Von dem in Münster lehrenden Philosophen Hans Blumenberg (1920-1996) ist ein anekdotischer Spruch überliefert: „Bildung ist das, was bleibt, wenn einer alles vergessen hat“. Dieser Spruch legt eine Spur hin zu dem, was der spezifisch deutsche Begriff Bildung nicht meinen kann: eine reine Anhäufung von Wissen; dann gäbe es nach dem Vergessen keine Bildung mehr, und der Spruch wäre in sich widersprüchlich. Nun gibt es im Blick auf Hans Blumenberg noch eine besondere Pointe, denn der Spruch ist noch in einer anderen Variante überliefert: „Kultur ist das, was bleibt, wenn einer alles vergessen hat“.
Wenn es sich nicht um einen Überlieferungsfehler handelt und beide Versionen tatsächlich von Hans Blumenberg stammen, dann spricht das dafür, dass es im Denken dieses Autors eine Aufeinanderbezogenheit von Bildung und Kultur gab, die beide als Komplementärphänomene eines einzigen Sachverhalts erscheinen lässt. Diesen Sachverhalt könnte man beschreiben als eine gleichursprüngliche humane Grundhaltung, die vom Willen beseelt ist, die Qualität der Gesellschaft und die innere Formung des Menschen als einheitliche und nur zusammen sinnvoll gestaltbare Aufgabe zu begreifen. Dieser Wille lässt sich zumindest für den Zeitabschnitt seit der Reformation als eine Grundhaltung der evangelischen, später auch der katholischen Kirche erkennen. Man kann deshalb mit Fug und Recht von einer kirchlichen Bildungskultur sprechen, die allerdings durchaus konfessionell unterschiedliche Akzente gesetzt hat.
Bildung gehört nämlich genau deshalb zu den Grundvollzügen von Kirche, weil die innere Bildung und Formung des Menschen notwendige Bedingung für den Bestand und die Qualität eines Gemeinwesens ist, und Kirche mit dem Anspruch auftritt, an der Gestaltung der Gesellschaft mitzuwirken, was gleichzeitig bedeutet, die Kultur dieses Gemeinwesens mitzuprägen. Diese Mitgestaltung geschieht über Menschen, die aus ihrem christlichen Wirklichkeitsverständnis und Menschenbild heraus versuchen, durch Gedanken und Worte innerhalb der Gesellschaft zu deren Verbesserung beizutragen.
Dieser Anspruch, an der Verbesserung der Gesellschaft mitzuwirken, greift auf inhaltliche Bestimmungen zurück, die dem Christen nicht von Geburt aus gegeben sind, sondern durch Bildungsprozesse erworben werden. Die Welt existiert für den Menschen als erschlossener Raum, der mit allen Sinnen wahrgenommen und durch Handeln gestaltet werden kann. Aber sie liegt nicht einfach wie ein aufgeschlagenes Buch vor einem, sondern muss in ihren inneren Zusammenhängen und Mechanismen erkannt und gedeutet werden. Vor allem das Deuten der Welt ist verantwortlich für die Auswahl von möglichen Handlungsoptionen, etwa in ethischen Fragen. Dieses Deuten folgt inhaltlichen Vorgaben, die durch Bildungsprozesse erworben werden. Aus diesem Grund ist christliche Bildung ein Erschließungsgeschehen, denn es hilft mit, einen Deutungshorizont zu schaffen, der dann Handlungsoptionen ermöglicht.
Dieser Deutungshorizont ist Grundlage für die Möglichkeit, die eigenen Lebenszusammenhänge realistisch wahrzunehmen. Der durch christliche Bildung unterstützte Deutungsrahmen greift auf die durch das Evangelium gewirkte Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes des Schöpfers und der Tiefe seines Versöhnungswillens in Jesus Christus zurück. Ausgelöst durch einen lebenslangen Bildungsprozess lernt der Christ diesen Versöhnungswillen Gottes als die auch sein Leben bestimmende Macht kennen, was letztlich nicht nur eine Sache des Verstandes bleibt, sondern auch das Herz berührt. Insofern ist christliche Bildung ein Erschließungsgeschehen, das den ganzen Menschen betrifft und im wahrsten Sinne des Wortes herzerzwingend ist. Genau dieses Ethos des christlichen Glaubens, nämlich der Anspruch, die Botschaft von Jesus Christus als eine den ganzen Menschen verändernde Kraft zu präsentieren, prägte die christliche Kulturleistung früherer Jahrhunderte.
Um möglichst vielen Menschen diese umfassenden Bildungserlebnisse zu ermöglichen, ist eine intakte Institution nötig, die sich zuverlässig und dauerhaft mit der zeitgemäßen Vermittlung der christlichen Inhalte beschäftigt. Kirchliche Bildungsarbeit stellt sich dieser Aufgabe nicht nur im schulischen Religionsunterricht, sondern auch in vielerlei anderen Räumen innerhalb und außerhalb der Kirchen. Dabei hat sie stets im Blick, dass die Gesundheit des Gemeinwesens von der Qualität seiner Bildungsinstitutionen abhängt. Das ganze Institutionengefüge eines Gemeinwesens muss so eingerichtet sein, dass es allen Mitgliedern lebenslang, insbesondere aber der heranwachsenden Generation gute Chancen für ein erfülltes Leben bietet. Christliche Bildungsarbeit will dazu einen spezifischen Beitrag leisten, indem sie den Deutungshorizont des christlichen Menschen- und Weltverständnisses als Angebot offenhält.
Eine kleine Arbeitsgruppe hat es sich zum Ziel gesetzt, einige kommentierte Leitlinien zu entwickeln, die richtungsweisend sein könnten für das zukünftige Bildungshandeln in der pfälzischen Landeskirche. Diese Leitlinien sollen nicht, wie die teilweise opulenten Bildungspapiere anderer Landeskirchen, eine Art Gesamtplan aufstellen, sondern lediglich das christliche Bildungsverständnis und dessen aktuelle gesellschaftliche Rahmenbedingungen in aller Kürze auf den Punkt bringen, um daraus Handlungskompetenz für die Zukunft ableiten zu können. Dabei war uns wichtig, eine Partizipation möglichst vieler Akteure in der kirchlichen Bildungsarbeit zu erreichen. Dies geschah mittels einer breit angelegten Umfrage sowie einem Workshop-Tag, an dem etwa 50 Personen aus unterschiedlichen Bildungsbereichen teilnahmen.
Die folgenden drei Beiträge dokumentieren die Begrüßungsansprache von Oberkirchenrat Claus Müller auf dem Workshop-Tag, der am 26. November 2022 in der Aula des Trifels-Gymnasiums Annweiler stattfand, sowie die dort vorgetragenen Impulsreferate der Professoren Gerald Kretzschmar und Martin Leiner, die beide in der Arbeitsgruppe mitarbeiten.
Martin Schuck