Kathrin Hatzinger
Haus der EKD, Rue Joseph II, 166, B-1000 Brüssel
Sehr geehrte Damen und Herren,
zunächst herzlichen Dank an europe direct, das Evangelische Büro, namentlich Frank-Matthias Hofmann und die Allianz für den freien Sonntag für die freundliche Einladung nach Saarbrücken. Ich freue mich, heute hier sein zu können und mit Ihnen über den Themenkomplex Kirche und Europapolitik ins Gespräch zu kommen zu dürfen.
Auf den ersten Blick hat es die eine oder den anderen unter Ihnen vielleicht überrascht: eine evangelische Vertretung bei der EU? Was interessiert die evangelische Kirche ausgerechnet an Brüssel, was ist ihr Auftrag bei der EU und wie bringt sich das EKD-Büro überhaupt in politische Prozesse ein? Ich hoffe, Ihnen im Folgenden einige Antworten auf Ihre Fragen geben zu können.
Wie Sie Ihrer Tageszeitung entnehmen können, beziehen prominente Kirchenvertreter durchaus zu tagespolitischen Themen Stellung, ob es nun die Frage nach der ethischen Vertretbarkeit der Präimplantationsdiagnostik oder die Notwendigkeit des Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan betrifft.
Die Evangelische Kirche in Deutschland mischt sich jedoch nicht nur im Wege von Pressestatements, Denkschriften, Vorträgen und Stellungnahmen politisch ein, sondern ist über ihre politischen Büros in Berlin und Brüssel auch ganz unmittelbar im Raum der Politik vertreten. Dabei ist es kein Anliegen der EKD Politik zu machen, sondern um es mit dem vormaligen Ratsvorsitzenden der EKD, Wolfgang Huber, zu sagen, Politik möglich zu machen.
Dies geschieht in Umsetzung des sog. Öffentlichkeitsauftrages: Kirchliches Handeln vollzieht sich grundsätzlich in der Öffentlichkeit, ausgenommen seelsorgerliches Handeln. Schon Jesu forderte sein Jünger auf: „Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“ (Matthäus10, 7). Auch Wahrnehmung öffentlicher, ja politischer Verantwortung ergibt sich aus evangelischer Sicht aus diesem Verkündigungsauftrag. Die Verkündigung des Evangeliums soll nicht still und heimlich oder allein im Raum der Kirche stattfinden, sondern deutlich und klar für alle vernehmbar erfolgen. Zwar wenden sich die Kirchen in ihrem öffentlichen Wirken vornehmlich an ihre Mitglieder, doch Adressat des kirchlichen Handels ist die Gesellschaft als Ganze.
Das lässt sich bereits aus dem Alten Testament ableiten. Dort heißt es beim Propheten Jeremia in der Handlungsanweisung Gottes an das Volk Israel im Exil: „Suchet der Stadt Bestes (, dahin ich euch habe wegführen lassen,) und betet für sie zum Herrn; denn wenn´s ihr wohlgeht, so geht´s auch euch wohl“ (Jeremia 29, 7). Was für Israel schon im Exil galt, gilt erst recht dort, wo die Kirchen sich frei entfalten können. Sie sind aufgefordert, sich für das Wohl aller einzusetzen und das gemeinsame Beste zu fördern. Sie tragen zu den Voraussetzungen bei, auf die jedes politische Gemeinwesen angewiesen ist, ohne sie selber hervorbringen zu können. Gleichzeitig wollen sie sich aber nicht zu einem bloßen Funktionsträger reduzieren lassen, sondern stehen für eine kritisch-konstruktive Begleitung politischen Handelns.
Der Öffentlichkeitsauftrag ist auch in zahlreiche Staatskirchenverträge eingeflossen, prominentes Beispiel ist der Vertrag des Landes Niedersachsen mit den evangelischen Landeskirchen vom 19. März 1955, der sog. Loccumer Vertrag. Darin ist die gemeinsame Verantwortung von Staat und Kirche niedergelegt, im Bewusstsein der Trennung von Staat und Kirche einerseits und der engen Kooperation zwischen beiden Ebenen andererseits.
Dabei sieht die Kirche diesen Staat nicht als etwas Fremdes, ihrem Glauben Feindliches an, sondern als Chance der Freiheit, die zu erhalten und mit Leben zu erfüllen auch ihre Aufgabe ist. Der Staat wiederum lässt sich auf die Kooperation mit einer Kraft ein, die von ihm als säkularem Staat zwar getrennt ist – er ist selbst nicht religiös –, die er aber kennt und mit der er sich, wenn auch freilich in unterschiedlicher Perspektive, in gemeinsamer Verantwortung für die Menschen weiß, die Staatsbürger und Christen sind.
Seit nunmehr 20 Jahre ist die EKD auf europäischer Ebene mit einem eigenen Büro vertreten. Das Büro ist Teil der Dienststelle des Bevollmächtigten des Rates der EKD, der in Berlin kirchliche Anliegen in die Bundespolitik einspeist.
Unser Auftrag in Brüssel ist vielfältig und hat sich im Laufe der Jahre gewandelt und neben dem ursprünglich rein defensiven Ansatz einen konstruktiven dazu gewonnen.
Gegründet wurde das Büro vor dem Hintergrund der Debatte um die Datenschutz-Richtlinie (95/46/EG), die in der von der EU-Kommission vorgeschlagenen Ursprungsfassung das deutsche Kirchensteuersystem in Frage gestellt hätte. Nur eine Intervention der deutschen Kirchen konnte dies in letzter Minute verhindern: Künftig wollte man besser aufgestellt sein, um möglichen Eingriffen in das deutsche Staatskirchensystem durch EG-Recht schon frühzeitig begegnen zu können. Insofern kann man unser Büro als eine Art „Frühwarnsystem“ bezeichnen, das sich frühzeitig in das Gesetzgebungsverfahren einbringt, wenn die institutionellen Interessen der EKD betroffen sein könnten. Vor diesem Hintergrund ist auch zu verstehen, dass die Leitung des Büros traditionell mit einer Juristin besetzt ist.
In der Anwendung des eben skizzierten Öffentlichkeitsauftrages der Kirchen mischen wir uns aber auch und zunehmend „um Gottes willen“ politisch ein und verleihen denen eine Stimme, die selbst keine Lobby in Brüssel haben: sozial Schwache, Alte, Flüchtlinge und Migranten. Wir, das sind mein Team aus fünf Mitarbeitenden und ich selbst. Wir treten in Brüssel als evangelische Stimme auf, wenn Themen wie Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung und Frieden durch EU-Gesetzgebungsvorschläge berührt sind. Dabei zählen die Achtung der Menschenrechte im Rahmen der europäischen Asyl- und Migrationspolitik, das Eintreten für ein soziales Europa, der Vorrang ziviler vor militärischer Konfliktbearbeitung in der EU-Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit sowie Fragen der Religionsfreiheit zu den inhaltlichen Schwerpunkten unserer Arbeit. Einige dieser Punkte werde ich im Laufe des Vortrags noch konkretisieren. Dank einer Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Jugend hat mittlerweile auch die Jugend- und Bildungspolitik in unserer Arbeit einen festen Platz.
Wie bringen wir diese Themenvielfalt in den politischen Prozess ein? Ein wichtiges Element der Arbeit besteht darin, die politischen Entscheidungsträger auf die kirchlichen Anliegen in der Politikgestaltung und im Gesetzgebungsprozess aufmerksam zu machen. Dazu verfasst die Dienststelle Stellungnahmen für die offiziellen Konsultationen der Europäischen Kommission, z.B. aktuell zur künftigen Ausgestaltung der europäischen Kohäsionspolitik; wir schreiben Briefe an Kommissare und Europaabgeordnete oder suchen ganz einfach das Gespräch mit den politisch Verantwortlichen, wie etwa aktuell bei dem Thema der Verankerung eines Referats für „Religionsfragen“ im neuen Europäischen Auswärtigen Dienst.
Oft gilt es, „das Gras wachsen zu hören“ und frühzeitig, schon wenn eine Idee für eine neue Richtlinie oder Verordnung im Entstehen ist, mit den zuständigen Beamten Kontakt aufzunehmen und den Austausch über das Thema zu suchen. Schon angesichts der überschaubaren Größe unseres Büros erfolgt dies in enger ökumenischer Zusammenarbeit mit den übrigen kirchlichen Vertretungen in Brüssel, namentlich dem Sekretariat der COMECE, der Kommission der Bischofskonferenz der europäischen Gemeinschaften, der Kommission Kirche und Gesellschaft der Konferenz Europäischer Kirchen und dem katholischen Büro in Berlin. Aber natürlich ist der ökumenische Konsens auch ein wichtiger Baustein für den Erfolg in einem Europa, in dem die EKD zwar nach der römisch-katholischen Kirche die größte Einzelkirche ist, aber in dem sie eben nur eine nationale Kirche unter vielen ist und die Protestanten insgesamt kaum mehr als 13 Prozent ausmachen.
Daneben erfüllt mein Büro die Rolle einer kirchendiplomatischen Vertretung bei den europäischen Institutionen, indem wir der evangelischen Kirche auf dem Brüsseler Parkett ein Gesicht verleihen und die EKD, ihre Gliedkirchen und Werke über aktuelle politische Entwicklungen informieren und Einschätzungen und Handlungsempfehlungen abgeben. Das Büro ist damit zugleich auch Informationsbüro für kirchliche Einrichtungen und Organisationen in Europafragen. Alle drei Monate berichten wir in einem Newsletter, den „EKD-Europa-Informationen“ aus kirchlicher Sicht über das aktuelle politische Geschehen und machen auf Förderprojekte aufmerksam, die für Kirche und Diakonie von Interesse sein könnten.
Schließlich ist es unser Anliegen, die EKD auf dem Brüsseler Parkett sichtbar zu machen und Foren der Begegnung und des Austauschs abseits des politischen Tagesgeschäfts zu schaffen. Dies geschieht u.a. durch die Organisation von Vortrags-, Diskussions- und Kulturveranstaltungen, wie etwa im letzten Jahr mit einer Podiumsdiskussion in der belgisch- protestantischen Kirche Bruxelles-Musée über den Reformator und großen Europäer „Philipp Melanchthon“ oder durch eine vierteilige Seminarreihe zu „Islam, Christentum und Europa“. Daneben gehört die Konzeption und Durchführung von Besuchsprogrammen für kirchliche Gruppen zu unseren Aufgaben. Im Mai dieses Jahres wird u.a. der Rat der EKD eine seiner regulären Sitzungen in Brüssel abhalten.
Seit rund einem Jahr halten wir nach dem Vorbild unserer Berliner Dienststelle in Brüssel außerdem regelmäßig Abgeordnetenfrühstücke ab, die immer mit einer gemeinsamen Morgenandacht verbunden sind, die Prälat Felmberg, der Bevollmächtigte des Rates der EKD, hält. Das Angebot findet guten Zuspruch und bietet die Gelegenheit, parteiübergreifend mit den Abgeordneten des Europäischen Parlaments grundsätzlicher ins Gespräch zu kommen.
Als deutsche Kirche sind zunächst die deutschen Vertreter in Kommission, Parlament, Rat und in der Ständigen Vertretung unsere vorrangigen Ansprechpartner; allerdings arbeiten wir je nach Themenbereich natürlich auch mit Vertretern anderer Nationalitäten zusammen, dabei ist dann die englische Sprache die Lingua franca. Die Kontakte zu den EU-Institutionen ergeben sich oft über Sachthemen.
Im Gegensatz zu großen Lobbyverbänden oder Wirtschaftsunternehmen liegt unsere Stärke bei der Mitgestaltung politischer Prozesse in der Kraft des Wortes bzw. des Arguments begründet. Die EKD-Denkschrift „Das rechte Wort zur rechten Zeit“ benennt in diesem Zusammenhang einige Eckpunkte, die für unsere Arbeit von besonderer Relevanz sind. Danach müssen öffentliche Äußerungen der EKD insbesondere
– in der Lage sein, sich unter den Bedingungen der Pluralität und des gesellschaftlichen Pluralismus zu Wort zu melden und dabei den Pluralismus grundsätzlich bejahen, also „pluralismusfähig“ sein,
– von der Bereitschaft geprägt sein, falls notwendig Partei zu ergreifen und somit eine anwaltschaftliche Aufgabe wahrzunehmen. Die Option für Arme und Schwache und ebenso das Eintreten für die Opfer von Krieg und Gewaltregimen sind hierbei leitend.
– schließlich eine Art von „offener Kohärenz“ zum Ziel haben, das heißt, an bisherige Äußerungen anschließen, aber zugleich einen Raum für kirchliche Lernprozesse bieten.
An diesen Grundsätzen, die für alle öffentlichen Äußerungen der EKD gelten, wird in mehreren Hinsichten ein spezifisch evangelisches Profil erkennbar. Die beiden Gesichtspunkte der Pluralismusfähigkeit und der offenen Kohärenz sind dabei besonders hervorzuheben. Beides ist für eine Kirche der Freiheit charakteristisch, so der ehemalige Ratsvorsitzende Wolfgang Huber.
Im Gegensatz zum kirchlichen Tun in Deutschland sind die Rahmenbedingungen, sich in Brüssel Gehör zu verschaffen, aber ungleich schwieriger. Europas Vielfalt ist auch eine der Konfessionen und staatskirchenrechtlichen Systeme, die von der orthodoxen Nationalkirche in Griechenland, über die Staatskirche in England, über die strikte Trennung von Staat und Kirche in Frankreich bis hin zum Kooperationsmodell der fördernden Neutralität in Deutschland reicht. Belgien selbst etwa ist ein Land mit katholischer Mehrheit, einem laizistischen Verfassungsverständnis, das aber z.B. Raum lässt für die Bezahlung aller Geistlichen und weltanschaulichen Würdenträger und schließlich einer starken Fraktion religionskritisch-antiklerikaler Gruppierungen wie den so genannten Humanisten und politisch sehr mächtigen Logen.
Dazu kommt, dass die Europäische Kommission, nach dem Vorbild französischer Verwaltungsapparate geschaffen, entsprechend stark von der französischen Laicité geprägt ist. Für Religion fühlt man sich nicht zuständig, die Vertretung kirchlicher Interessen im politischen Raum mutet vielen Beamten bis heute als Verstoß gegen die Trennung von Staat und Kirche an: Obwohl sie längst unter dem Einfluss anderer Systeme Bestandteil der Verträge und der „European Governance“, sprich guter Regierungsführung, ist.
Die Kohärenz der Äußerungen wird durch eine enge Abstimmung mit unserer Dienststelle in Berlin und dem Kirchenamt der EKD in Hannover sichergestellt, d.h. wenn ich in Brüssel Stellungnahmen für die EKD abgebe, sind diese in enger Zusammenarbeit mit unserem Büro in Berlin und den Fachleuten in Hannover entstanden. Die Forderung nach der Pluralismusfähigkeit kirchlicher Stellungnahmen erhält in Brüssel jedoch eine besondere Dringlichkeit. Wir sind immer wieder aufgerufen, die Botschaft der Bibel in die Sprache des Rechts und der Politik zu übersetzen, so dass auch die Menschen sie verstehen, die einen anderen religiösen oder weltanschaulichen Hintergrund haben oder eine andere Nationalität. Denn der kirchliche Öffentlichkeitsauftrag ist keine Klientelpolitik. Obwohl er eine klare christliche Fundierung hat, soll er doch im Ergebnis der gesamten Gesellschaft dienen: In diesem Fall dadurch, Europas Politik im Sinne von Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung mitzugestalten.
Was heißt das konkret? Lassen Sie mich diesen Punkt an zwei Beispielen aus unserer täglichen Arbeit verdeutlichen: den Schutz des arbeitsfreien Sonntags und die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems:
Sonntag
In den Mitgliedstaaten der EU machen sich seit einigen Jahren Tendenzen bemerkbar, den Schutz des Sonntags immer weitergehend aufzuweichen und die Ladenöffnungszeiten weiter zu liberalisieren. Das EKD-Büro setzt sich deshalb für eine Stärkung des Sonntagsschutzes auf EU-Ebene ein. Zusammen mit den ökumenischen Partnern auf nationaler und europäischer Ebene sind wir zunächst dafür eingetreten, über die Überarbeitung der Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88/EG) den besonderen Schutz des Sonntags im Gemeinschaftsrecht zu verankern.
Auf europäischer Ebene gibt es derzeit nämlich keine generelle Bestimmung, die den Sonntag besonders schützen würde. Lediglich in der Richtlinie 94/33/EG über den Jugendarbeitsschutz ist die Formel enthalten, die wöchentliche Mindestruhezeit umfasse „im Prinzip den Sonntag“. In der sog. Arbeitszeit-Richtlinie von 1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung war ebenfalls eine solche Klausel enthalten, die festlegte, dass die wöchentliche Mindestruhezeit grundsätzlich den Sonntag einschließt. Diese Bestimmung wurde aufgrund einer Klage Großbritanniens vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg mit der Begründung für nichtig erklärt, dass der Rat als Gesetzgeber nicht deutlich gemacht habe, wie diese Bestimmung mit dem Zweck der Richtlinie und der europäischen Kompetenzordnung zu vereinbaren sei. Ein Bezug zum Arbeitnehmerschutz sei nicht erkennbar. Zweck der Richtlinie ist es, Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung aufzustellen. Der Sonntag galt und gilt demgegenüber in den Augen des EuGH als eine Frage der Kultur-, Religions- oder auch Familienpolitik.
Neuere Studien ermöglichen jedoch, den vom EuGH geforderten Zusammenhang zwischen Sonntagsruhe und Gesundheitsschutz nachzuweisen. Arbeitspsychologische und -medizinische Studien belegen, dass Arbeitnehmer, die regelmäßig am Sonntag arbeiten, signifikant höhere Krankheits- und Fehlzeiten aufweisen. Ein Zusammenhang zwischen der Möglichkeit, am privaten, sozialen, kulturellen und spirituellen Leben zu partizipieren (life-work-balance) und der physischen Gesundheit wird heute kaum noch bezweifelt. Der Sonntag als allgemeiner Ruhetag mit seinem Gleichklang der Arbeitsruhe leistet dabei einen unersetzlichen Beitrag.
Betrachtet man zudem die Argumentation im deutschen Verfassungsgerichtsverfahren zum Ladenschlussgesetz (Öffnung an allen vier Adventssonntagen in Berlin), zeigt sich, dass eine solche Argumentation tatsächlich erfolgreich erbracht werden kann. Fallen die Möglichkeiten der Gestaltung von Familienleben und Freizeit weg, die durch gemeinsame freie Zeit gegeben sind, leidet auch die Arbeitskraft und langfristig die psychische und physische Gesundheit.
Durch entsprechende Änderungsanträge haben wir uns 2008 während der Debatte zur Überarbeitung der Arbeitszeitrichtlinie dafür eingesetzt, im Europäischen Parlament eine Mehrheit für eine Wiedereinführung des Sonntagsschutzes in die Richtlinie zu erreichen. Allerdings scheiterte die Überarbeitung der Richtlinie nach zehnjähriger Debatte Mitte 2009 letztlich im Vermittlungsausschuss an unüberbrückbaren Differenzen zwischen Mitgliedstaaten und Parlamentariern; insbesondere zu der Frage der wöchentlichen Höchstarbeitszeit konnte keine Einigung erreicht werden. Aufgrund der Europawahlen und der Neubesetzung der EU-Kommission passierte dann politisch erst einmal wenig. Allerdings war klar, dass die neu zusammengesetzte Kommission an dem Dossier „Arbeitszeitrichtlinie“ weiterarbeiten würde.
In der Zwischenzeit formierte sich ein breites Bündnis verschiedener Akteure, um gegenüber dem neuen ungarischen Sozialkommissar, László Andor, die Bedeutung des Sonntagsschutzes zu unterstreichen: Am 24. März 2010 fand in den Räumen des Europäischen Parlaments die „Erste Europäische Konferenz für einen arbeitsfreien Sonntag“ statt. Sie wurde von den Abgeordneten des Europäischen Parlaments, Thomas Mann (EVP, DE) und Patrizia Toia (S&D, IT) organisiert und von einem breiten gesellschaftlichen Bündnis aus Gewerkschaften, Zivilgesellschaft und Kirchen unterstützt. Auch das EKD-Büro war an den Vorbereitungen beteiligt. Uns ist daran gelegen, die Bedeutung des Sonntags als Tag der Ruhe, der Erholung, als Tag der Familie und Tag der spirituellen Erbauung deutlich zu machen, mithin die weltlich-soziale und die religiös-christliche Bedeutung des Sonntag hervorzuheben.
Nunmehr hat die EU-Kommission einen neuen Anlauf zur Überarbeitung der Richtlinie gestartet, der zunächst im Wege des sozialen Dialogs abläuft. Aufgrund des Hauptstreitpunkts, der Festlegung der wöchentlichen Arbeitszeit wird es allerdings immer unwahrscheinlicher, dass die Richtlinie der richtige Ansatzpunkt für eine Stärkung des Sonntagsschutzes ist.
Daher haben sich die beteiligten Akteure verständigt, alternative Möglichkeiten zu eruieren, den Sonntagsschutz auf europäischer Ebene zu verbessern. Eine „Allianz für den arbeitsfreien Sonntag“ soll nationale Aktivitäten bündeln und für die EU-Ebene fruchtbar machen. Sie soll Möglichkeiten ausloten, auch im EU-Recht für einen besseren Sonntagsschutz einzutreten. Eine dieser Möglichkeiten könnte in einer Bürgerinitiative nach Art. 11 EUV (Lissabon) bestehen. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde die europäische Bürgerinitiative geschaffen, durch die Bürgerinnen und Bürger der Union die Möglichkeit erhalten, sich direkt an der Politikgestaltung der Europäischen Union zu beteiligen: Sie können die Europäische Kommission zur Vorlage eines Vorschlags in einem in die Zuständigkeit der EU fallenden Bereich auffordern. Voraussetzung ist, dass mindestens eine Million Staatsangehörige aus mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten (sprich 7) sich engagieren.
Die Organisatoren einer Bürgerinitiative bilden einen Bürgerausschuss, dem mindestens sieben Bürger aus mindestens sieben verschiedenen Mitgliedstaaten angehören. Sie haben zum Sammeln der Unterschriften ein Jahr Zeit. Die Kommission muss dann innerhalb von drei Monaten die Initiative prüfen und über das weitere Vorgehen entscheiden. 2012 soll es die erste Bürgerinitiative geben, der Schutz des Sonntags könnte ein Thema einer solchen Initiative sein.
Gemeinsame Europäische Asylpolitik
Nun zu einem anderen Thema, das unser Büro bereits seit einigen Jahren beschäftigt: die europäische Asylpolitik. In diesem Feld arbeiten wir eng vernetzt mit anderen kirchlichen Büros wie dem Jesuitenflüchtlingsdienst, Caritas Europa, der Kommission für Migranten in Europa (CCME), aber auch mit den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen oder Amnesty International zusammen. 2005 war die erste Phase der Harmonisierung des Europäischen Asylrechts abgeschlossen. Ihr Ziel bestand darin, auf Grundlage gemeinsamer Mindeststandards die rechtlichen Rahmenbedingungen zum Flüchtlingsschutz in den Mitgliedstaaten anzugleichen: Aufnahmebedingungen, Asylverfahren, Definition von Fluchtgründen etc. Allerdings sind diese Mindeststandards immer noch nicht in allen EU-Staaten vollständig umgesetzt.
Mittlerweile haben sich die europäischen Staaten darauf geeinigt, eine zweite Phase der Harmonisierung einzuleiten und bis 2012 ein gemeinsames europäisches Asylsystem zu schaffen, das Zugang zu einem effektiven Asylverfahren bietet und auf Solidarität und Verantwortung beruht. Die Europäische Kommission hat dazu eine Reihe von Vorschlägen vorgelegt, um die Asylstandards in der EU zu erhöhen, Gesetzeslücken zu schließen und die Rechtsprechung von Europäischem Gerichtshof und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte umzusetzen.
Einer dieser Vorschläge betrifft die sog. Dublin-II-Verordnung. Grundgedanke dieser Verordnung ist, dass jeder Asylsuchende nur einen Asylantrag innerhalb der Europäischen Union stellen können soll. Grundsätzlich ist der Mitgliedstat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, der die Einreise veranlasst bzw. nicht verhindert hat. Stellt der Asylsuchende dennoch in einem anderen Mitgliedstaat seinen Asylantrag, wird kein Asylverfahren durchgeführt und der Asylsuchende ohne substantiierte Prüfung seines Antrags in den zuständigen Staat rücküberstellt.
Das Funktionieren der Verordnung setzt voraus, dass die Asylgesetze und -praktiken der teilnehmenden Staaten nicht nur auf gemeinsamen Standards beruhen, sondern auch tatsächlich das gleiche Schutzniveau erreicht haben. Die Harmonisierung der Asylpolitik in der EU ist jedoch nur in Ansätzen realisiert. Sowohl die Gesetzgebung als auch die Praxis unterscheiden sich immer noch sehr stark von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat; Asylsuchende werden also in Europa sehr unterschiedlich behandelt. Die Anerkennungsquote von irakischen Flüchtlingen in Griechenland liegt beispielsweise bei 0 Prozent, während sie in Deutschland zwischenzeitlich bei über 90 Prozent lag.
Bei der Anwendung der Dublin-Verordnung hat insbesondere das Kriterium des illegalen Grenzübertritts zu einem ernsthaften Ungleichgewicht in der Verteilung der Asylsuchenden auf die Mitgliedstaaten geführt. Dieses Ungleichgewicht bedeutet nicht nur eine unfaire Verantwortungsteilung innerhalb der Europäischen Union, sondern hat auch negative Auswirkungen auf den Schutz von Asylsuchenden und Flüchtlingen. Dies zeigt sich in besonders nachdrücklicher Weise am Beispiel Griechenlands. Dort sind die Haftbedingungen für Neuankömmlinge katastrophal, es fehlt, neben ausreichender Hygiene, auch an medizinischer Versorgung, an anwaltlicher Betreuung und teilweise werden selbst Kinder in diese Lager eingesperrt, wie sich die Teilnehmer der Europäischen Asylrechtstagung 2008 auf Lesbos selbst überzeugen könnten.
Unter diesen Bedingungen findet dann natürlich auch kein Asylverfahren statt. Diese Missstände hat auch die EKD-Synode in Beschlüssen zur Situation an den Außengrenzen der EU mehrfach angeprangert und sich für Änderungen in den Asylrechtsinstrumenten der EU eingesetzt. Außerdem hat sich der Rat der EKD gegenüber der Bundesregierung dafür ausgesprochen, von Rücküberstellungen von Flüchtlingen nach Griechenland abzusehen.
Angesichts der ungleichen Belastung der Mitgliedstaaten bei der Aufnahme von Schutzsuchenden und der teilweise katastrophalen Unterbringung von Asylsuchenden in einzelnen Mitgliedstaaten (z.B. dem fehlenden Zugang zum Asylverfahren und der mangelnden materiellen Unterstützung der Asylsuchenden in Griechenland) hat die EU Kommission so z.B. bereits 2008 einen Mechanismus vorgeschlagen, mit dessen Hilfe sie die Überstellung von Asylsuchenden aus anderen Mitgliedstaaten in einen Mitgliedstaat aussetzen kann, wenn dieser besonderem Druck ausgesetzt ist oder das Schutzniveau unzureichend ist. Die EKD unterstützt diese Reformvorschläge, insbesondere den Vorschlag, das Dublin-System um funktionierende Solidaritätsmechanismen bzw. ein gerechtes Verteilungssystem zu erweitern. Die Bundesregierung und viele andere Mitgliedstaaten sehen jedoch durch diese Überarbeitung der Verordnung das gesamte Dublin-System, also die Asylzuständigkeitsordnung, in Frage gestellt und blockieren deshalb die Verbesserungsvorschläge der EU-Kommission. Sie wollen am bisherigen System festhalten.
Doch nun scheint eine neue Dynamik in die Debatte zu kommen und zwar angestoßen durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg: Letzten Freitag hat der EGMR sowohl die Abschiebungen nach Griechenland als auch die Haft- und Lebensbedingungen von Flüchtlingen dort für menschenrechtswidrig erklärt. Bundesinnenminister Thomas de Maizière hatte wohl im Wissen um den kommenden Richterspruch einen Tag zuvor angekündigt, dass – zunächst auf ein Jahr befristet – keine Asylsuchenden mehr im Wege des sog. Dublin-Verfahrens von Deutschland nach Griechenland überstellt werden dürfen, weil dort Menschenrechtsstandards verletzt werden. Im Zuge des Urteils haben auch Schweden, Finnland, Dänemark und Großbritannien die Rückführungen nach Griechenland eingestellt.
Aus kirchlicher Sicht bestätigen die Entscheidung des Innenministeriums und in der geänderten Staatenpraxis unsere Haltung: Das Dublin-System ist dringend reformbedürftig. Demzufolge müssen nun auch in der EU-Gesetzgebung die Weichen dahingehend gestellt werden, dass die Verantwortung für die Aufnahme der Schutzsuchenden gerechter geteilt und dass den Asylsuchenden in der EU Zugang zu einem fairen und effektiven Asylverfahren unter menschenwürdigen Bedingungen gewährt wird. Das Straßburger Urteil gibt uns Rückenwind für die weiteren politischen Gespräche, die in diesem Jahr noch anstehen.
Soweit zwei Beispiele aus unserer recht breit gefächerten Themenpalette für die Anliegen, die wir in Brüssel vertreten.
Besonderheiten der kirchlichen Arbeit in Brüssel
Trotz aller bereits skizzierten Herausforderungen, als nationale Kirche in der EU Gehör zu finden, sind wir als Kirchen in Europa gut aufgestellt und als Dialogpartner mittlerweile sogar vertraglich anerkannt. Mit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon zum 1. Dezember 2009 hat nämlich auch der Dialog zwischen Kirchen und EU-Institutionen Rechtsverbindlichkeit erlangt. Übrigens verdankt sich auch dieser Artikel im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (Art. 17 AEUV) dem kirchlichen Engagement. In Art. 17 III ist nämlich geregelt, dass die Union „mit diesen Kirchen (und Gemeinschaften) in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog“ pflegt. Damit schafft Art. 17 III AEUV eine wesentliche Grundlage für die aktive Partizipation von Kirchen und Religionsgemeinschaften bei der politischen Mitgestaltung der EU und bietet zum anderen unter Berufung auf Art 17 I AEUV die Möglichkeit, etwaige Bedenken der Kirchen im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht auf politischer Ebene zu Gehör zu bringen. Absatz I bestimmt, dass die Union den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, achtet und ihn nicht beeinträchtigt.
Die Kirchen haben stets im Blick, dass sie zur Wahrnehmung ihres Öffentlichkeitsauftrags institutioneller Bedingungen bedürfen. Ihnen ist es deshalb wichtig, dass gewachsene und bewährte Strukturen des Staatskirchenrechts erhalten bleiben und auf europäischer Ebene neue Strukturen entstehen, die das kirchliche Wirken ermöglichen und fördern. Die bisherigen Erfahrungen damit sind trotz aller geschilderten Herausforderungen gut. Denn ohne den politischen Willen der EU-Staaten hätte es den Kirchenartikel nicht geben können.
Die EU hat sich in ihren Verträgen eben nicht für das französische Modell der Laicité entschieden und das Religiöse aus dem öffentlichen Raum verbannt, sondern will zumindest auf dem Papier bewusst ansprechbar sein auf den „besonderen Beitrag“ der Kirchen und Religionen, wie er in dem „Kirchenartikel“ charakterisiert wird.
Die in Absatz III festgeschriebene Offenheit geht auf den bislang schon praktizierten guten, partnerschaftlichen Umgang mit den Institutionen zurück. Dabei fand der Dialog bislang schon auf drei Ebenen statt: auf der Arbeitsebene in Form von sog. „Dialogseminaren“ zu aktuellen Themen, organisiert von EU-Kommission und Kirchen (Klimawandel, Armutsbekämpfung), sowie in Form der alljährlich stattfindenden Religionsführertreffen, an denen neben Vertretern des Christentums, des Islam und des Judentums, Kommissionspräsident José Manuel Barroso, auch der Präsident des Europäischen Parlaments, der polnischer Lutheraner Jerzy Buzek, der Präsident des Europäischen Rates, Herrmann van Rompuy und der amtierende Ratspräsident teilnehmen.
Die Norm des Reformvertrages bietet nun die Gewähr, an diese gute Tradition anzuknüpfen und spornt dazu an, in der Praxis nicht dahinter zurückzufallen. Der Kirchenartikel sendet außerdem das wichtige politische Signal, dass dieser Dialog auch künftig politisch gewollt und seine Spezifität, etwa in Abgrenzung zum Dialog mit der Zivilgesellschaft, auch rechtlich anerkannt ist. So betonte der Präsident des Europäischen Rates, Herrmann van Rompuy, letztes Jahr auf dem Treffen der europäischen Religionsführer, dass der Dialog mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht nur eine rechtliche Verpflichtung der EU, sondern den Verantwortlichen auch ein politisches Anliegen sei. Wichtig ist nun, den Dialog, insbesondere mit der europäischen Spitzenebene, nachhaltiger und gehaltvoller zu gestalten. Dazu werden derzeit Gespräche mit Parlament und Kommission geführt.
Der Austausch von Politik und Kirche ist von beiderseitigem Interesse: Die EU hat ein ureigenes Interesse an der Mitwirkung der Kirchen und Religionsgemeinschaften am gesellschaftlichen und kulturellen Leben Europas, aber auch an dem kirchlich-diakonischen Beitrag zu Bildungseinrichtungen und sozialen Diensten. Die Kirchen tragen mit ihrem Engagement zum sozialen Zusammenhalt bei, befördern in ihrem grenzüberschreitenden ökumenischen Miteinander den Gedanken der Völkerverständigung und setzen sich u.a. in ihrer gesellschaftspolitischen Arbeit für die europäischen Werte der Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit ein. In den Kirchen haben die EU-Institutionen damit einen kritisch-konstruktiven Partner, um die europäische Integration zu befördern und ein wertebasiertes Europa zu verwirklichen. Die Kirchen wiederum sind auf die Offenheit des politischen Gemeinwesens für ihre Impulse angewiesen und brauchen in ihm einen verlässlichen Partner zur Umsetzung gesellschaftlicher Projekte – nicht zuletzt durch Kenntnis und Akzeptanz ihrer spezifischen Verfasstheit und durch politische und rechtliche Rahmenbedingungen, die ihrem Wesen und Auftrag angemessen sind. Der Dialog hilft, das dafür notwendige Verständnis zu schaffen und zu erhalten.
Als Dialogpartner sind die Kirchen notwendigerweise auch Akteure im Prozess der europäischen Integration und müssen sich zu Europa verhalten. Dieser Prozess ist turbulent, bisweilen chaotisch und frustrierend, ein ständiges Auf und Ab. Aber dieses Element des Unfertigen, der Unabgeschlossenheit ist ein Wesensmerkmal der europäischen Integration und wird es auf absehbare Zeit auch bleiben. Angesichts der derzeitigen Krisenerscheinungen braucht Europa die Fürsprache der Kirchen, und Europa hat sie verdient. Der Ratsvorsitzende der EKD, Präses Nikolaus Schneider, hat es in einem Vortrag im letzten Jahr so schon formuliert: „Wir schulden Europa mehr als nur schweigende Duldung, wir schulden ihm eine beredte Loyalität.“
Das europäische Projekt ist und bleibt auch im 21. Jahrhundert und in Zeiten der Globalisierung ohne Alternative als Garant für Frieden, Wohlstand und Sicherheit. Allerdings scheint allein dieser Umstand nur noch wenige zu motivieren, an den Europawahlen teilzunehmen und sich vertieft mit EU-Politik zu befassen. Es bedarf also neuer Anstrengungen, um die Menschen wieder näher an Europa heranzuführen. Dabei muss immer wieder die Frage gestellt werden, was die Union im Innersten zusammenhält. Das Christentum ist in der EU der 27 sicherlich weiterhin ein starkes verbindendes Element, allerdings darf die zunehmende Pluralisierung europäischer Gesellschaften auch nicht aus dem Blick geraten.
Deshalb gilt zweierlei: Zum einen gilt es, die Kraft des gemeinsamen Glaubens zu aktivieren. Die Universalität der Kirche, die aus protestantischen Verständnis nicht nur politische, sondern auch konfessionelle Grenzen überschreitet und die uns verbindenden Werte, Traditionen und Visionen von einer menschengerechteren Gesellschaft, von der Bedeutung des Gemeinwohls vor egoistischen Partikularinteressen, die Motive Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung – all das ist der Sauerteig eines politischen Gemeinwesens, für das „Europa“ ein unverzichtbares Element ist. Wir müssen den Prozess der europäischen Integration, der seit jeher maßgeblich von engagierten Christen gestaltet worden ist, zukunftsfähig halten. Die Kirchen – gerade in ökumenischer Verbundenheit – haben die Kraft und die Reichweite, Menschen in diesem Sinne für Europa zu entflammen, den europäischen Gedanken zu leben und praktisch zu illustrieren, was Völkerverständigung, Einheit in Vielfalt und gemeinsames Handeln über Grenzen hinweg bedeuten kann, auch indem sie Räume für Begegnungen schaffen, Räume, in denen von Europa erzählt wird.
Zum anderen gilt für die Kirchen mehr denn je, sich auch in Europa „um Gottes willen“ einzumischen. Für uns Protestanten ist und bleibt dabei die Bibel wichtigste Quelle protestantischer Ethik, die uns befähigt, zeitgemäße und menschenfreundliche Antworten auf aktuelle Fragen zu finden. Im politischen Kontext geht es deshalb immer wieder darum, die biblische Botschaft der Nächstenliebe und der Achtung vor Gottes Welt in die Sprache (und das Handeln) des 21. Jahrhunderts zu übersetzen.
Schließlich erreicht Europa die Herzen nur, wenn die Menschen das Gefühl bekommen, dass sie mit ihren Ängsten, Nöten, Zweifeln und Fragen ernst genommen werden. Sie müssen mitreden können, z.B. im Wege des eben erwähnten europäischen Bürgerbegehrens. Mitreden – das ist das Stichwort.
Oberkirchenrätin Katrin Hatzinger ist Leiterin der Dienststelle Brüssel des Bevollmächtigten des Rats der EKD. Vortrag im Rahmen der Reihe „Dialog über Europa mit Bürgerinnen und Bürgern“. Die Vortragsveranstaltung war eine Kooperation von „europe direct“ Saarland, dem Evangelischen Büro Saarland und der „Allianz für den freien Sonntag im Saarland“ am 26.1.2011 im Ratshausfestsaal der Stadt Saarbrücken. Zur Veröffentlichung vorgeschlagen von Frank-Matthias Hofmann, Johanna-Wendel-Straße 15, 66119 Saarbrücken.