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Evangelische Perspektiven 2022

Prof. Dr. DDr. h.c. Ulrich H. J. Körtner

Evangelisch-Theologische Fakultät, Schenkenstraße 8-10, A-1010 Wien

Aufbruch oder Katerstimmung?

Fünf Jahre ist es her, dass man weltweit das fünfhundertjährige Jubiläum der Reformation begangen hat. Der 31. Oktober 2017 wurde in Deutschland sogar zum staatlichen Feiertag erhoben. Er ist es seither dauerhaft in mehreren Bundesländern. Evangelische Kirche und Staat würdigten die Reformation nicht nur als religiöses, sondern als epochales Ereignis der europäischen Geschichte, das Gesellschaft, Politik und Kultur bis heute auf allen Gebieten geprägt hat und weiter prägt. Damit nicht genug, wurde das Reformationsjubiläum erstmals ökumenisch begangen. Es war das erste im ökumenischen Zeitalter. Man gedachte der Ereignisse des 16. Jahrhunderts mit allen Licht- und Schattenseiten, getragen von dem Willen zu weiteren ökumenischen Fortschritten und auch mit dem Vorsatz, sich gemeinsam den gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart und den großen Zukunftsfragen zu stellen. In einer von fortschreitender Säkularisierung und abnehmenden kirchlichen Bindungskräften, von religiösem und weltanschaulichen Pluralismus geprägten Zeit hoffte die evangelische Kirche auf einen spirituellen Neuaufbruch. Der damalige Ratsvorsitzende der EKD, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, schwärmte gar von einer Generation 2017. Anlässlich eines Jugendtreffens schrieb er: „Die Generation 2017 baut mit an der mutigen Kirche der Zukunft. Die Reformation geht weiter.“ 

Fünf Jahre später ist von einer Generation 2017 wenig zu hören, und statt Aufbruchstimmung herrscht eher Katerstimmung. Der bleierne Schatten sexueller Missbrauchsfälle in der katholischen, aber auch in der evangelischen Kirche, das systemische Versagen der katholischen Amtskirche bei ihrer Aufarbeitung und mangelnde Reformfähigkeit ziehen die Kirchen insgesamt in Mitleidenschaft. Die weiter dramatisch steigenden Kirchenaustrittszahlen beider Kirchen belegen das. Für Deutschland prognostiziert das Freiburger Institut Forschungszentrum Generationenverträge (FZG), dass sich die Mitgliederzahl der beiden großen Volkskirchen bis 2060 halbieren wird. Die Zahl der evangelischen Christen würde demnach von derzeit 21,5 Millionen auf 10,5 Millionen sinken. Im Frühjahr 2022 betrug die Gesamtzahl derer, die in Deutschland noch einer der beiden großen Volkskirchen angehören, weniger als 50 Prozent. Die Mitgliederzahl der evangelischen Kirche hat bereits die Marke von 20 Millionen unterschritten.

Was also bleibt vom Erbe der Reformation? Welche Impulse gehen von ihr weiterhin aus? Welche Kernbotschaft enthält sie, die auch heute noch wegweisend und ermutigend ist?

Hammerschläge

Am 31. Oktober 1517 veröffentlichte Martin Luther seine 95 Thesen zum Ablasswesen. Ob er seine Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche genagelt hat, ist historisch umstritten. Neue Forschungen legen nahe, dass der Thesenanschlag tatsächlich stattgefunden hat und keineswegs in das Reich der Legende gehört. Demnach hätte die Reformation nicht – wie die 94. Symphonie Joseph Haydns – mit einem Paukenschlag, aber mit Hammerschlägen begonnen.

Das Bild des Hammers weckt starke Assoziationen. Haben nicht Luther und seine Anhänger die mittelalterliche Kirche zertrümmert? Die einen sehen das als Befreiungsschlag, die anderen als Zerstörungswerk, das zur Spaltung der abendländischen Christenheit führt. Damit nicht genug, hallen Luthers Hammerschläge noch bis zu dem Pfarrerssohn Friedrich Nietzsche nach, der mit dem Hammer philosophieren und den Gottesgedanken als metaphysischen Wahn zertrümmern wollte.

Ob Aufbruch oder Abbruch – die Reformation lässt sich nicht allein auf Person und Werk Martin Luthers reduzieren, so unbestritten seine überragende historische Bedeutung ist. Der 31. Oktober 1517 ist lediglich ein symbolisches Datum für den kirchlichen, gesellschaftlichen und geistigen Aufbruch, der die Reformation war und dessen Ausstrahlungen und Wirkungen bis ins Heute reichen. Wer über Erbe und Auftrag der Reformation nachdenkt, kommt auch an den übrigen Reformatoren der ersten und zweiten Generation nicht vorbei, allen voran an Ulrich Zwingli, Philipp Melanchthon, Martin Bucer und Johannes Calvin, um nur die wichtigsten zu nennen. Man kommt aber auch nicht umhin, die Transformationsprozesse zu bedenken, die seit der Aufklärung innerhalb wie außerhalb des Protestantismus stattgefunden haben. So gewiss die Moderne nicht ohne die Impulse der Reformation vorstellbar ist, so sehr liegen doch auch zwischen Reformation und Moderne erheblich Umbrüche.

Kirchenkrise – Glaubenskrise

Die Reformation lässt sich weder einseitig als Sieg des modernen Individualismus feiern, noch einseitig als Kirchenspaltung und Beginn einer fortschreitenden Zersplitterung des abendländischen Christentums beklagen. Die Licht- und Schattenseiten der Reformation sind vielmehr gleichermaßen anzusprechen. Zwischen einem kritischen Gedenken und einem fröhlichen Feiern besteht kein ausschließendes Entweder–Oder. Es gibt gute Gründe, das Erbe der Reformation auch im Jahr 2022 dankbar und fröhlich zu feiern – und zwar im ökumenischen Geist. Die römisch-katholische Kirche ist eingeladen, sich zu fragen, was sie positiv der Reformation zu verdanken hat, auch wenn sie sich ihr bis heute nicht anzuschließen vermochte. Die evangelischen Kirchen sollten sich prüfen, was sie in Geschichte und Gegenwart der katholisch gebliebenen römischen Kirche für das eigene Evangelischsein verdanken. Was bedeutet es für das eigene Verständnis des Evangeliums, des Christseins und der Kirche, dass sich eben nicht die ganze abendländische Christenheit der Reformation angeschlossen hat? Und welche Impulse gehen vom Erbe der Reformation für den gemeinsamen ökumenischen Weg in die Zukunft aus? Stellt man sich gemeinsam diesen Fragen, dann lässt sich vielleicht ein ökumenisches Verständnis von Katholizität entwickeln, das zugleich gut evangelisch ist.

An dieser Stelle sei eine kleine Bemerkung zum Synodalen Weg der römisch-katholischen Kirche in Deutschland und den heftigen Debatten, die auch auf Ebene der katholischen Weltkirche geführt werden, erlaubt. In einem Interview, das Papst Franziskus im Mai 2022 geführt hat, ist er zum deutschen Reformprozess erkennbar auf Distanz gegangen. So erzählt er launig, er habe den Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing wissen lassen, es gebe bereits eine sehr gute evangelische Kirche in Deutschland. Man brauche nicht zwei von ihnen. Der Papst bemängelt außerdem, dass der Synodale Weg ein stark von äußeren Faktoren beeinflusstes Projekt der intellektuellen, theologischen Eliten sei.

Aus evangelischer Sicht erscheint mir die Einschätzung, der Synodale Weg könnte im Ergebnis zu einer Protestantisierung der römisch-katholischen Kirche oder gar zu einer zweiten evangelischen Kirche führen, als zu vordergründig. Es geht im Kern nicht um eine zweite Reformation, sondern um eine katholische Reform. Konsequent zu Ende gedacht, könnte der Synodale Weg allerdings darauf hinauslaufen, dass neben der Altkatholischen Kirche und der römischen eine weitere katholische Kirche entsteht – gewissermaßen eine deutscheNeuerfindung des Katholizismus.

Was allerdings beiden Kirchen, der evangelischen wie der römisch-katholischen zu denken geben muss, ist das Ergebnis einer Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD vom Frühjahr 2022. Sie zeigt, dass die gegenwärtige Sozialform der katholischen Kirche für Austrittswillige nicht die Hauptrolle spielt. Schließlich verlassen auch Protestanten ihre Kirche trotz demokratischer Strukturen. Der ernüchternde Befund lautet, dass vielen Menschen Kirche und Religion einfach gleichgültig sind. Die Kirchenkrise ist eben nicht nur eine Glaubwürdigkeits-, sondern auch eine Glaubenskrise. In dieser Krise gilt es, die Glaubenspotentiale der Reformation neu zu entdecken und zu bedenken.

Evangelische Freiheit und moderne Freiheitsdiskurse

Die bleibende Bedeutung der Reformation besteht darin, die Freiheit als Inbegriff des Evangeliums von Jesus Christus neu entdeckt und zur Geltung gebracht zu haben, zugleich aber auch die Gleichheit im Sinne des Priestertums aller Gläubigen. Und tatsächlich hat die Reformation nicht nur religiöse, sondern auch politische und gesellschaftliche Umbrüche hervorgerufen, die bis heute nachwirken.

Tatsächlich war die Reformation in vielfältiger Hinsicht eine Befreiungsbewegung, in der es um die Freiheit von klerikaler Bevormundung ebenso ging wie um politische und soziale Freiheiten. Die Aufklärung wertete die Reformation trotz aller Kritik als eine Entwicklungsstufe auf dem Weg zur Freiheit des Geistes und aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen. Der linke Flügel der Hegelschule deutete die Reformation als Vorstufe der bürgerlichen und dann der kommunistischen Revolution, deren Ziel ein utopisches Reich der Freiheit war. Auch die Befreiungstheologie des 20. und 21. Jahrhunderts begreift die Reformation und ihre Theologie als eine Form der politischen Theologie.

Die Pointe von Luthers Freiheitsverständnis liegt freilich darin, dass der Mensch nicht etwa zu sich selbst, sondern von sich selbst befreit werden muss. Nicht in kirchlichen oder politischen Freiheitsforderungen, sondern in der Rechtfertigungslehre liegt das Zentrum der Freiheitslehre Luthers. Man missversteht diese jedoch, wenn man seine Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders auf die Formel verkürzt, Gott nehme jeden Menschen so an wie er ist, und gebe uns die Kraft, mit uns Freundschaft zu schließen, frei nach dem Motto: „Ich bin ok, du bist ok.“ Vielmehr wird Luther nicht müde zu erklären, dass uns Gott bedingungslos annimmt, obwohl wir so sind, wie wir sind, damit wir um Christi willen, gerade nicht dieselben bleiben, sondern neu werden.

Von Hause aus ist der Mensch stets um sich selbst besorgt. Er kreist um sich und neigt dazu, auch die übrigen Menschen seinen eigenen Zwecken und Wünschen dienstbar zu machen. Das Gleiche geschieht in der Religion, wenn der Mensch versucht, auch Gott seinen eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen zu unterwerfen. Auf uns selbst zurückgeworfen und fixiert, sind wir im Grunde einsame Wesen, die einander die Liebe schuldig bleiben und Gott als den Grund unseres Daseins verleugnen. Aus dieser Einsamkeit und Selbstfixiertheit werden wir nach Luther durch Jesus Christus befreit. Wo das einsame und um sich selbst besorgte Ich ist, soll Christus werden, der uns für Gott und den Mitmenschen öffnet. Durch Christus, so Luther, werden die Menschen zu einem Glauben befreit, der Gott bedingungslos im Leben und im Sterben vertraut, weil er sich von Gott bedingungslos angenommen weiß. Gott, so Luther, liebt uns Menschen ohne Vorleistungen und senkt die Liebe zu ihm und unseren Mitmenschen in unser Herz.

Freiheit und Verantwortung

Die Reformation kann uns den Blick schärfen für die Ambivalenzen und Gefährdungen der Freiheit in der heutigen Gesellschaft. Einerseits herrscht heute ein Maß an individueller Freiheit und Vielfalt der Lebensweisen, wie dies noch vor fünfzig, sechzig Jahren kaum denkbar erschien. Die bürgerliche Freiheit oder auch die Freiheit des Konsumenten erzeugt freilich nur zu oft einen Schein von Freiheit. Die Freiheit ist nicht nur durch äußere Zwänge, sondern auch durch innere Unfreiheit bedroht. Und der Zuwachs an Freiheit und Eigenverantwortung wird von vielen Menschen als Last, wenn nicht gar als Überforderung empfunden. 

Zu den Impulsen der Reformation gehört ein Verständnis von Freiheit und Verantwortung, das sich einerseits vom Neoliberalismus durchaus abhebt, weil die Reformatoren von einer Freiheit gesprochen haben, die sich nur in der Gemeinschaft mit Gott und den Menschen verwirklichen lässt. Die reformatorische Botschaft der Freiheit ist andererseits auch von nationalistischen Freiheitsparolen scharf zu unterscheiden. Der Gott, der in Jesus Christus Mensch geworden ist, ist kein Nationalgott und seine Gemeinschaft keine auf Ausgrenzung bedachte Volksgemeinschaft. Die nationalistische Vereinnahmung der Freiheitspredigt Luthers in der deutschen Geschichte gehört vielmehr zu den historischen Verirrungen des Protestantismus.

Zur Freiheit befreit

Gegen solche Verzerrungen können wir uns schützen, indem wir aufmerksam lesen, was im Neuen Testament zur Freiheit gesagt wird. Luther zitiert den Apostel Paulus, der in seinem Brief an die Galater geschrieben hat: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit. So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“ (Galater 5,1) Paulus und Luther sprechen von einer Freiheit, die wir Menschen nicht schon von Haus aus besitzen. Sie ist auch kein unverlierbares Gut. Freiheit kann nicht nur missbraucht, sie kann auch verspielt werden. 

Wahre Freiheit besteht in der Befreiung des Menschen von seiner Sünde durch Gott, und das heißt im Sinne Luthers und der übrigen Reformatoren: in der Befreiung vom Unglauben. Glaube bedeutet nach Luther, Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen. Der Unglaube ist das Gegenteil. Die Befreiung vom Unglauben bedeutet also die Befreiung zu einem unbedingten Vertrauen auf Gott als tragendem Grund unseres Daseins. Und die so gewonnene Freiheit meint die Freiheit von der Selbstsorge um das eigene Dasein. Wer nur um sich selbst besorgt ist, ist unfrei und auf sich selbst fixiert. Er ist, wie Luther sagt, in sich selbst gekrümmt (lateinisch: homo incurvatus in seipsum).

Nach reformatorischem Zeugnis kann sich der Mensch aus der selbstverschuldeten Unfreiheit der Sünde nicht selbst befreien, sondern einzig durch Gott befreit werden. Der Vorgang der Befreiung aus seiner Selbstverkrümmung wird im Anschluss an Paulus als Rechtfertigungsgeschehen gedeutet. Die bedingungslose Vorgabe nötigt zur klaren Unterscheidung zwischen dem empfangenden und dem tätigen Wesen des Glaubens. Der Glaube ist in erster Linie kein Tun, sondern ein Empfangen. 

Befreiende Bibellektüre

Luther fand zum Evangelium der Freiheit und zur Gewissheit des Glaubens durch das intensive Studium der Bibel. So wurde die Reformation zu einer Bibellesebewegung und damit einhergehend zu einer Bildungsbewegung. Die Bibel, davon waren die führenden Köpfe der Reformation überzeugt, gehört nicht in die Hand weniger, sondern in diejenige aller Christenmenschen, die durch die eigenständige Lektüre, aber auch durch das gemeinschaftliche Hören auf das Wort Gottes zur Mündigkeit in Glaubensdingen gelangen. Es war dann später vor allem der Pietismus, der die evangelische Bibelfrömmigkeit intensivierte und bis heute geprägt hat. Allerdings muss man kritisch feststellen, dass es um die Bibelfrömmigkeit in breiten Kreisen des protestantischen Christentums heute nicht gut bestellt ist. Zwar ist die neu revidierte Lutherbibel 2017 zu einem ungeahnten Bestseller geworden. Die erste Auflage war binnen weniger Wochen ausverkauft. Aber das heißt doch nicht unbedingt, dass die Bibel auch wirklich intensiv gelesen wird und ein beständiger Lebensbegleiter ist. Es genügt eben nicht, sich auf den Geist der Reformation zu berufen oder vom Geist des Protestantismus zu sprechen und gleichzeitig zu meinen, man könne die Quelle reformatorischen Glaubens hinter sich lassen.

Ich möchte an dieser Stelle an Luthers letzte Notiz erinnern, die er auf dem Sterbebett 1546 auf einen Zettel schrieb: „Virgil in der Bucolia und Georgica kann keiner verstehen, der nicht fünf Jahre lang Hirte oder Bauer war. Cicero in seinen Briefen (so vermute ich) versteht keiner, der nicht zwanzig Jahre lang in einem bedeutenden Staatswesen tätig war. Die heiligen Schriften meine keiner genug geschmeckt zu haben, der nicht hundert Jahre lang mit den Propheten die Gemeinden geleitet hat. Diese göttliche Äneis suche nicht zu ergründen, sondern bete demütig ihre Spuren an. Wir sind Bettler: hoc es verum.“ 

Zum Priestertum aller Gläubigen gehört die beständige Lektüre der Bibel, und sich zu solcher Lektüre in ökumenischer Geschwisterlichkeit neu einladen zu lassen, gehört für mich zu den wichtigsten Impulsen der Reformation bis heute. Durch Luther und die übrigen Reformatoren können wir uns auch heute noch anleiten lassen, das Neue Testament – um mit dem bedeutenden Theologen Ernst Käsemann zu sprechen – „gleichsam als Dokument des ersten Aufbruchs in die evangelische Freiheit“  zu lesen. 

Kritische Selbstprüfung

Der Tübinger Exeget hat freilich auch an die in der Kirchengeschichte ständig präsente Versuchung erinnert, die durch Christus geschenkte Freiheit auf das Gebiet der religiösen Innerlichkeit zu beschränken. Man fällt auf dem Weg der christlichen Freiheit immer wieder zurück, so dass alte Wahrheit nicht nur in der Reformationszeit neu entdeckt werden musste, sondern „stets neu zu entdecken ist“, wie Käsemann schreibt. „Die Geschichte der christlichen Freiheit ist in diesem Sinne ein Leidensweg, auf den die Kirchen weniger mit Stolz als mit Scham zurückzublicken haben.“ Das gilt zweifellos auch für die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen.

Beispielhaft ist hierfür der Kirchenkampf in der Zeit des Nationalsozialismus. Teile der evangelischen Kirche übten Verrat am Evangelium der Freiheit. Denen, die bereit waren, sich mit dem NS-Staat zu arrangieren oder mit ihm zu paktieren, hielt die Bekennenden Kirche in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 entgegen: Durch Christus „widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften.“ Diese Sätze gelten auch heute und sind der Kirche zur beständigen Selbstprüfung gesagt, bejahen doch die evangelischen Kirchen ausdrücklich die Barmer Theologische Erklärung als verbindliches Zeugnis für ihren Dienst in der Welt. In diesem Sinne ist das Evangelium der Freiheit nicht nur kirchengründend, sondern auch Grund und Maßstab von Kirchenkritik.

Tun und Lassen

Recht verstanden ist die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben eine Freiheitslehre, die auch für die Ethik erheblich Konsequenzen hat. Christliche Ethik nach evangelischem Verständnis ist grundsätzlich als eine vom Geist der Liebe bestimmte Form der Verantwortungsethik zu verstehen. Die evangelische Sicht von Verantwortung hängt unmittelbar mit dem Glauben an die Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben zusammen. Auf ihr beruht die Unterscheidung von Person und Werk, die vom Zwang der Selbstrechtfertigung befreit – und gerade so zur Übernahme von Verantwortung befähigt. Die Wahrnehmung und Übernahme von Verantwortung geschieht nicht nur im Wissen darum, dass Menschen scheitern können, sondern auch im Vertrauen darauf, dass uns vergeben wird. Verantwortung ist nicht nur aus dem Geist der Liebe und der Freiheit zu übernehmen. Sie ist auch im Geist der Freiheit auszuüben, um gerade so dem Spannungsfeld von Autonomie und Abhängigkeit, von Spontaneität und menschlicher Grundpassivität gerecht zu werden, die im Evangelium von der zuvorkommenden und den Menschen ohne Werke rechtfertigende Gnade Gottes zum Thema wird. 

Wie Luther nicht müde wird zu betonen, wird der Mensch einerseits ohne Werke des Gesetzes gerechtfertigt, während doch andererseits ein Glaube ohne Werke, verstanden als Früchte des Glaubens und Ausdruck der Dankbarkeit gegenüber Gott, tot ist. Luthers Kritik an der spätmittelalterlichen Werkgerechtigkeit und Gesetzlichkeit ist auch heute ungemein aktuell. Wir können sagen, dass eine rechtfertigungstheologisch begründete Ethik nicht so sehr eine solche des Tuns als vielmehr eine Ethik des Lassens ist. Plakativ lautet das Motto einer an der Rechtfertigungslehre gewonnenen Ethik des Sein-Lassens in Umkehrung des Satzes aus Jakobus 1,22: „Seid aber Hörer des Wortes und nicht Täter allein, wodurch ihr euch selbst betrügt!“ Das Evangelium als Rede vom Handeln des rechtfertigenden Gottes beschreibt den Menschen, und zwar gerade den zum Handeln aufgerufenen, als rezeptives Geschöpf Gottes, das sein Leben wie Gottes Gnade nur von Gott allein empfangen kann. Die Lebensform aber, in der die Rezeptivität des Menschen ausdrücklich wird, ist das Hören. Der gläubige Mensch ist ganz Ohr. Das Hören des Wortes Gottes ist allerdings ebensowenig gegen das menschliche Tun auszuspielen wie umgekehrt, doch liegt nach biblischer Auffassung ein eindeutiges Gefälle vom Hören zum Tun vor, so dass dem Hören theologisch der Primat zukommt.

Es gilt, das Evangelium, d.h. die gute Nachricht von der Rechtfertigung des Gottlosen allein durch den Glauben, gegen seine Verkürzung auf eine bestimmte Moral zu schützen. Die Rechtfertigungsbotschaft ist freilich ebenso gegen das Missverständnis zu schützen, als komme es auf das menschliche Tun und Lassen gar nicht an. Der Glaube ermutigt und befähigt gerade zur Verantwortungsübernahme vor Gott und den Menschen. Die Aufgabe einer evangelischen Ethik besteht darin, den inneren Zusammenhang von Freiheit, Liebe und Verantwortung zu verdeutlichen und für das gegenwärtige Handeln in Gesellschaft und Politik fruchtbar zu machen.

Das gilt nun auch für alle Reformdiskussionen in der evangelischen Kirche. Zu Recht kritisiert die Praktische Theologin Birgit Weyel eine „Art Aufregungsbewirtschaftung à la ‚Es muss etwas getan werden‘, auch weil angeblich nur noch ein verhältnismäßig schmaler zeitlicher Korridor bleibt, wo man noch etwas ändern kann“, warnt aber genauso richtig vor „einem schlichten ‚Weiter so‘“. Auch die reformatorische Parole der ecclesia semper reformanda hat im Evangelium vom Gnadenhandeln Gottes in Jesus Christus ihren Grund und Maßstab. Die liberaltheologische bzw. kulturprotestantische Interpretation dieser Formel verfehlt deren Aussageabsicht. Vorformen lassen sich im 17. Jahrhundert nachweisen, tatsächlich aber wurde die Formel in der heute bekannten Weise von Karl Barth geprägt. Sie steht eben nicht für den „ewigen Protest“ (Lauster), nicht für einen Protestantismus als Prinzip und auch nicht für menschliche Reformprogramme, sondern für Gottes erneuerndes Handeln an seiner Kirche und an den einzelnen Menschen. Die von Barth geprägte Formel ist der Theologie Luthers kongenial, der sich selbst nicht als Reformator, sondern lediglich als Vorreformator verstanden hat, welcher wie Johannes der Täufer auf Christus und sein Wort, nämlich das Evangelium von der freien Gnade Gottes, verweist. Der eigentliche Reformator der Kirche ist und bleibt Gott allein.

Was Theologie und Kirche zur Erneuerung des christlichen Glaubens beitragen können, ist tätiges Warten. Vom Warten sprechen wir nicht nur in der Bedeutung des Abwartens, sondern auch im Sinne des Hegens und Pflegens (Wartungsdienst), im Sinne der Vorbereitung auf das, was kommen mag und also auch im Sinne der Wachsamkeit, zu der die Christen im Neuen Testament aufgerufen werden. Das Warten auf die Offenbarung bzw. die Wiederkunft Christi auf die Herrlichkeit Gottes und einen neuen Himmel und eine neue Erde ist ein Grundmotiv im ganzen Neuen Testament. Paulus sagt es so: „Wir warten im Geist und aus Glauben auf die Erfüllung unserer Hoffnung: die Gerechtigkeit“ (Gal 5,5).

Dietrich Bonhoeffer schrieb seinem Patenkind Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge zum Tauftag als Vermächtnis: „Es ist nicht unsere Sache, den Tag vorauszusagen – aber der Tag wird kommen –, an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, dass sich die Welt darunter verändert und erneuert“. Ganz so schrieb auch Luther 1518, die Zeit, wann die Reformation als das Werk Gottes vor sich gehen werde, kenne „nur der, der die Zeit geschaffen hat“. 

Eine wartende Kirche im Sinne Bonhoeffers „wartet, indem sie arbeitet“. Dazu gehört auch gediegene theologische Arbeit. Theologie, die sich mit letzter Redlichkeit einer Situation stellt, in welcher der christliche Glaube eben nicht fraglos gegeben ist, ist wartende Theologie, die nicht zu allem und jedem etwas zu sagen hat, sondern bisweilen nur qualifiziert schweigen kann und auch in Glaubensfragen ihre Sprachnot nicht kaschiert. Sie ist ferner in dem Sinne wartende Theologie, dass sie das Erbe des biblischen Zeugnisses hütet, getragen von der Hoffnung, dass es neu zu sprechen beginnt. Wartende Theologie dient der Einübung in ein Christsein, das, wie Bonhoeffer gesagt hat, in dreierlei besteht, nämlich nicht nur im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen, sondern auch im Warten auf Gottes Zeit.

Vortrag am 31. Oktober 2022 in der Ludwigskirche Saarbrücken. Der Autor ist Professor für Systematische Theologie und Religionswissenschaft an der Universität Wien. Die Veröffentlichung wurde vorgeschlagen von Frank-Matthias Hofmann, Johanna-Wendel-Straße 15, 66117 Saarbrücken.

Fussnoten:

1  Vortrag beim Reformationsempfang der Kirchenkreise an der Saar am 31.10.2022 in der Ludwigskirche, Saarbrücken. Zum Ganzen siehe auch Ulrich H.J. Körtner, Das Evangelium der Freiheit. Potentiale der Reformation, Wien 2017; ders., Reformatorische Theologie im 21. Jahrhundert (ThSt NF 1), Zürich 2010.

https://chrismon.evangelisch.de/kolumnen/auf-ein-wort/34814/heinrich-bedford-strohm-ueber-die-generation-2017 (letzter Zugriff: 26.7.2022).

3  Vgl. Christoph Markschies, Aufbruch oder Katerstimmung? Zur Lage nach dem Reformationsjubiläum, Leipzig 2017.

4  Vgl. Kirche im Umbruch. Zwischen demografischem Wandel und nachlassender Kirchenverbundenheit Eine langfristige Projektion der Kirchenmitglieder und des Kirchensteueraufkommens der Universität Freiburg in Verbindung mit der EKD, Hannover 2019.

5  Vgl. Joachim Ott/Martin Treu (Hg.), Luthers Thesenanschlag – Faktum oder Fiktion, Leipzig 2008.

6  Text unter https://www.herder.de/stz/online/papst-franziskus-im-gespraech-mit-den-europaeischen-kulturzeitschriften-der-jesuiten/, 19.5.2022 (letzter Zugriff: 26.10.2022).

7  Vgl. Petra-Angela Ahrens, Kirchenaustritte seit 2018: Wege und Anlässe. Ergebnisse einer bundesweiten Repräsentativbefragung, Baden-Baden 2022. 

8   Vgl. Luthers Auslegung des 1. Gebotes im Kleinen Katechismus.

9  Luthers letzter Zettel in der Rekonstruktion von Oswald Bayer, Vom Wunderwerk, Gottes Wort recht zu verstehen, in: KuD 37 (1991), 258–279, hier 258.

10   Ernst Käsemann, Der Ruf der Freiheit, Tübingen 51972, S. 11. Siehe darin Kapitel 2 „Das Evangelium der Freiheit“ (55–78).

11  A.a.O. (Anm. 10), 55.

12  Ebd.

13   Barmer Theologische Erklärung, These 2, zitiert nach Evangelischem Gesangbuch (EG), Ausgabe der Evangelischen Kirche in Österreich, Wien 1994, Nr. 810.

14   Vgl. Ulrich H.J. Körtner, Evangelische Sozialethik. Grundlagen und Themenfelder (UTB 2107), Göttingen 42019, 23.

15   Vgl. auch Ulrich H.J. Körtner, Liebe, Freiheit und Verantwortung. Grundzüge evangelischer Ethik, in: Richard Amesbury/Christoph Ammann (Hg.), Was ist theologische Ethik? Beiträge zu ihrem Selbstverständnis und Profil, Zürich 2015, 29–47.

16   Vgl. Hans Weder, Neutestamentliche Hermeneutik, Zürich 1986, 145ff.

17   Siehe Röm 10,17!

18   Birgit Weyel, „Nachsteuern kaum möglich“ (Interview: Reinhard Mawick), in: zeitzeichen 2, 2020, https://zeitzeichen.net/index.php/node/8052   (letzte Zugriff: 26.10.2022). 

19  Vgl. Chr. Markschies, a.a.O. (Anm. 3), 123ff. 

20   Vgl. Ulrich H.J. Körtner, Theologie in dürftiger Zeit, München 1990, bes. 56ff; Hartmut Rosenau, Vom Warten. Grundriss einer sapientialen Theologie. Neue Zugänge zur Gotteslehre, Christologie und Eschatologie, Münster 2012.

21   Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. Christian Gremmels, Eberhard Bethge u. Renate Bethge in Zusammenarbeit mit Ilse Tödt (DBW 8), Gütersloh 19988), Gütersloh 1998, 436.

22   Martin Luther, Werke (WA 1), Weimar 1883, 627.

23   Dietrich Bonhoeffer, Die Bekennende Kirche und die Ökumene, EvTh 2, 1935, 245–261, jetzt in: ders., Illegale Theologenausbildung: Finkenwalde 1935–1937, hg. v. Otto Dudzus u. Jürgen Henkys in Zusammenarbeit mit Sabine Bobert-Stützel, Dirk Schulz u. Ilse Tödt (DBW 14), Gütersloh 1996, 378–399, hier 397.

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