Michael Behnke
Oklahomastraße 12, 66482 Zweibrücken
Diese Stadt war ein Rätsel! Für den Mediziner Stewart Wolf von der Universität Oklahoma, USA, war es unglaublich, was er nach einem Vortrag erfuhr, den er vor der dortigen „Medical Society“ in den 50er Jahren gehalten hatte. Ein Kollege lud ihn zum Essen ein, bei dem dieser so nebenbei erzählte, dass es in der kleinen Vorstadt Roseto in Pennsylvanien so gut wie keine Herz-Kreislauferkrankungen bei Menschen unter 65 gab – für die damalige Zeit eine Sensation! [1]
Die Neugier des Wissenschaftlers war geweckt, und mit Hilfe einiger Kollegen und Studenten begann er 1961 eine breit angelegte Feldforschung in Roseto: Man studierte umfassend alle Krankenakten und testete einen Großteil der Bevölkerung; dazu führte der Soziologe, John Bruhn, von der Universität Oklahoma Interviews mit den Bewohnern.
Die Ergebnisse waren erstaunlich: Die Todesrate von Männern über 65 Jahren durch Herz-Kreislauferkrankungen war 50% niedriger als im Bevölkerungsdurchschnitt. Außerdem wurden keine Magengeschwüre gefunden – damals eine regelrechte Volkskrankheit! Der größte Teil der Rosetaner starb gesund im hohen Alter.
Die Ergebnisse der soziologischen Untersuchung waren ebenfalls außergewöhnlich: Es gab keine Selbstmorde, keinen Alkoholismus, keine Drogenabhängigen und eine sehr niedrige Kriminalitätsrate. Roseto war nach allen Untersuchungen ein statistischer „Ausreißer“, so weit lagen seine Werte jenseits des damaligen US-Durchschnitts.
Warum war das so? Was war anders in Roseto? Nach der Erhebung der Diagnose wollte nun Wolf mehr über die Ursachen dieser Phänomene wissen, und er untersuchte nun die Rosetaner hinsichtlich ihrer Verhaltensweisen.
1. Beruhte die außergewöhnliche Gesundheit auf einer gesunden Ernährung? Doch Wolf musste erkennen, dass sich die Rosetaner nicht besser ernährten als die restliche US-Bevölkerung: Man aß sehr fett und süß!
2. Bewegten sie sich viel und machten sie Entspannungsübungen? Auch hier gab es keinen Ansatz: Weder machten die Rosetaner Yoga noch joggten sie früh durch den Park. Dagegen litten viele an Übergewicht.
3. Hatten die Rosetaner bessere Gene? Fast alle Bürger waren Nachkommen von italienischen Einwanderern aus einer ganz bestimmten Region in Italien, was für eine genetische Varianz sprechen könnte. Wolf untersuchte Angehörige, die in andere Landesteile gezogen sind und musste feststellen, dass diese Personen bezüglich ihrer Krankendaten dem US-Durchschnitt entsprachen.
4. Wohnten die Rosetaner in einer klimatisch besonders günstigen Region, die ihre Gesundheit förderte? Man verglich die Daten mit den Bürgern nahe gelegener Vorstädte. Aber auch dieser Weg führte in eine Sackgasse, denn die Todesrate bezüglich Herz-Kreislauferkrankungen entsprach dort ganz dem Landesdurchschnitt.
Wolf war ratlos. Die konventionelle Weisheit, nach der Gesundheit von den Genen, der persönlichen Lebensweise und der effektiven Inanspruchnahme der Vorsorgemedizin abhing, ging hier ins Leere. Die Rosetaner waren gesund, obwohl sie alle „Sünden“ der Zivilisation begingen wie alle anderen US-Bürger.
Als er aber anfing, das soziologische Datenmaterial in seine Überlegungen mit einzubeziehen, kam er zur Erkenntnis, dass der Grund nicht Ernährung, Bewegung, Gene oder Region waren, sondern das Gemeinschaftsleben der Rosetaner: Sie besuchten sich regelmäßig untereinander, hielten ihre kleinen Schwätzchen in Italienisch, wo immer es ging, lebten in Drei-Generationen-Familien, sie kochten und aßen miteinander, gingen jeden Sonntag gemeinsam zur Messe und fanden im kirchlichen Leben das spirituelle Zentrum
ihrer Gemeinschaft. Fast alle Bewohner waren Nachkommen von Einwanderern aus der Stadt Roseto Valforotore in der Provinz Foggia, was ihre stabile Identität und ihr gesundes Selbstbewusstsein bestimmte. Wolf zählte 22 Vereine in einer Stadt mit weniger als 2000 Einwohnern, was auf ein äußerst reges Gemeinschaftsleben hinwies. Außerdem lebten die Rosetaner ein ausgesprochen egalitäres Ethos, in der Wohlhabende ihren Erfolg nicht zur Schau trugen und die großzügig den armen und weniger erfolgreichen Familien halfen. In Rosetal existierte demnach eine machtvolle und heilvolle Sozialstruktur, die ihre Bewohner von den ungesunden Zwängen und den typischen Zivilisationskrankheiten der modernen Welt bewahrte.
Unsere Gesundheit ist also nicht allein davon abhängig, wie gut wir mit unserem Körper umgehen, vielmehr ist unsere Gesundheit entscheidend davon geprägt, in welcher Gemeinschaft wir unser Leben verbringen. Wolf führte durch seine Untersuchungen eine neu Kategorie in das medizinische Denken ein: Der individuelle Gesundheitsstatus entspricht nicht nur der Summe persönlicher Entscheidungen, vielmehr spielen auch kulturelle, soziale und emotionale Komponenten eine entscheidende Rolle. Wir sind nicht nur Individuen, sondern sind wesenhaft auf eine gewachsene und hilfreiche Gemeinschaft bezogen. Diese Erkenntnisse sind in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entstanden. Wie gehen wir heute mit unserem Leben um?
Es will scheinen, dass die Gegenwart sich wenig um diese Ergebnisse schert. Die heute alles bestimmende Ökonomie fordert von jedem rücksichtslos stete Bereitschaft zur Mobilität, Flexibilität, Effektivität und lebenslanges Lernen. Gesundheitsvorsorge wird zum Teil der Selbstsorge und des „Selbstmanagement“. Wie man bei zunehmender Arbeitsverdichtung in seinen hektischen Alltag gesunde Ernährung, Sport, Entspannung und medizinische Vorsorge integriert, liegt in der Verantwortung jedes einzelnen. Der den individuellen Erfolg Anstrebende wird unter dem gegenwärtigem ökonomischen Paradigma zum Unternehmer und Unternehmen in eigener Sache. Da in der mobilen Arbeitswelt menschliche Beziehungen größtenteils sachbezogen sind und emotional peripher bleiben, investiert der Einzelne immer mehr Ressourcen in die Vervollkommnung des eigenen „Ichs“, denn nur hier lassen sich Renditen sichtbar erleben. Partnerschaften und Freundschaften werden oberflächlicher und eher unter dem Aspekt des gegenseitigen Nutzens gesehen, Familiengründungen werden immer mehr nach hinten verschoben. Die Geburtsraten von Akademikerfamilien gehen entsprechend stetig zurück, Entscheidungen für Nachwuchs werden zeitlich weit ins vierte Jahrzehnt verlagert oder ganz aufgegeben. Irgendwie überwiegt die Erkenntnis: Familie und Kinder, das rechnet sich nicht!
Das ökonomische Paradigma scheint vorauszusetzen, dass die Natur des Menschen durch moderne Technologie beliebig geformt werden könne, ohne gesundheitliche Einbußen dadurch erleiden zu müssen. Bezieht man die Ergebnisse Wolfs aus den 60ern auf unsere moderne durchökonomisierte Gesellschaft, so sind gesundheitliche Schäden vorprogrammiert: Burnout, Depressionen, Süchte aller Art, Vereinsamung, Erfahrungen von Sinnlosigkeit, das Gefühl „aus den Rastern zu fallen“ bei nachlassenden Kräften oder dem Verlust des Arbeitsplatzes, psychosomatische Erkrankungen bis hin zu Krebs, Selbstmorde usw. dürften auf die Generation der dynamischen Durchstarten und „High Performers“ der Moderne zukommen.
Dagegen scheint das gemächliche und traditionell bodenständige Leben auch aus unseren Gemeinden immer mehr zu verschwinden, entspricht es doch so gar nicht dem „modern way of life“!
Damit wird aber auch die Erkenntnis Wolfs dem Vergessen anheim gegeben. Dabei fand er doch heraus, dass ein intensives bodenständiges Gemeinschaftsleben in verlässlichen Verhältnissen die beste Garantie für ein gesundes, glückliches und langes Leben ist. In der emotionalen Geborgenheit von Familie, Freundeskreis, Nachbarschaft, Vereinen und der religiösen Gemeinschaft kann man auch ruhig mal „über die Stränge“ schlagen, ohne Gefahr zu laufen krank zu werden. Denn eine gesunde Seele trägt von alleine Sorge für einen gesunden Körper!
Glück und Gesundheit verlangen eigentlich keine großen „Investitionen“. Nach den Ergebnissen Wolfs dürfte das Leben in einem Mehr-Generationen-Haus gesünder sein als in einem Altenheim; die Pflege von Kontakten zur Familie und zu Freunden heilsamer als hunderte von virtuellen Kontakten auf einem sozialen Netzwerk; die vielen Schwätzchen zwischendurch dürften belebender sein als einsames Joggen unter Kopfhörern mit dröhnender Musik und der gesellige Kegelverein dürfte für Seele und Körper erholsamer sein als das tägliche „work out“ im Fitness-Studio.
In den Worten Luthers dürfte diese Haltung uns Protestanten bekannt sein. Für ihn war es klar, dass aus dem durch den Glauben befreiten Herzen ein fröhlicher Dienst der Liebe zum Nutzen seiner Mitmenschen folgte, ganz spontan, sozusagen in „Geistes-Gegenwart“. Warum wagen wir nicht öfters ein munteres, zwangloses Schwätzchen, an den Orten, an denen wir gestellt sind: In Gemeinde, Schule und Krankenhaus, in Behörden, Gefängnis oder Armee. Ein gemeinsam schallendes Lachen bewirkt oft wahre Wunder, macht gelassen und innerlich frei und ist damit gesünder und effizienter als angestrengte Gemeindeaufbau-Pläne, Dienstgespräche oder verkrampfte Evaluationsszenarien. Dass gemeinsames Lachen verbindet und gut tut, wusste übrigens auch schon die Bibel: „Ein fröhlicher Mensch lebt gesund; wer aber ständig niedergeschlagen ist, wird krank und kraftlos!“ (Spr 17,22) Oder nochmal mit Luther: „Von einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz.“ Es liegt also auch an uns und unserem Glauben zu entscheiden, zu welchen „Är…“ wir gehören wollen – zu den gesunden oder kränkelnden!?
[1] Der Artikel stützt sich auf ein Buch von Malcolm Gladwell, Outliers. The Story of Sucess, Hachette USA 2011. S. 3-11.
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