Evangelische Kirche und Öffentlichkeit

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Sabine Fritsch

Die Frohe Botschaft vom kommenden Reich Gottes drängt in die Öffentlichkeit

Im Neuen Testament wird berichtet, wie Johannes der Täufer mit seinem Aufruf zur Buße und der Botschaft vom kommenden Reich Gottes an die damalige Öffentlichkeit (Mk. 1,1-8) heran trat. Er ist darin in einer Reihe mit alttestamentlichen Propheten zu sehen, die Vergleichbares taten, um das Wort Gottes unter und an möglichst viele Menschen zu bringen, und dies auch durchaus an anderen als dafür üblicherweise vorgesehenen Orten.
Über den Täufer hinaus ging Jesus von Nazareth, als er umherzog und seine Verkündigung vom kommenden Reich Gottes mit Zeichenhandlungen unterstützte (Mt. 4,23f.).Und er beauftragte seine Anhänger und Anhängerinnen, dies ebenso zu tun und zwar sowohl in seinen irdischen Tagen (Mk.3,13ff.) als auch nach der Auferstehung (Mt. 28,16ff.).
Schon bei Jesus findet sich eine bemerkenswerte Differenzierung nach Zielgruppen, z.B. seiner Anhängerschaft einerseits und einer fernerstehenden Zuhörerschaft andererseits (Mt. 13,10ff.), oder – wie wir heute sagen – einer Kerngemeinde und fern(er)stehenden lnteressierten.
Das Pfingstwunder bewirkte, daß die Jünger und Jüngerinnen mit der Frohen Botschaft von der Auferstehung Jesu Christi in und an die Öffentlichkeit traten (Apg.2). Selbst die Vertriebenen (»Zerstreuten«) trugen die Gute Nachricht in die Welt (Apg.8,4).
Paulus von Tarsos, Weltreisender in Sachen Evangelium, wurde nicht müde deutlich zu machen, wozu er sich beauftragt fühlte: öffentlich den gekreuzigten Christus zu predigen – allen erdenklichen Widerständen zum Trotz (l.Kor.1,23ff.). Mehr noch: Galt es doch, allen Menschen die Versöhnung Gottes auszurichten und dafür war Öffentlichkeit nun einmal zwingend notwendig (2.Kor.5, 18ff.).
Dafür begab sich der Apostel auch in die »Höhle des Löwen«, z.B. auf den Areopag, wo er die Deisidiamonia der Athener lobte und ihre diffusen religiösen Gefühle in einer Missionspredigt für Heiden auf den einen Gott zu lenken versuchte (Apg. 17,22-31). Er bediente sich dabei auch Formen religiöser und/oder politischer Apologetik (Apg.17+18), um für die Sache Christi zu werben. Und scheute sich nicht, auf damals gängige Begriffe, Formen oder Methoden zurück zu greifen (seine Neufüllung des gängigen diakonein-Begriff oder – wie von Lukas übermittelt – bei der Areopag-Rede z.B. auf Elemente stoischer Philosophie) und sie im Sinne seiner Verkündigung zu nutzen und ggf. auch zu verändern; schließlich ging es ihm um den Aufbau der Gemeinde und dafür nutzte er die damals vorhandenen (Kommunikations-) Mittel.
Doch schon beim Völkerapostel wurden Schwierigkeiten deutlich zwischen Angebot und (Kunden-)Nachfrage, wie sie sich auch bei den Auseinandersetzungen in Korinth zeigten (l.Kor.1,23ff)wie auch die Konkurrenzsituation am Markt mit anderen Anbietern christlicher wie nicht-christlicher Provenienz (Apg. 19).

Von der einen und den vielen anderen Öffentlichkeiten

Die menschliche Sehnsucht nach einer gemeinsamen Sprache und Kultur, eben auch nach einer gemeinsamen Öffentlichkeit, wie auch die Erfahrung des Verlustes derselben begegnen in der Bibel z.B. in den Geschichten von der babylonischen Sprachverwirrung (l. Mos. 11) und vom Pfingstwunder (Apg.2).
Die Ausdifferenzierung der westeuropäischen Gesellschaft ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert brachte anstelle der einen für eine Vielzahl von Menschen gemeinsamen Öffentlichkeit eine Vielzahl davon hervor. Das »Corpus Christianum«, wie es sich ab dem 4. Jahrhundert als Einheit von Religion, Kultur und Gesellschaft entwickelt hatte, löst(e) sich zunehmend auf. Übrig blieb oder bleibt – auf unser Land bezogen – nach Ansicht des Wochenmagazins DER SPIEGEL: »ein heidnisches Land mit christlichen Restbeständen«. Entstanden sind dabei viele verschiedene, heute oft medial geprägte und/oder vermittelte Öffentlichkeiten, deren Repräsentanten nur bedingt in der Lage sind, untereinander zu kommunizieren, babylonische Sprachverwirrung à la l.Mos. 11 pur.
Medien, vor allem (audio-)visuelle Medien bestimmen in einem hohen Maß die öffentliche Kommunikation, indem sie die Vermittlung von Informationen und Meinungen übernehmen und so Wirklichkeiten konstruieren: Wirklichkeiten aus zweiter Hand; medial konstruierte und vermittelte Wirklichkeiten, die nicht selten an die Stelle von eigenen Erfahrungen treten. 

Wahrnehmung von Kirche(n) in Öffentlichkeit
Wenn es um Kirche in der Öffentlichkeit oder in den Medien geht, geschieht selten eine konfessionelle Differenzierung: Viele denken beim entsprechenden Stichwort sofort an die anschauliche(re) römisch-katholische Kirche, die so viel zu bieten hat an Struktur und Überschaubarkeit, an Themen und Personen, nicht zuletzt an Ritus und Farbenfreude.
Aufgrund ihrer klaren Positionen zu bestimmten (Reiz-)Themen wie z.B. § 218, Zölibat oder Frau im Amt usw. darf sich die römisch-katholische Geschwisterkirche der öffentlich-medialen Aufmerksamkeit sicher sein.
Zwar haben sich die evangelischen Kirchen z.B. bei den Fragen rund um Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, und – neuerdings – auch in der Asyldiskussion durch entsprechenden Denkschriften vernehmlich zu Wort gemeldet und z.T. auch eingemischt, doch waren und sind sie dabei bei weitem nicht so deutlich auszumachen wie der scheinbar monolithische Block der römisch-katholischen Seite.
Natürlich erfahren die Kirchen gelegentlich auch einmal öffentliches Lob wie anläßlich der Veröffentlichung des Sozialpapiers(1), aber richtig ökumenisch vereint erleben sie, daß es die bad newssind, die Kirche vorzugsweise in die Öffentlichkeit bringen und so das zunehmend medial konstruierte und häufig negativ getönte Bild von Kirche(n) befestigen. Das hat sicher zu tun mit einer gewissen und gängigen Institutionskritik und relativiert sich im Einzelfall oft auch durch persönlichen Kontakt, so daß es zu Aussagen kommt wie der folgenden: »Kirche ist blöd, aber mein Pfarrer/meine Pfarrerin ist ja ganz o.k.«.
Denn Kirche wird vorzugsweise personal, also in ihren Repräsentanten im öffentlichen Kommunikationsprozeß wahrgenommen. § 13 der Pfälzischen Kirchenverfassung zum Trotz, es sind – evangelischerseits – häufig genug die Pfarrer und Pfarrerinnen, die pars pro toto für Kirche stehen.
Josuttis hat in seiner entsprechenden Untersuchung herausgefunden, daß »der Pfarrer als Bürge für Kirche, Religion und Gott in der Volkskirche«(2) stehe. Er sei »Bruder und Vorbild«, vor allem aber Zielscheibe für die Idealisierungswünsche anderer(3).
Krusche(4) formulierte es einmal so: »Der Pfarrer erscheint als zentrale Bezugsperson für das, was Kirche in der gegenwärtigen Gesellschaft repräsentiert, unter einer Vielfalt kaum einzugrenzender kommunikativer Aspekte; als Darsteller einer religiösen Institution, Vermittler von Werten, Garant für sinnvolle Tradition, Funktionär einer Organisation – aber auch als weithin akzeptierte Kontaktfigur, Mann allgemeinen Vertrauens, potentieller Gesprächspartner, Begleiter, Berater, Zeremonienmeister usw«.
Die ungewöhnlich positive Medienberichterstattung über den Einsatz von Pfarrerinnen und Pfarrern nach dem Zugunglück von Eschede ist wohl damit zu erklären, daß Kirche hier personal und damit auch sehr persönlich erfahrbar wurde.
In ähnlicher Form gilt dies wohl auch für die Kirchentage.

Chancen des Status Quo
Mit ihrem Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts verbunden sind für Kirche bestimmte Möglichkeiten des Zugangs zu und der Mitgestaltung von Öffentlichkeit (Anspruch auf Sendezeiten, Vertretung in Rundfunkgeräten, usw.).
Die modernen Medien bieten Kirche zeitgemäße Instrumente zur Kommunikation mit ihren inzwischen recht ausdifferenzierten Zielgruppen. Neben die klassischen Formen der Verkündigung, z.B. in einem Gemeindegottesdienst, treten neue wie z.B. die einer Homepage im Internet, dem modernen weltweiten Areopag.
Der Öffentlichkeitsanspruch des Evangeliums erfordert von jeder Zeit ihr gemäße Formen der Verkündigung, wobei bereits vorhandene und bewährte Instrumente der Kommunikation nicht zu vernachlässigen sind.
In demselben Maß, in dem die Selbstverständlichkeit für eine Kirchenmitgliedschaft abnimmt, gewinnt die Mission und die Apologetik an Bedeutung. Die Hauptamtlichen sind hier zuerst in der Verantwortung, da sie – in der Regel – über eine fundierte Ausbildung verfügen. Aber auch der Laienschaft kommt dabei eine nicht geringe Bedeutung zu, da sie in vielen Fällen näher »dran« ist und ihr Zeugnis überzeugender scheint als das der »professionellen« Christinnen und Christen.
»Religion -boomt-, die Kirchen leeren sich«(5), diese Feststellung läßt den spirituellen Hunger sichtbar werden, der augenscheinlich derzeit von Kirche(n) nur unzureichend befriedigt werden kann.
Der römisch-katholischen Kirche wird im spirituell-religiösen Bereich eine größere Kompetenz zugesprochen, während man den Evangelischen mehr Weltverantwortung und Nüchternheit zutraut. Doch darf dies nicht dazu führen, daß biblische Verkündigung und Weltverantwortung verwechselt werden(6).

Unterscheidung tut not – Zur Frage der Mitglieder

Eine bemerkenswerte Differenzierung des Mitgliederbestandes erbrachte eine neue EKD-Umfrage(7): Sie unterschied einen kleinen Prozentsatz Kerngemeinde (ca. 10%) von einem vielfach größeren Satz distanzierter Kirchentreuer (ca. 70%).
Nun ist es eine der Stärken der Volkskirche, daß sie ihren unterschiedlichen Mitgliedern differenzierte Beziehungen zur Institution ermöglicht. Die Bandbreite hierbei reicht von formaler Zustimmung über grundsätzliche Bejahung bis hin zu partieller oder genereller persönlicher Verbundenheit.
Den Alltag (und Sonntag) einer Kirchengemeinde bestimmen in der Regel die, die die Kerngemeinde bilden. Aber es wäre fatal für Kirche, die anderen aus den Augen zu verlieren, die Kirchendistanzierten, für die sich ein gelegentlicher Kontakt mit Kirche ergibt über die Begleitung an den Lebensknotenpunkten (»Rites de passage«), während die klassischen Angebote der Kirchengemeinde (Sonntagsgottesdienste, Frauenarbeit, usw.) für sie weitgehend uninteressant sind. Auch wenn sie im Gemeindealltag nicht die beherrschende Rolle spielen, sind sie zahlenmäßig ein nicht zu gering zu schätzender Faktor.
Und – sie sind weder dem Konjunkturzuschlag von 1974 noch dem Solidaritätszuschlag von 1991/92 zum Opfer gefallen, sondern halten ihrer Kirche die Treue. Nicht nur weil ihre Zahl steigt, muß ihnen und den Gründen ihrer Kirchenverbundenheit künftig größere Aufmerksamkeit gezollt werden als bisher.
Für Wirtschaftsunternehmen ist es heute selbstverständlich, daß sie ein gewisses Budget für Öffentlichkeitsarbeit zur Verfügung stellen. Hier empfiehlt sich für Kirche ein Blick über den eigenen Zaun in Nachbars Garten: Aktive Mitgliederpflege ist angesagt über den Bestand der Kerngemeinde hinaus, gerade auch im Bereich der Distanzierten. Und die Überlegung, daß zwar alle durch die eine Taufe zu dem einen Herrn und seiner Kirche gehören, im Leben oft aber sehr verschiedene Wege gehen und deswegen auf höchst unterschiedliche Weise erreichbar sind.
Desweiteren liegt eine kontinuierliche Zielgruppenarbeit auch und gerade im Bereich von Multiplikatoren im (Überlebens-) Interesse von Kirche.
Die EKD-Umfrage hat deutlich gemacht, daß Kirchendistanzierte manchmal vielleicht recht diffuse, aber immer noch Erwartungen an ihre Kirche haben. Dies betrifft einerseits natürlich die Amtshandlungen wie Taufe, Konfirmation, kirchliche Trauung und Bestattung. Und meint andererseits die öffentliche Präsenz von Kirche z.B. bei der Wertevermittlung im Religionsunterricht und in der Jugendarbeit.
Und nicht zu vergessen: Die Seelsorge, die Begleitung von Menschen auch und gerade in schwierigen Lebenslagen, in denen Halt und Geborgenheit gesucht wird bei Kirche bzw. ihren Repräsentant(inn)en. Oder, um ein Bild zu gebrauchen: Dafür, daß im Pfarrhaus Licht brennt, dafür, daß man einen Platz hat, wo man sich hinflüchten kann, wenn’s Not tut, dafür sind viele bereit, sich auch finanziell zu engagieren.
Wobei der Stellenwert der Diakonie deutlich geringer wird, da bei vielen Aktivitäten der kirchlich-diakonische Hintergrund nicht mehr erkannt wird und entsprechende Aufgabenbereiche zunehmend dem Staat zugeschrieben werden (Kindertagesstätten z.B.).
Wenn die EKD-Umfrage mahnt, die zahlenmäßig größte Gruppe in der Kirche nicht aus dem Blickfeld zu verlieren bzw. ihr größere Aufmerksamkeit zu widmen als bisher, weist sie eine mögliche Richtung an. Ein Teil aktiver Mitgliederpflege könnte u.a. so aussehen, daß in gewissen Abständen eine Befragung der kirchlichen Basis vor Ort geschieht hinsichtlich ihrer Erwartungen an die eigene Kirchengemeinde, indem man in den Gemeindebrief einen Fragebogen einlegt. Und hier könnte man vielleicht im Sinne nachgehender Seelsorge auch einmal die Ausgetretenen fragen, die ja häufig genug auch nicht ohne Erwartungen an Kirche sind.

Nach-Gedanke
Unser Leben wird bestimmt von Spannung und Entspannung, von Arbeit und Erholung.
Die evangelische Theologie hat eine ausgeprägte Theorie – oder gar: Theologie? – der Arbeit hervorgebracht, worauf Max Weber(8) aufmerksam gemacht hat. Vergleichbares zum Thema Entspannung und Erholung fehlt bisher. So mag es sich erklären, daß es in der evangelischen Kirche kaum eine gemeinsame Kultur des Feierns in der Kirche gibt – anders als unsere römisch-katholischen Geschwister – und so dieser Bereich bisher leider anderen Anbietern überlassen wird.
Nun sind Feste und Feiern wesentliche Bestandteile eines erfüllten menschlichen Lebens. Und anders als bei vielfach entfremdeter Arbeit sind sich Menschen gerade beim Feiern oft selber ganz nahe und mit sich im Einklang.
Sinnvoll scheint es daher, ein differenziertes Angebot von Festen und Feiern in der Kirche zu entwickeln, bei denen sich Menschen – anders als in den meisten klassischen kirchlichen Angeboten wie z.B. im Gottesdienst – bewußt begegnen und miteinander kommunizieren können. Vor allem aber gilt es, Gemeinschaftserfahrungen zu ermöglichen und den Erlebnischarakter auch von Gottesdiensten neu zu beleben. Dies scheint gerade im Bereich von Osternachtsfeiern zu gelingen, wie deren steigende Zahl anzeigt.
Sinn macht es auch, zu unterscheiden zwischen Festen und Feiern mit kirchlichem Hintergrund wie z.B. den christlichen Hauptfesten und solchen, die verbunden sind mit Familienfeiern wie z.B. bei Kasualien.
Und da sind die Feste und Feiern, bei denen andere, z.B. Vereine, die Veranstalter sind, Kirche(n) aber um einen entsprechenden (gottesdienstlichen) Beitrag gebeten werden. Und dann gibt es natürlich auch solche Feste und Feiern, die im Grund direkt nichts mit Kirche, Gemeinde oder Verkündigung zu tun haben, bei denen aber die Repräsentant(inn)en von Kirche erwartet und gerne gesehen werden.

Anmerkungen:
1 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Wort… zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, EKD, 1997
2 M. Josuttis, Der Pfarrer ist anders, 1982
3 aaO.
4 P. Krusche, Der Pfarrer in der Schlüsselrolle, 1975
5 Fremde Heimat Kirche, EKD, Hannover 1993
6 Johannes Rau äußerte einmal sinngemäß, es könne nicht sein, daß die Predigt am Sonntag nur das wiederhole, was in der Woche schon in der Frankfurter Rundschau zu lesen gewesen sei.
7 Fremde Heimat Kirche, EKD, Hannover 1993
8 Max Weber, Die protestantische Ethik

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