Vom Verstummen der Symbole und der Wiedergewinnung ihrer Sprach- und Wirkmächtigkeit*
Prof. Dr. Dieter Wittmann
Parkstraße 17, 67061 Ludwigshafen
In meinen Überlegungen geht es um die Begegnung des Individuums mit dem Heiligen und Numinosen als Kern jeglicher religiöser Erfahrung. Wenn ich dann von einem religiösen Problem moderner Menschen spreche und in diesem Kontext vom Verstummen der Symbole, dann habe ich nicht den Glauben, die Glaubensbekenntnisse oder die Lehrsätze etablierter Konfessionen im Blick. Vom Verstummen der Symbole zu reden heißt das Verstummen religiöser Erfahrung anzuzeigen, denn „das Religiöse selbst kann sich nur in Symbolen ausdrücken oder in Komplexen von Symbolen, die wir, wenn sie zu einer Einheit verbunden sind, Mythen nennen“.[1]
Mit der Feststellung, ehemals lebendige Symbole seien verstummt, wird ein zentrales Problem des heutigen Menschen angesprochen. Damit wird diese Behauptung nicht nur zu einer Herausforderung für die Theologen und etablierte Religionssysteme, sondern ebenso für alle nach Sinn suchenden, sich selbst verstehen wollende Menschen, insbesondre dann, wenn nach der Wiedergewinnung der Sprech- und Wirkmächtigkeit der Symbole gefragt wird. Die Ursache für das Verstummen von Symbolen im modernen Leben orten wir zum einen in einem aufgeklärten, technisch-wissenschaftlich dominierten Weltverständnis, das eher am eindeutigen Zeichen und einer rationalen Erklärung als am lebendigen, vieldeutigen Symbol interessiert ist, zum anderen aber auch im erstarrten traditionellen kirchlich-theologischen Verständnis von Symbolen und ihrer Wirkmächtigkeit, also in einer dogmatischen Engführung.
Im protestantischen Bereich wird das Symbolverständnis durch die starke Fixierung auf das biblische Wort und die theologische Voraussetzung, dass religiöse Erfahrung, sofern überhaupt dieser Begriff nicht abgrenzend in der Theologie verwandt wird, Gotteserfahrung also, sich allein in dem durch Jesus Christus geoffenbarten Wort ereignen kann, weiter eingeschränkt. Wegen dieses schwierigen Zuganges des heutigen modernen Menschen zu einem lebendigen Symbolverständnis verwundert es nicht, dass die diffuse religiöse Einstellung vieler heutiger Menschen, die sich häufig genug zwischen verhärteter Dogmatik und deren Abwehr etwa in Form einer gleichgültigen bis ablehnenden Haltung gegenüber den Aussagen der Bibel bewegt, eine Leere im Lebensentwurf bewirkt, wir können auch sagen: eine Verödung des Seelenlebens und damit auch der religiösen Erfahrung. C.G. Jung stieß in seiner Arbeit immer wieder auf diesen Verlust und konnte deshalb formulieren: “… soundso viele Neurosen (beruhen) in aller erster Linie darauf …, dass z. B. die religiösen Ansprüche der Seele infolge des kindischen Aufklärungswahns nicht mehr wahrgenommen werden. Der Psychologe heute ( wir dürfen ergänzen: auch der Theologe und alle an dieser Frage Interessierten) soll es endlich einmal wissen, dass es sich längst nicht mehr um Dogmen und Glaubensbekenntnisse handelt, sondern vielmehr um religiöse Einstellungen, die eine psychische Funktion von kaum absehbarer Wichtigkeit ist.”[2]
Ergänzend sagt Jung an anderer Stelle : „jeder krankt in letzter Linie daran, dass er das verloren hat, was lebendige Religionen ihren Gläubigen zu allen Zeiten gegeben haben, und keiner ist wirklich geheilt, der seine religiöse Einstellung nicht wieder erreicht hat, was mit Konfession und Zugehörigkeit zu einer Kirche natürlich nichts zu tun hat.”[3] Wir dürfen diesen Gedanken Jungs erweitern und die von ihm gestellte Diagnose nicht nur auf die individuelle Befindlichkeit des heutigen Menschen übertragen, sondern auch auf die Situation der sozialen Gesellungen in ihren mannigfachen Formen wie Gruppe, Gemeinschaft, Familie, Kirche, Volk. Daraus ergibt sich als Zielrichtung für die religiöse Praxis, den Symbolen wieder ihre Sprachfähigkeit zu verleihen, also zu einer Wiedergewinnung einer religiösen Einstellung zu kommen.
Zunächst aber wollen wir klären, was wir in unserem Zusammenhang unter einem Symbol verstehen. Der Philosoph H.G. Gadamer definiert Symbol als das „Vorgezeigte…,woran man etwas anderes erkennt … Im Begriff des Symbols klingt … ein metaphysischer Hintergrund an… Es ist möglich, vom Sinnlichen aus zum Göttlichen hinaufgeführt zu werden. Die Untrennbarkeit von sichtbarer Anschauung und unsichtbarer Bedeutung, dieser ‘Zusammenfall’ zweier Sphären liegt allen Formen des religiösen Kultus zugrunde…. Das Symbol meint den Zusammenfall von sinnlicher Erscheinung und übersinnlicher Bedeutung … Ein Symbol also verweist nicht nur, sondern es stellt dar, indem es vertritt. Vertreten aber heißt, etwas gegenwärtig sein lassen, was nicht anwesend ist.
So vertritt das Symbol, indem es repräsentiert, d.h., etwas unmittelbar gegenwärtig sein lässt. Nur weil das Symbol so die Gegenwart dessen darstellt, was es vertritt, wird ihm selbst die Verehrung bezeugt, die dem von ihm Symbolisierten zukommt.”[4] Dieser Gedanke der Repräsentativität des Symbols wird auch von dem Theologen Paul Tillich betont: “Das fundamentale Merkmal aller repräsentativen Symbole ist ihre Eigenschaft, über sich hinauszuweisen … Das Merkmal aller repräsentativen Symbole besteht darin, dass das Symbol an der Wirklichkeit dessen teilhat, auf das es hinweist. Das wird in dem Wort ‘repräsentativ’ verdeutlicht. (Die repräsentativen Symbole) können nicht willkürlich gefunden werden. Ihre Entstehung ist nicht wie die der bloßen Zeichen eine Sache der Zweckmäßigkeit oder Konvention. Bildlich gesprochen kann man sagen, dass Symbole geboren werden und sterben … Das Merkmal repräsentativer Symbole ist ihre Macht, Dimensionen der Wirklichkeit zu erschließen, die gewöhnlich durch die Vorherrschaft anderer Dimensionen verdeckt sind. Aber der menschliche Geist könnte diese neuen Dimensionen nicht ergreifen, wenn das Symbol nicht gleichzeitig auch in ihm eine neue Dimension öffnete”.[5]
Symbolen begegnen wir in den zahlreichen Quellen und Zeugnissen aller Religionen, dann auch in Märchen, Mythen, die eng zu den Religionen gehören, in Ritualen im sozialen Kontext des Alltags und in unseren Träumen. Sie unterscheiden sich in Sprachform und Bildgestalt und gehören verschiedenen religiösen, kulturellen und sozialen Traditionen an. Jedoch haben sie das eine gemeinsam, dass sie in der gleichen Sprache, eben in der symbolischen Sprache, mitgeteilt werden. “Die Symbolsprache ist eine Sprache, in der innere Erfahrungen, Gefühle und Gedanken so ausgedrückt werden, als ob es sich um sinnliche Wahrnehmungen, um Ereignisse in der Außenwelt handelte. Es ist eine Sprache, die eine andere Logik hat als unsere Alltagssprache, die wir tagsüber sprechen, eine Logik, in der nicht Zeit und Raum die dominierenden Kategorien sind, sondern Intensität und Assoziation. Es ist die einzige universale Sprache, welche die Menschheit je entwickelt hat und die für alle Kulturen im Verlauf der Geschichte die gleiche ist. Es ist eine Sprache sozusagen mit eigener Grammatik und Syntax, eine Sprache, die man verstehen muß , wenn man die Bedeutung von Mythen, Märchen und Träumen (und eben auch von Texten der Bibel und anderer Religionen begründete Schriften) verstehen will.”[6]
Dieses menschheitsverbindende Phänomen der Symbole, die in “Sinnbildern” unserem Bewusstsein zugänglich werden und hinter denen kollektive Erfahrungen stehen, hat C.G. Jung zu der Annahme geführt, dass in der Psyche( besser kollektiven Unbewussten) aller Menschen bestimmte Grundmuster und Grundstrukturen menschlichen Erlebens vorhanden sind. Diese werden von Jung “Archetypen” genannt. “Ein Archetyp kann definiert werden als eine angeborene Möglichkeit des Verhaltens…. Menschliche Wesen reagieren archetypisch auf jemanden oder auf etwas in einer typischen, sich immer wieder aufs neue wiederholenden Situation.”[7] Archetypische Bilder, Verhaltensweisen und Muster können wir beispielsweise im Zusammenhang mit Vorgängen sehen, die um Geburt und Tod kreisen.
Das Bild Mutter und Kind, wie wir es aus unserer menschlichen Sozialisation kennen, finden wir auch mit parallelen Verhaltensweisen im Tierreich und ist z.B. in der bildenden Kunst Motiv zahlreicher Darstellungen (im religiösen Bereich „Maria mit Jesus – Kind“). Der Ort, aus dem die Symbole aufsteigen, ist das kollektive Unbewusste. Die Archetypen erscheinen also aus dem kollektiven Unbewussten und zwar in symbolischen Motiven. Jung nennt die Archetypen <mythologische Motive>, „die in gleicher oder analoger Art zu allen Zeiten und bei allen Völkern auftreten und ebenso spontan – ohne irgendein Wissen des Bewusstseins – aus dem Unbewussten des modernen Menschen auftauchen können.“[8] Wir können festhalten: religiöses Erleben führt uns zum Unbewussten. Inhalte lebendiger Religion wurzeln im Unbewussten und zeigen sich aus den daraus aufsteigenden Symbolen.
Religion ist also für uns moderne Menschen solange nicht tot, solange wir im Aufsteigen der Symbole ein Angebot unserer Seele an unser Bewusstsein erkennen, das darin besteht, etwas über „die Mitte und Tiefe meiner Person“[9] zu erfahren. Die Begegnung mit Symbolen und die Bereitschaft, sich ihnen zu stellen, sind in der Regel mit einem berührenden inneren Erleben verbunden, das wir als ein religiöses Erlebnis bezeichnen können. Dieses „drängt nach Ausdruck und kann nur symbolisch ausgedrückt werden, da es den Verstand übersteigt. Es muss so oder so ausgedrückt werden, denn darin offenbart es seine ihm innewohnende Lebenskraft. Es will sozusagen ins sichtbare Leben übertreten, konkrete Gestalt gewinnen.”[10]
Damit wird deutlich, dass ein Symbol immer etwas ist, das über sich selbst hinausweist und eine eigene Dynamik besitzt. Der Inhalt eines Symbols lässt sich niemals rational voll ausdrücken. Das Symbol stammt aus jenem “Zwischenbereich subtiler Wirklichkeit, die einzig eben durch das Symbol zureichend ausgedrückt werden kann.”[11] Die Rede von Gott ist dann insofern ein Sprach-Symbol, als dieses Reden über unsere Wirklichkeit hinausweist. Das Symbol hat die Funktion, die beiden Sphären, in denen der Mensch sich ausgesetzt sieht, nämlich die Realität seiner Existenz und die Transzendenz zu verbinden. Insoweit hat das Symbol Offenbarungscharakter. Die verbindende Funktion des Symbols könnte auch als die Korrelation zwischen Persönlichem und Überpersönlichem oder in der Sprache der Tiefenpsychologie zwischen Bewusstsein und (kollektivem) Unbewusstem verstanden werden. Das Symbol “stellt also Elemente der gegenwärtigen Welt in den Dienst der Manifestation des Transzendenten.”[12]
Symbole sind die Führer in das kollektive Unbewusste und somit zur Religion. Die Symbole entstammen jener menschlichen Erbweisheit, die den unerschöpflichen Vorrat des kollektiven Unbewussten ausmacht. Psychologisch betrachtet heißt das dann, dass die Religionen eine bildhafte und gedankliche Ausformung von Inhalten des kollektiven Unbewussten darstellen, so dass auf dieser Verständnisebene zwischen den Inhalten des kollektiven Unbewußten und denen der Religionen nicht zu unterscheiden ist. Deshalb kann C.G. Jung behaupten, dass das Unbewusste und die Produkte des Unbewussten, die Symbole, “ohne Zweifel ein grundlegendes religiöses Phänomen”[13] sind, und die Stimmen und Bilder, die z.B. in unseren Träumen auftauchen, sind nicht unsere eigenen, sondern kommen aus einer Quelle, die uns transzendiert.
Das Unbewusste ist Quelle und Ursprung unserer religiösen Erfahrungen und besitzt eine Weisheit, die für das menschliche Leben von zentraler Bedeutung ist. So kann z.B. ein träumender Mensch die Erfahrung machen, dass er im Traum in der Gestalt eines auf ihn bezogenen Symbols einen überpersönlichen Inhalt erfährt. Dieses Bild, dieser überpersönliche Inhalt, eben dieses Symbol, wird vom Träumer als etwas über ihn Hinausweisendes erlebt, als etwas, das ihn fasziniert. Damit finden wir uns unmittelbar im Umkreis der Definition von Glauben, die P. Tillich in seiner bekannten Formulierung gegeben hat: “Glaube ist das Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht.”[14]
Zusammenfassend lässt sich zur Zusammengehörigkeit von Symbol und Religion sagen, dass Symbole nicht nur psychische Inhalte ins Bildhafte verwandeln und auf diese Weise Botschaften des Unbewussten dem Bewusstsein zugänglich machen, sondern auch auf die sozialen Organisationen der Menschen einwirken. Sie induzieren religiöse Erfahrung, „ordnen das Erleben und das Zusammenleben der Menschen“ etwa in religiösen Systemen. „Durch die Symbole fügt sich der Mensch in einen umfassenden und Sinn gebenden Zusammenhang ein.”[15] Darüber hinaus erschließt das Symbol eine “Tiefe” der menschlichen Existenz, die die Qualität religiösen Erlebens hat. Symbole als lebendige Symbole zu erfahren, sie zum Sprechen zu bringen, dieser Umgang mit Symbolen impliziert die Chance, in allen Lebensbereichen neue Verstehens- und Handlungsperspektiven zu eröffnen. Die meisten Systeme, sowohl der Natur als auch des sozialen Bereiches, sind durch ihre Gesetzlichkeit und ihre Spielregeln gekennzeichnet. Oft sind diese vorgegeben, oft aber auch ausgedacht, festgesetzt und dogmatisiert. Die lebendigen Symbole jedoch ermöglichen den Menschen eine kreative Lebensgestaltung und ein Transzendieren des Lebens zu weiteren Horizonten, was wir religiöses Erleben nennen.
Es ist naheliegend, dass sich aus dem beschriebenen Symbolverständnis Konsequenzen für unser Denken und Arbeiten ergeben, vor allem aber für unser Glaubensleben, wenn es um die Wiedergewinnung einer religiösen Einstellung geht und um das Verstehen religiöser Manifestationen. Dabei kann z.B. die Auseinandersetzung mit unseren Träumen zur Hilfe werden, denn in ihnen sind lebendige Symbole gegenwärtig. Das Verstehen von Träumen bietet die Chance, einen Weg zur Erneuerung religiöser Erfahrung zu eröffnen. Symbole beginnen zu sprechen. Die rationalistischen und theologischen Vorbehalte gegenüber Träumen als Erkenntnisweg und die verbreitete Meinung, Träume hätten nur für Psychoanalytiker bei der Behandlung neurotischer Patienten Relevanz, stellen ein Hindernis dar, auf diesem Weg zur Gewinnung einer religiösen Erfahrung zu kommen. Gleiches gilt auch für den Umgang mit Märchen, Mythen und biblischen Texten. Allen Menschen, die an Religion und Heilwerden des Menschen interessiert sind, stellt sich die Aufgabe, die Symbolsprache, die ewige Sprache Gottes, kennenzulernen. “Wenn wir sie verstehen, kommen wir mit dem Mythos in Berührung, der eine der bedeutsamsten Quellen der Weisheit ist, und wir lernen die tieferen Schichten unserer eigenen Persönlichkeit kennen.”[16]
Im Folgenden möchte ich am Beispiel des Traumes zeigen, wie auch der heutige Mensch durch eine Traumbotschaft bzw. die darin enthaltene Traumsymbolik überwältigt werden kann. Wir berühren mit diesem Gedanken ein Erleben, das Ähnlichkeit mit einer Bekehrungserfahrung hat, wie wir sie aus den religiös-fundamentalistischen und ideologisch determinierten Kreisen kennen. Dass diese Vorgänge durchaus ambivalent sein können, will ich nicht übersehen. Deshalb bedürfen diese Erfahrungen der Kommunikation mit Ich–starken Persönlichkeiten mit einer adäquaten Realitätswahrnehmung. Der Ort der Überprüfung könnte das Seelsorgegespräch („Seelsorge als Gespräch“ Scharfenberg) sein oder gegebenenfalls auch das psychotherapeutische Setting ( Supervision, Selbsterfahrung, Therapie).
Gibt es heute tatsächlich noch Träume, die ein jeder von uns als Sprache Gottes oder zumindest doch als “Gottes vergessene Sprache”[17] zu verstehen bereit ist? Die meisten Menschen achten nicht auf ihre Träume oder nehmen sie nicht ernst und legen sie wieder rasch zur Seite. Aber gerade dann, wenn uns ein überwältigender, ein uns nicht mehr loslassender Traum geschenkt wird, wird uns die Chance einer religiösen Erfahrung eröffnet. Es sind dies Träume, die uns unbedingt angehen und die uns einen Lebenszuwachs, eine Einsicht und Erkenntnis, die vorher noch nicht da war, bringen. So heißt es im Talmud: “Ein ungedeuteter Traum gleicht einem ungelesenen Brief.”[18]
Das Haupthindernis zum Verstehen der eigenen Träume ist einmal die immer noch weit verbreitete Meinung, „Träume seien Schäume“ bzw. Eigenwilligkeiten unseres Gehirns, zum andern aber auch die lange Tradition der christlich-theologischen Voreingenommenheit gegenüber Träumen als Botschaften Gottes mit einem daraus folgenden Dogmatismus, der gegen die biblischen Belege behauptet, Träume hätten weder etwas mit religiöser Erfahrung noch mit Gotteserfahrung zu tun, denn Gott habe sich allein im Wort durch Jesus Christus geoffenbart.[19] Ich verweise an dieser Stelle auf Elihu, der seinem mit Gott hadernden Freund Hiob und auch allen Gottsuchern den Hinweis gibt: „Denn in einer Weise redet Gott und wieder in einer anderen, nur achtet man’s nicht. Im Traum, im Nachtgesichte, wenn auf Menschen Tiefschlaf fällt, im Schlummer auf dem Lager, da öffnet er das Ohr des Menschen…“(Hi 33,14).
Wenn wir also behaupten, dass aus dem Unbewussten aufsteigende Symbole zum Beginn neuer religiöser Erfahrungen werden können, dann müssen wir mit der Frage rechnen, mal neugierig aufgeschlossen, mal aggressiv ängstlich gestellt, ob wir Gott noch Gott sein lassen oder ihn nicht vielmehr zu einem psychischen Phänomen herabstufen. Die Frage ist durchaus berechtigt. Was wir sagen können ist, dass die Auseinandersetzung mit den Symbolen des Unbewussten zu der Frage nach Gott führt, jedoch ist damit noch keine Aussage über die Existenz Gottes an sich gemacht. “Dass die Gottheit auf uns wirkt, können wir nur mittels der Psyche feststellen, wobei wir aber nicht zu unterscheiden vermögen, ob diese Wirkungen von Gott oder vom Unbewussten kommen, d.h. es kann nicht ausgemacht werden, ob die Gottheit und das Unbewusste zwei verschiedene Größen seien. Beides sind Grenzbegriffe für transzendentale Inhalte.”[20]
In dem von mir ausgewählten Traum lernen wir einen protestantischen Theologen kennen, der sich in einer Glaubenskrise befindet. Das in dem Traum dominierende Symbol zeigte dem Träumenden neue Dimensionen seiner Existenz und war ihm Hilfe auf seinem weiteren Lebensweg. Diese Erfahrung kennzeichnen wir als religiöse Erfahrung, die ich in dem hier behandelten Zusammenhang auf den Aspekt konzentrieren will, ob dem Träumer eine entscheidende, für sein gegenwärtiges und zukünftiges Existenzverständnis zentrale Botschaft gegeben wurde, die ihn in der Tiefe seiner Existenz traf und zwar so, dass sein Leben eine andere Wendung nehmen konnte.
” Ich bin in einer fluchtähnlichen Situation. Ich laufe durch eine Reihe kirchenähnlicher, kleiner Gebäude, die hintereinander Wand an Wand gebaut sind und durch Türen miteinander verbunden sind. Es sind keine wuchtigen Kirchenräume, sondern eher kleine Gebäude, die wie alte, ausgediente Toiletten aussehen. Eigentlich ist es nur an den Fenstern zu erkennen, dass es Kirchen sind. Zwar sind alle Türen und Fenster verschlossen, aber ich komme trotzdem durch alle Gebäude hindurch bis in das letzte. Ich will nach draußen, aber die Tür geht jetzt nicht mehr auf. Ich habe Angst. Da sehe ich eine Marienfigur im Schutzmantel. Maria hat herbe Züge. In meiner Not bitte ich sie. Tatsächlich geht die Tür auf. Ich schaue die Marienfigur dankbar an. Darauf zwinkert mir Maria mit einem Auge zu und lächelt mich an.”
Nach dem Aufwachen notiert der Träumer: “Ich erlebe das alles mit einem glücklichen Gefühl, das auch anhält. Ich habe den Einfall, dass ich katholisch werden müsste. Maria befreit mich aus dem Gefängnis meiner leeren protestantischen Scheiß-Kirche, und sie hilft mir bei meiner Flucht aus dem stinkenden Saustall und dieser Räuberhöhle. Mir fällt auf, dass Maria ohne Jesuskind im Schutzmantel erscheint. Eine für mich bisher unwichtige religiöse Gestalt wird lebendig und führt mich hinaus ins Freie. Maria ist nicht die Unnahbare, sie ist eher eine Freundin, meine Verbündete und von einer gewissen Schlauheit. Vielleicht hat sie auch deshalb das Jesuskind nicht dabei.”
Die Betroffenheit des Träumers von den Bildern seines Traums und seine Einfälle dazu erschließen die Bedeutung des Traumes unmittelbar. Er macht in einzigartiger Weise evident, dass ein Traum einen Menschen an sich selbst erinnert, an die am meisten verleugneten Grundbedingungen seiner Existenz, an seine verlorene Freiheit und dass ein Traum oft an religiöse Kräfte rührt, die sich bei dem Träumer nie entwickeln durften und früh auf dogmatische Festlegungen programmiert wurden.[21]
Zweifellos ist der hier berichtete Traum neben anderen Aspekten natürlich eine Auseinandersetzung des Träumers mit seiner Kirche und mit seiner eigenen theologischen Existenz. Der im protestantischen Glauben des Träumers fehlende Aspekt der weiblichen Gottheit wird zu einer zentralen Erfahrung. Maria öffnet ihm den Weg aus einer leeren, das heißt ja nichts anderes als bedeutungslos gewordenen Kirche. Die Strenge seiner protestantischen Vater-Religion wird durch die Leere der Räume angedeutet (Die Traumzensur verwandelte die Lehre in Leere ). Er muss durch viele Räume gehen, ohne ‘das Heilige’, das ‘Numen inest’, ohne Gott zu finden. Er ist eher an einen Saustall, an eine Räuberhöhle, an einen stinkenden Ort erinnert. Das mag das Bild der Toiletten andeuten. Davor befindet er sich auf der Flucht. Erst im letzten Raum begegnet ihm eine lebendige Gottheit. Maria ist es, die dem Träumer, der sich ja offensichtlich in einer angstbesetzten suchenden Situation befindet, aus seiner traditionellen Glaubensgebundenheit herausführt und ihm einen neuen, bisher vermissten Aspekt seiner religiösen Erfahrung vermittelt, nämlich den der mütterlichen, hilfreichen Gottheit.
Das Traumbild zeigt allerdings auch eine Problematik des Träumers an, auf die hier nur hingewiesen sei, ohne sie weiter zu vertiefen. Der Träumer flüchtet zur Mutter Maria. Das kann als ein regressiver Zug verstanden werden, der den Träumer auf seine unabgelöste Mutterbindung, sprich Bindung an „Mutter Kirche“ verweist. (In einem psychotherapeutischen Zusammenhang wären an dieser Stelle zweifellos Verbindungen zur konkreten Mutter herzustellen.) So steht für ihn nicht nur die Frage an, ob er das protestantische Defizit, die fehlende Weiblichkeit in der Gottheit, für sich neu entdecken muss, er muss sich auch fragen, ob er einer Auseinandersetzung mit seiner „Vater- Kirche“ und deren Lehre entflieht.
Der Traum weist schließlich den Träumer noch auf einen weiteren, wichtigen Aspekt seiner Seele hin. In der Gestalt der zuzwinkernden Maria, der Verbündeten des Träumers, wird er mit seinem verdrängten und unterdrückten weiblichen Seelenanteil konfrontiert, mit seiner Frau im Mann, seiner Anima, wie C.G. Jung diesen Anteil gekennzeichnet hat.[22] “Die Anima … ist das Bewegende und zur Wandlung treibende, dessen Faszination das Männliche zu allen Abenteuern der Seele und des Geistes, des Tuns und des Schaffens der Innen- und Außenwelt drängt, verführt und ermutigt … Der Wandlungscharakter der Anima … bringt die Persönlichkeit zur Bewegung, zur Veränderung und schließlich zur Wandlung.”[23] So wird dem Träumer die Anima zu einer Führerin, die ihm lebenswichtige Botschaften übermittelt. Diese können neue Dimensionen seiner Theologie, die Annahme der Dunkelseite Gottes, den Schatten seiner Persönlichkeit oder die angstfreie Auseinandersetzung mit dem Weiblichen (z.B. in der Hetero- und Homosexualität, der Freundschaft, Ehe, Arbeitswelt) beinhalten. Es wird ihm damit eine neue religiöse Erfahrung und ein gewandeltes Leben ermöglicht.
Weiterhin könnte ich mir vorstellen, dass wir auf dem Hintergrund des dargestellten Symbolbegriffes den suchenden Menschen ein lebendiges Bild religiöser Erscheinungsformen unserer eigenen und fremder Traditionen nahebringen können. Daraus ergeben sich neue Zugänge zu der eigenen christlichen Überlieferung. Es wird sich bei dieser Arbeit sehr bald herausstellen, dass alle Gestalten und Bilder in der Bibel eine ungebrochene Gegenwartsbedeutung haben, weil sie archetypische Gestalten und Bilder sind. Die Devise lautet nun nicht mehr Entmythologisierung, sondern Vergegenwärtigung des Mythos als lebendiges Symbol, das mein Leben beschreibt. So ist beispielweise der Mythos vom Leben und Sterben Jesu ein Mythos, der vielen Religionen gemeinsam ist: “Der Held verlässt Vaterhaus und Vaterland, um die Welt zu erretten, oder er flieht vor seinem Auftrag und lebt im Bauch eines großen Fisches. Er stirbt und wird wiedergeboren: der mythische Vogel verbrennt und steigt aus der Asche hervor – schöner als zuvor.”[24]
Das ist die Grundsituation aller Menschen. Wir können die Erfahrung machen, dass wir eingebunden sind in die Gemeinschaft allen Lebens, und dass unsere Seele nach den gleichen Dingen fragt und die gleiche Antwort gibt, die sie je gegeben hat. Wir bringen so die ehemals lebendigen biblischen Geschichten, die für viele Menschen stumm geworden sind, wieder zum Sprechen, und wir erkennen, dass in den biblischen Berichten, die ja im Kern Mythen und archetypische Vorgänge schildern, unser Schicksal verhandelt wird. Es ist die „Weise von Liebe und Tod“ und die Bereitschaft sich notwendigen Wandlungserfahrungen zu öffnen. Damit aber eröffnen sich neue Wege der Lebensbewältigung. Freilich werden dabei viele Aussagen unserer kirchlichen Tradition in Frage gestellt, unser christlicher in Lehrsätze gefasster Glaube wird relativiert. Andererseits aber werden die christlichen Überlieferungen aus ihrer Dogmatisierung befreit, werden lebendig und bleiben nicht eingesperrt in orthodoxen Systemen, sondern haben die Chance, Individuen und Gruppen zu verändern und Sinn gebende Horizonte zu eröffnen.
* Überarbeiteter Vortrag bei der Kairos.Akademie am 24.03.2012
[1] Paul Tillich, Symbol und Wirklichkeit, Göttingen 1962, S.3
[2] C.G. Jung, Grundfragen der Psychotherapie, in: G.W.XVI, S.49
[3] C.G. Jung, Psychoanalyse und Seelsorge, in: G.W. XI, S. 362
[4] Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Göttingen, 2. Aufl. 1965
[5] Paul Tillich, Symbol und Wirklichkeit, aaO., S. 4 f.
[6] Erich Fromm, Märchen, Mythen, Träume, Eine Einführung in das Verständnis einer vergessenen Sprache, rororo 7448, Hamburg 1981, S.14
[7] A. Guggenbühl-Craig, Macht als Gefahr beim Helfer, Basel 1975, S. 62
[8] Erich Neumann, Die große Mutter, Olten und Freiburg/Breisgau 1978 (3), S.27
[9] Paul Tillich, G.W. VIII, S. 297
[10] C.G. Jung, Briefe I, Olten 1973 (2), S. 85 f.
[11] C.G. Jung, Psychologie und Alchemie, G.W. XII, S. 328
[12] Nörenberg, K.E., Analogia Imagines, Gütersloh 1966, S. 83
[13] C.G. Jung, Psychologie und Religion, in: G.W. XI, S. 41
[14] Paul Tillich, aaO., S. 118
[15] Helmut Hark, Der Traum als Gottes vergessene Sprache, Olten 1982 (2), S. 27
[16] Erich Fromm, aaO., S.15
[17] Die Bezeichnung des Traumes als “Gottes vergessene Sprache”, wie ihn Hark, a.a.O., übernimmt, taucht auch bei Fromm, a.a.O., auf z.B., 14: “Aber der moderne Mensch hat diese Sprache vergessen.” Und dann bei J.A. Sanford, Gottes vergessene Sprache (Studie aus dem C.G. Jung-Institut XVIII), Zürich 1966.
[18] Zitiiert bei Erich Fromm, aaO., S. 15 f., Berachot 55
[19] Vgl. K. Bümlein, Traumdeutung in der christlichen Tradition, in: Pfälzisches Pfarrblatt 1977/10/11, 140, „Bei der elementaren Suche nach Vergewisserung der Gnade genügt (Luther)… keine seelische Eigenerfahrung, nur das göttliche Verheißungswort, das von außen kommt.“ „Nolo habere somnia et apparitiones. certoria habeo, verbum Dei“ (WA T 4, 316).
[20] C.G. Jung, Zur Psychologie westlicher und östlicher Religionen, in: G.W. XI, S. 502
[21] Vgl. J. Herzog-Dürck, Personale Psychotherapie und religiöse Erfahrung, in: Psychologie der Kultur, Bd. 1: Transzendenz und Religion, hrsg. von Gion Condreau, Weinheim/Basel 1982, 303. “Die anklingende Wahrheitsstimme in den oft erschütternden Bildern zu erhorchen, das kann im amplifizierenden Gespräch über den Traum zum Erlebnis werden. Auch ein Mensch, der sich niemals um religiöse Fragen gekümmert hat, kann sich dabei ganz spontan von einer religiösen Grenzerfahrung betroffen finden.”
[22] Vgl. M.-L. von Franz, a.a.O., 177: “Die Anima verkörpert alle weiblichen Seeleneigenschaften im Manne, Stimmungen, Gefühle, Ahnungen, Empfänglichkeit für das Irrationale, persönliche Liebesfähigkeit, Natursinn und als wichtigstes die Beziehung zum Unbewußten.”
[23] E. Neumann, Die große Mutter, Eine Phänomenologie der weiblichen Gestaltungen des Unbewußten, Olten/Freiburg3 1978, 46 f.
[24] Erich Fromm, aaO.,S. 13
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