit einem ähnlich starken Weckruf öffentlich zu Wort meldeten – sei es bei den regelmäßigen Verhandlungen um die Kostensätze, sei es bei den ebenso regelmäßigen Gesprächen mit den politisch Verantwortlichen.
Hier ist nicht die Stelle und es mangelt mir auch an den notwendigen Kompetenzen für alternative Vorschläge zur Refinanzierung der sozialen Arbeit. Viel wäre schon gewonnen, wenn die Politik der großen Mehrheit unserer Bevölkerung folgen würde. Sie wünscht sich eine umfassende solidarische Lösung bei der Kranken- und Pflegeversicherung. Beide Versicherungssysteme sollen zu Bürgerversicherungen weiterentwickelt werden. Eine Finanzierung, bei der alle Bürger ihren Einkommen entsprechend einzahlten, würde den Finanzierungsrahmen in beiden Systemen ganz erheblich verbessern.
Wichtig ist auch, dass neben der geänderten Refinanzierung seither der karitative Bereich für private gewinnorientierte Anbieter geöffnet wurde. „Aber wenn etwa im caritativen Bereich die Politik die Rahmenbedingungen so ändert, dass man mit Altenheimen und Krankenhäusern, sogar mit Beratungsstellen und Kindergärten Aktionäre befriedigen kann, dann hat sich etwas Grundlegendes verändert … Dass gemeinnützige Unternehmen im kirchlichen Bereich in Konkurrenz, im Wettbewerb stehen zu Anbietern, die reich werden wollen, das ist eine völlige Veränderung … Diese Veränderung haben alle Parteien mitgemacht und gewollt“ (Kardinal Dr. Reinhard Marx, ZMV, Sonderheft 2010).
Da die Kritik von Kardinal Marx sehr grundsätzlicher Natur ist, soll noch eine weitere Stimme – der britische Wissenschaftler Colin Crouch – zu Wort kommen: „Tatsächlich besteht eine der wichtigsten Errungenschaften des neoliberalen Projekts darin, mehr oder weniger alle Institutionen der Gesellschaft – von Universitäten über Krankenhäuser und Wohlfahrtseinrichtungen bis hin zu Behörden – unter die Verpflichtung zu stellen, so zu agieren, als ob sie profitorientierte Unternehmen wären. An dieser Aufgabe müssen sie jedoch scheitern. Wenn per definitionem nur der wirtschaftlich handelt, der all sein Tun dem Gewinnstreben unterordnet, muss sich jede Organisation, die andere Ziele verfolgt, der Ineffizienz zeihen lassen“ (Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus, Berlin 2011, S. 231 f.).
Diese hier kritisierten Regelungen entstanden in einer Phase des neoliberalen Hochgefühls: Der Markt regelt alles besser und gerechter! Es ist eine Perversion des Denkens anzunehmen, dass eine menschenwürdige Sorge und Pflege von Kranken, Schwachen und Alten in einem vorrangig profitgesteuerten System überhaupt möglich ist, Es mag illusorisch klingen: Die Politik kann einen Fehler korrigieren: Das caritative Feld sollte den gemeinnützigen Anbietern überlassen bleiben!
Es kann nicht verwundern, dass in diesem Spannungsfeld seit geraumer Zeit immer mehr kirchliche Beschäftigungsträger – vor allem aus der Diakonie – ins öffentliche Gerede kamen. Die Vorwürfe und Vorhaltungen bewegen sich entlang der gesamten Bandbreite von prekärer Beschäftigung. Beschäftigte klagen über ständig steigenden Arbeitsdruck und mangelnde Wertschätzung ihrer Arbeit. Mini- und Ein-Euro-Jobs, aber auch Leih- und zeitlich befristete Arbeit finden sich im kirchlichen Bereich genauso wie andernorts. Kostensenkungsstrategien privater Träger werden kopiert, um mit ihnen konkurrieren zu können. Die Stichworte lauten dann: Personalabbau und Lohnspreizung nach unten, Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich, Ausgliederung von Arbeitsfeldern und Kürzung von Sonderzahlungen. Hinzu kommt die kaum noch überschaubare Vielfalt von unterschiedlichen Tarifsystemen im kirchlichen Bereich. Hier besteht ganz allgemein und damit auch für kirchliche Beschäftigungsverhältnisse dringender staatlicher Regulierungsbedarf: Prekäre und nicht existenzsichernde Beschäftigungsverhältnisse müssen eingedämmt und normale Arbeitsverhältnisse gefördert werden!
Die kirchlichen Träger und Akteure sind dabei keineswegs immer nur „Opfer“ objektiver Gesetzmäßigkeiten wie dem Lohnsenkungsdruck. Ein besonderes anrüchiges Beispiel aktiver „Täterschaft“ gab bei der Festlegung des Pflegemindestlohns der damalige Vertreter der Diakonie in der vom Bundesarbeitsministerium eingesetzten Bundespflegekommission. Dieser sorgte im Frühjahr 2010 für Unverständnis und Empörung. Fast alle Kommissionsmitglieder wollten einen Mindestlohn von 9,00 Euro für West- und Ostdeutschland. Als einziger Wohlfahrtsverband verhinderte der Diakonie-Vertreter Arm in Arm mit den privaten Trägern eine entsprechende Anhebung. Es kam dann zu einem unbefriedigenden Kompromiss von 8,50 Euro in West- bzw. 7,50 Euro in Ostdeutschland. Schockierend fanden viele nicht nur, dass der Diakonie-Vertreter zu dieser Zeit Vorstandsmitglied des Verbandes der diakonischen Dienstgeber in Deutschland war, sondern vor allem, dass danach keinerlei selbstkritische Diskussion in der Diakonie stattfand.
Seit geraumer Zeit fliegen angesichts vielfach gewandelter Arbeitsverhältnisse zwischen der Verdi-Gewerkschaft und vor allem dem Diakonischen Werk die Fetzen. Der Streit geht ans Eingemachte, nämlich um die Frage, ob der kircheneigene „Dritte Weg“ im Bereich der sozialen Dienstleistungen noch zeitgemäß ist oder aber von den allgemeinen Regeln des Tarifvertragssystems („Zweiter Weg“) abgelöst werden sollte. Besonders umkämpft ist dabei das Streikrecht, das im Instrumentarium des „Dritten Weges“ keinen Platz findet. „Manchmal klingt es bei der Diakonie so, als habe Jesus selber diesen Dritten Weg gelehrt. So, wie es sich in der Verdi-Rhetorik so anhört, als stünde mit den Diakonie-Tarifen die gesamte europäische Aufklärung samt dem Erbe der Arbeiterbewegung auf dem Spiel“ (Süddeutsche Zeitung, 9.11.2011).
Die Zerklüftung der Tariflandschaft
Ein verbindlicher und allseits akzeptierter Flächentarifvertrag für den Wohlfahrtsbereich existiert schon lange nicht mehr. Als Nachfolger für den BAT („BAT-Staat“) gibt es zwar den Tarifvertrag öffentlicher Dienst (TVöD). In der Anwendungsbreite aber reicht er bei weitem nicht an den BAT heran. Viele Kommunen haben sich in den letzten Jahren aus dem Wohlfahrtssektor zurückgezogen. Das gilt insbesondere für Pflegeheime und Krankenhäuser. Hinzu kommt, dass bei den gewinnorientierten privaten Trägern kaum kollektive Regelungen vorhanden sind. Zwar orientieren sich viele Träger der Caritas immer noch in erheblichem Maße am Regelwerk des TVöD. Umso unübersichtlicher, ja chaotischer ist die Lage im Bereich von EKD und besonders der Diakonie. Hier stehen in einem stark zerklüfteten System höchst verschiedene Regelungen nebeneinander. So vergüten einige Landeskirchen und Diakonische Werke nach wie vor auf dem Niveau des TVöD, andere haben eigenständige Regelungen eingerichtet, wiederum andere die Entgelte abgesenkt oder Beliebigkeitsklauseln eingeführt, um ggf. das jeweils kostengünstigste Arbeitsrecht anwenden zu können. Schließlich existieren, wie zum Beispiel in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz (EKBO) und in Nordelbien seit langem und erfolgreich Tarifverträge mit Gewerkschaften.
Besondere Probleme schafft zudem die „polymorphe“ Organisationsstruktur der Diakonie, die durchaus anarchische Züge trägt. Sie ist der Kirche zwar rechtlich zu-, aber nicht untergeordnet. Was ansonsten durchaus sympathisch sein kann, schafft hier allerdings zusätzlichen Ärger. Vertreter der Diakonie selbst, aber auch der EKD verbundene Wissenschaftler wie z.B. Prof. Dr. Hans Michael Heinig, beklagen zu Recht, dass die daraus folgende Unübersichtlichkeit viele Grauzonen schafft. Es verbleibe der Eindruck von massiven innerkirchlichen Aufsichts- und Kontrolldefiziten. Ebenfalls aus der Diakonie kommen Vorschläge, die Zahl der einschlägigen Arbeitsrechtsregelungen massiv abzusenken und den Bruch kirchlichen Rechts wirksam zu sanktionieren. Das ist nicht neu!
Die bisherigen Versuche, die Diakonie insgesamt stärker zu „verkirchlichen“, sind mangels effektiver Einwirkungsrechte weitgehend fehlgeschlagen. So liegt zum Beispiel dem Bundestag seit Oktober 2007 eine immer noch anhängige Petition zum kirchlichen Arbeitsrecht vor (Aktenzeichen: 1-16-06-10000-032491). Die Petenten sind Mitglieder mehrerer Mitarbeitervertretungen von großen Einrichtungen der Diakonie in Bremen. Sie beklagen u.a., dass für das Kerngeschäft der Unternehmen in erheblichem Umfang Leiharbeiter beschäftigt werden, die zu einem sehr viel niedrigeren Tarif als die Stammbelegschaft entlohnt werden. Diese Praktiken hat der angerufene Kirchengerichtshof der EKD zwar in mehreren Urteilen als unvereinbar mit kirchlichen Einrichtungen erklärt. In der Praxis allerdings blieb alles beim Alten, da kirchlichen Gerichten keinerlei Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Die Petenten bitten darum, dass künftig die staatliche Arbeitsgerichtsbarkeit die Einhaltung des Dritten Weges durch kirchliche Einrichtungen überprüfen kann.
Die Petenten argumentieren m.E. völlig zu Recht: Wenn die kirchliche Gerichtsbarkeit nicht verhindern kann, dass auch solche Einrichtungen von den Sonderrechten der Religionsgemeinschaften profitieren, die sich selber nicht an deren Regeln und Pflichten halten, dann muss das staatliche Recht diese Lücke füllen. Den Kirchen selbst verbleibt – als allerletzte Notbremse – ein klarer Schnitt. Sollten sie – aus welchen Gründen auch immer – die eigenen Leitbilder nicht mehr durchsetzen können, dann müssen sie in letzter Konsequenz auch den Mut aufbringen, sich von solchen Handlungsfeldern zu trennen. Der Erhalt kirchlicher Einrichtungen darf nicht, um welchen Preis auch immer, zum bloßen Selbstzweck werden. Dies aber wäre die ultima ratio, der allerletzte Ausweg. Deshalb müssen andere Lösungen her! Wenn es der Kirche nicht gelingen sollte, menschenwürdige Sorge und Pflege zusammen zu bringen mit guten Arbeitsbedingungen – wem soll es dann gelingen?
Die starke Zersplitterung der Tariflandschaft ist neben den staatlich gesetzten Rahmenbedingungen die wesentliche Ursache für das grundsätzliche Dilemma, in das jeder Versuch einer kircheneigenen Tarifsetzung gerät: Unterbietet er das Niveau des öffentlichen Dienstes, kann die Einrichtung finanziell gut da stehen – auf Kosten der Beschäftigten und letztlich der Hilfebedürftigen. Mit unzufriedenen Pflegekräften ist kein gutes Heim zu machen, in dem sich die Bewohner wohlfühlen. Eine Bezahlung oberhalb des öffentlichen Dienstes kann zu Kostenproblemen führen, die im Extremfall den Bestand der Einrichtung gefährden. Die Antwort kann nur ein funktionierender Tarif „Soziale Arbeit“ sein, der für alle gleiche Arbeitsbedingungen schafft.
Soziale Arbeit – ein Tarif für Alle!
Die Flächentarife sind ein elementarer Eckpfeiler des deutschen Sozialgefüges. Sie vereinheitlichen die Lohn- und Arbeitsbedingungen. Im Geltungsbereich des Tarifvertrags gibt es keinen „freien Markt“ der Arbeitskräfte. Der Hauptzweck dieses den Wettbewerb beschränkenden Instruments ist, den Dumpingwettbewerb um niedrige Löhne zu unterbinden. Die befriedende Wirkung des Flächentarifvertrags hat dazu geführt, dass Deutschland weltweit eines der Länder mit den wenigsten Arbeitskämpfen und der geringsten Zahl streikbedingter Arbeitsausfälle ist. Seit geraumer Zeit allerdings geht die Tarifbindung zurück, das Tarifvertragssystem droht zu erodieren. Dies hat vielfältige Gründe, wie z.B. die anhaltende Tarifflucht von Arbeitgebern, aber auch durch sinkende Mitgliederzahlen geschwächte Gewerkschaften.
Hinzu kommt, dass es kaum noch für allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge gibt, die auch die „Außenseiter“-Arbeitnehmer schützen sollen. Dieses Instrument erstreckt tarifautonom begründete Regelungen unverändert auch und somit unter Wahrung der Tarifautonomie auf die nicht unmittelbar tariflich gebundenen Unternehmen in der Branche. Sozial unfaire Wettbewerbsvorteile für nicht direkt tarifgebundene Unternehmen sollten verhindert und der Wettbewerb hingelenkt werden auf Innovation, Produktivitätssteigerung und unternehmerisches Geschick. Über lange Zeit war auch politischer Konsens, dass die staatliche Allgemeinverbindlichkeitserklärung die Befriedungsfunktion des Tarifsystems stärken solle. Kein Arbeitgeber sollte wirtschaftliche Vorteile daraus ziehen, wenn er seine Beschäftigten besonders schlecht bezahlt oder grundlegende Arbeitsbedingungen missachtet.
Die Zahl der vom Staat für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge nimmt seit den 1990er Jahren kontinuierlich ab. Ihr Anteil liegt aktuell gerade noch bei 1,5 Prozent von insgesamt ca. 73.000 Tarifverträgen. Dem Bundestag liegen z.Z. Anträge von mehreren Fraktionen mit dem Ziel vor, das Tarifvertragssystem zu stärken und allgemeinverbindliche Tariflöhne zu erleichtern. Ein wichtiger Grund für das faktische Leerlaufen der Allgemeinverbindlichkeit ist die Voraussetzung, dass eine Allgemeinverbindlichkeit nur beantragt werden kann, wenn die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens 50 Prozent der in der Branche Beschäftigten repräsentieren. In gut organisierten Branchen wie z.B. der Metallindustrie ist diese Bedingung leicht zu erfüllen.
Für viele andere Branchen, vor allem im Dienstleistungssektor, sind die geforderten Schwellenwerte nicht (mehr) erreichbar. Dieser Sachverhalt ist kontraproduktiv, ja paradox, da immer dann, wenn eine staatliche Regulierung besonders vonnöten ist, dies gerade nicht möglich ist. Das Ziel, unfairen Wettbewerb durch nicht tarifgebundene Arbeitgeber zu unterbinden, wird ja umso dringlicher, je mehr diese Wettbewerbsvariante durch rückläufige Tarifbindung an Bedeutung gewonnen hat. Es gibt nun starke Bestrebungen, das 50-Prozent-Quorum – wie in etlichen anderen europäischen Ländern auch – durch das Kriterium der Repräsentativität zu ersetzen. Als ein wichtiges Indiz zur Bestimmung der Repräsentativität könnte dann auch herangezogen werden, ob und inwieweit andere Akteure auf den Tarifvertrag mit dem Ziel gleicher Regelungen Bezug nehmen.
Auf dem Feld der sozialen Arbeit spricht nichts dagegen, wieder an die befriedende Wirkung echter Flächentarife anzuknüpfen. Ganz im Gegenteil! Wer den Wert sozialer Arbeit durch gute Arbeitsbedingungen wertschätzen will, der muss dafür die Voraussetzungen schaffen! Das weiß auch dank langer Erfahrung niemand besser als die Kirchen selbst. In der „Diakonie-Denkschrift“ der EKD liest sich das so: „Fairer Wettbewerb ist nur möglich, wenn die Eintrittsbedingungen für alle gleich sind“ (Ziffer 96, zitiert nach KDA 2011: Für gute und gerechte Arbeitsbedingungen). Wer den Mund spitzt, muss auch pfeifen. Dann wäre es nur konsequent, wenn sich die Kirchen auch ordnungspolitisch für einen Branchentarif im Sozialsektor einsetzten. Nur ein branchenweiter Tarifvertrag, der für alle Anbieter gleichermaßen gilt, kann den Wettbewerb dahin lenken, wo er hingehört: gute Arbeit für motivierte Mitarbeiter. M.a.W.: Anstatt des Wettlaufs um möglichst niedrige Personalkosten käme nun der Wettbewerb um die bessere Qualität der Betreuung. Diesen Wettbewerb beim Dienst am Nächsten können die kirchlichen Wohlfahrtsverbände gewinnen!
Im Jahr 2005 wurde der BAT im Bund sowie den Ländern und Kommunen durch den TVöD ersetzt. Rechtsgrundlage für die Geltung des BAT waren einzelvertragliche Verweise. Dies erfolgte entweder durch direkten Hinweis auf den BAT in den Arbeitsverträgen oder es wurde auf ein kirchliches Regelungswerk verwiesen wie z.B. die Arbeitsvertragsrichtlinien von Diakonie oder Caritas, die den BAT in den wesentlichen Regelungen übernommen hatte. Hermann Lührs verweist in einem Vortrag hier in Eichstätt darauf, dass im Allgemeinen nicht die unmittelbar wirksamen Tarifverträge, sondern die Bezugnahme im Arbeitsvertrag auf einen Tarifvertrag „die empirisch dominante Form der Geltung von Tarifverträgen“ sei (ZMV Sonderheft 2010, S. 62). Großteils erfolgte die Tarifbindung nicht durch Mitgliedschaft – sei es in einem Arbeitgeberverband, sei es in einer Gewerkschaft –, sondern durch einen entsprechenden Verweis im Arbeitsrecht.
Nach der Auffassung von Lührs war – jedenfalls bis 2005 – das als kirchlicher Sonderweg bezeichnete System der Arbeitsrechtlichen Kommissionen diesbezüglich gar kein Sonderweg, sondern – ähnlich wie bei den allermeisten anderen tariflich Beschäftigten in Deutschland auch – ein Umweg zu einem tarifvertraglichen Regelungswerk. Diese Praxis hat sich erst nach Einführung des TVöD im Jahr 2005 geändert. Eine Umstellung von BAT auf TVöD erfolgte zwar in den katholischen Diözesen und einem Großteil der evangelischen Landeskirchen, bei den konfessionellen Wohlfahrtsverbänden mit den Ausnahmen von Württemberg und Rheinland-Westfalen-Lippe zunächst aber nicht.
Bei der Caritas ändert sich das Bild aber wieder: In großen Bereichen wie z.B. der Pflege wird auf den TVöD orientiert. So heißt es in einer Flugschrift der „Mitarbeiterseite der Arbeitsrechtlichen Kommission des Deutschen Caritasverbandes“ vom 9.2.2012 unter der Überschrift „Tarifforderung 2012“ u.a.: „Wir fordern für die 500.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter 6,5 % Vergütungserhöhung auf alle Eurowerte … Damit soll erreicht werden, dass der Wert der sozialen Arbeit nicht weiter absinkt. Zwischen 2000 und 2010 sind die Realeinkommen der Beschäftigten um 8,5 % gesunken. Diesen Wertverfall der sozialen Arbeit gilt es zu stoppen. Wir fordern alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und deren Mitarbeitervertretungen auf, sich aktiv in die Tarifauseinandersetzung einzubringen: … Beteiligt Euch an Aktionen der Kolleginnen und Kollegen im öffentlichen Dienst … Denn: Der Abschluss des öffentlichen Dienstes ist für uns die Leitwährung zur Weiterentwicklung der Arbeitsvertragsrichtlinien“. Anfang Februar hatte der Ver.di-Bundesvorstand ein Flugblatt veröffentlicht, in dem es heißt: „Ver.di fordert für den öffentlichen Dienst einen Lohnzuwachs von 6,5 %.“
Die bundesweiten Arbeitsvertragsrichtlinien des Diakonischen Werks wurden nicht auf den TVöD umgestellt. Unterschiede zeigen sich u.a. bei den Gehaltstabellen, den Arbeitszeitregelungen und den Eingruppierungsvorschriften. Folglich können auch Gehaltsanpassungen im öffentlichen Dienst nicht mehr umstandslos auf die neuen Regelungen übertragen werden. Dies stellt die Arbeitsrechtlichen Kommissionen naturgemäß vor völlig neue Aufgaben: Anstatt Tarifergebnisse zu übernehmen, müssen diese über selbständige Verhandlungen nunmehr selbst herbeigeführt werden. Alle Erfahrung lehrt, dass selbständige Lohnverhandlungen immer auch vom Konflikt um unterschiedliche oder gegenläufige Interessen geprägt sind. Lührs verweist auf inzwischen wissenschaftlich ausgewertete Analysen über die ersten Lohnrunden im kirchlichen Sektor. Dabei zeige sich durchgängig ein klarer Befund: „Er besteht darin, dass die Konfliktelemente des Tarifvertragssystems in das Kommissionssystem einziehen.“
Bei dieser diffizilen Gemengelage sind zwei Wege mit dem Ziel eines einheitlichen Sozialtarifs denkbar. Der eine Weg ist eher passiv, der andere eher aktiv. Zum einen könnten die für den Sozialbereich geltenden Tarifabschlüsse für den öffentlichen Dienst allgemeinverbindlich erklärt werden. Die geforderte Repräsentativität ließe sich auch ohne die Diakonie leicht erreichen, da bei Einbezug der Beschäftigten, für die der „Tarifvertrag öffentlicher Dienst“ „Leitwährung“ ist, selbst das (noch) geltende 50%-Quorum deutlich übertroffen würde. Ganz allgemein besteht bei konkurrierenden Tarifverträgen eine Gesetzeslücke. In einem Rechtsgutachten für die SOKA-BAU (Sozialkasse) schlagen die Professoren Hanau, Preis und Greiner vor, eine Kollisionsregel einzuführen. Durch die Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit kann demzufolge ein Arbeitgeber verpflichtet werden, einen Tarifvertrag auch dann einzuhalten, wenn er an einen anderen Tarifvertrag gebunden ist. Noch einfacher wäre natürlich, wenn sich die Arbeitsvertragsrichtlinien der Diakonie ebenfalls auf den TVöD stützen würden. Selbstverständlich ist, dass ein solcher Tarifvertrag auch die Beschäftigungsverhältnisse bei den privaten gewinnorientierten Trägern verbindlich regulieren würde.
Gegen die Allgemeinverbindlichkeitserklärung werden kaum noch politische Einwände vorgebracht. Sie ist ein seit langem bekanntes, bewährtes und systemkonformes Instrument, das keinerlei schädliche Rückwirkungen auf die Tarifautonomie gehabt hat. Ganz im Gegenteil: Dieses Instrument kann geradezu als Musterfall eines kooperativen Verhältnisses von Staat und Tarifvertragsparteien gelten.
Eine „aktive“ Variante deutet sich bei der Diakonie in Niedersachsen an. Lührs spricht von einer „verhandelten Transformation“ (Referat bei der Evangelischen Akademie im Rheinland, 14.02.2011). Die dort geltenden Arbeitsvertragsrichtlinien sollen in einem abgestuften Verfahren in einen Tarifvertrag umgewandelt und dann als solcher nach den Regeln des Tarifvertragsgesetzes weiterentwickelt werden. Damit könnten Brüche in den Arbeitsvertragsrechtlichen Kommissionen mit schwer absehbaren Folgen vermieden werden. Das Ergebnis wäre vielmehr eine von den beteiligten Parteien verhandelte und damit selbst kontrollierte und gesteuerte Transformation. Aktiv wäre an diesem Prozess, dass die Parteien als Ergebnis nicht eine von Dritten ausgehandelte (erkämpfte?) Lösung übernehmen, sondern selbst an der Erarbeitung des Ergebnisses beteiligt wären.
Zum Abschluss dazu noch einige grundsätzliche Anmerkungen. Wie schon gezeigt, hat der Dritte Weg als arbeitsrechtliche Besonderheit der Kirchen und ihrer Einrichtungen zu keiner Zeit eigenständig, sondern immer nur im Zusammenwirken mit dem Tarifvertragssystem gut funktioniert. Die BAT-Autonomie belieh gewissermaßen den Dritten Weg mit der materiellen Parität des Tarifvertragssystems. Strukturelle Unterfinanzierung, Abschaffung des BAT und das Entstehen des TVöD begünstigten die Abkoppelung kirchlicher Einrichtungen und Unternehmen von den Tarifregelungen im öffentlichen Sektor. Dann aber stellt sich die Frage nach der materiellen Parität des Dritten Weges neu.
Der entscheidende Grund für die aktuellen Probleme ist m.E. die fehlende Parität im Verhältnis der Dienstnehmer- und Dienstgeberseite in den arbeitsrechtlichen Kommissionen. Nur eine echte materielle Parität kann im Verständnis des Bundesverfassungsgerichts das strukturelle Übergewicht der Arbeitgeberseite beim Einzelarbeitsvertrag durch Verhandlungen und Verträge auf kollektiver Ebene ausgleichen. Das Regelwerk der Tarifautonomie soll ein annähernd gleichgewichtiges Aushandeln der Löhne und Arbeitsbedingungen gewährleisten.
Zu diesem Zweck und im dadurch vorgegebenen Umfang ist auch der Einsatz von Arbeitskampfmaßnahmen geschützt. Das Streikrecht nimmt im Wertekanon des Grundgesetzes einen hohen Rang ein. Es soll vor Ausbeutung und Fremdbestimmung schützen und trägt damit auch zur Wahrung der Menschenwürde bei. Verweigert man den Arbeitnehmern dieses Mittel, so bringt man sie in den Worten des Bundesarbeitsgerichts in die Lage des „kollektiven Bettelns“. Die Internationale Arbeitsorganisation (Unterorganisation der Vereinten Nationen) zählt das Streikrecht zu den acht unveräußerlichen sozialen Grundrechten, die trotz aller kulturellen Differenzen universell, d.h. überall gelten sollen.
Der Dritte Weg ist darauf angelegt, eine wesentliche Funktion der Tarifautonomie zu ersetzen: nämlich die Herstellung einer Verhandlungslage, in der sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer „auf Augenhöhe“, also unabhängig und gleichgewichtig gegenüberstehen. Dabei ist der Einfluss der Arbeitgeberseite beim Dritten Weg keineswegs einheitlich. In einigen evangelischen Landeskirchen gibt es die Vetorechte der Synode. Bei der KODA (Arbeitsrechtsordnung der katholischen Kirche) hat der Bischof das letzte Wort.
Ich will gar nicht bestreiten, dass auch diese Varianten auf eine faire Lohnfindung zielen, die im Einklang mit dem kirchlichen Selbstverständnis stehen. Allerdings ist der gleichzeitige Anspruch der Kirchen, ihren Arbeitnehmern eine dem Tarifsystem gleichwertige Verhandlungsposition bei Lohnkonflikten einzuräumen, kaum nachvollziehbar.
Vor wenigen Tagen (Ausgabe vom 3./4.03.2012) berichtete die „Saarbrücker Zeitung“, das Bistum Trier wolle massiv sparen. Unter anderem soll die Katholische Akademie geschlossen und die Mittel für die Kindertagesstätten jährlich um knapp drei Millionen Euro gekürzt werden. Scharfe Kritik an den Plänen äußerte die Gesamtmitarbeitervertretung (GMAV): „’Der gesamte Kostensenkungsprozess ist in diesem Umfang nicht notwendig’, heißt es in einer Stellungnahme, die Schließung der Katholischen Akademie sei nicht notwendig. Zudem kritisiert die 2700 Mitarbeiter vertretende GMAV die fehlende Mitwirkungsmöglichkeit am Klärungsprozess: ‚Der Generalvikar wollte uns ausdrücklich nicht beteiligen. Die Ergebnisse waren zementiert’.“ Eine Partnerschaft „auf Augenhöhe“ sieht anders aus!
Wer den Kirchen gut will, der kann ihnen nur anraten, einen das eigene Selbstverständnis bedrohenden Dauerkonflikt mit erheblichen Teilen der eigenen Belegschaften und ihrer Vertretungen abzuwenden. Das heißt dann aber auch, der in Sonntagsreden immer wieder betonten Bedeutung von Gewerkschaften auch praktische Konsequenzen folgen zu lassen. Warum sollte all dies sich um Himmels Willen nicht mit einer christlich inspirierten Unternehmenskultur vertragen können?
Eine letzte Stimme sei noch zitiert: „Die modernen Gewerkschaften sind aus dem Kampf der Arbeitnehmer, der Arbeiterschaft und vor allem der Industriearbeiter, für den Schutz ihrer legitimen Rechte gegenüber den Unternehmern und den Besitzern der Produktionsmittel entstanden. Ihre Aufgabe ist die Verteidigung der existentiellen Interessen der Arbeitnehmer in allen Bereichen, wo ihre Rechte berührt werden. Die historische Erfahrung lehrt, dass Organisationen dieser Art ein unentbehrliches Element des sozialen Lebens darstellen. Das bedeutet freilich nicht, dass nur Industriearbeiter Vereinigungen dieser Art errichten können. Die Angehörigen aller Berufe können sich ihrer zur Sicherung der jeweiligen Rechte bedienen“ (Papst Johannes Paul II.: Enzyklika Laborem Exercens; 1981).
Das Referat wurde im Rahmen der Fachtagung „Die Gestaltung des kirchlichen Arbeitsrechts durch die Gerichte“ an der Katholischen Universität Eichstätt am 5. März 2012 gehalten. Zur Veröffentlichung vorgeschlagen von Frank-Matthias Hofmann, Johanna-Wendel-Straße 15, 66119 Saarbrücken.
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