Stufen im Leben des Paulus und die Anabathmoi des Jakobus

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Helmut Aßmann

Herzogstraße 74, 67433 Neustadt-Gimmeldingen

Das Wort Anabathmoi kommt nur einmal in der Apostelgeschichte vor in der Bedeutung von Stufen. In dem Titel des bei Epiphanios von Salamis zitierten Werkes des Jakobus, den anabathmoi tou jakobou, bedeutet es wohl eher Stufen im Leben des Jakobus. Bezeichnenderweise sind uns diese Stufen nicht mehr erhalten außer in einer Überlieferung der Jerusalemer Gemeinde, die im Verlauf der Kirchengeschichte unter dem Namen Ebioniten marginalisiert wurde und daher nur in der Ketzergeschichte des Bischofs von Salamis auftaucht.

 

In dem dort erhaltenen Bruchstück der Stufen des Jakobus erfahren wir nichts über Jakobus, viel dagegen über Paulus. Man könnte das Fragment also auch Stufen im Leben des Paulus nennen. In der Rezeptionsgeschichte, z.B. bei Gert Theißen (Paulus – sein Weg vom Fundamentalisten zum Universalisten, Vortrag am 21.6.2009 Stift Neuburg und Klösterle Buchen), werden diese Marginalien über den Apostel Paulus eine judenchristliche Kritik an Paulus genannt. Das trifft insofern zu, als der Verfasser dieser Kritik sich Jakobus nennt, womit ein Pseudonym des Herrenbruders intendiert ist, der der Leiter der judenchristlichen Gemeinde in Jerusalem war. Ich zitiere Gert Theißen: „Schon im frühen Christentum ging einigen seine (des Paulus, H.A.) Kritik am jüdischen Gesetz und an der jüdischen Tradition zu weit. Ein judenchristlicher Autor – der Verfasser der Anabathmoi des Jakobus (in: Epihanius Haer 30,16,6-9); Anmerkung 1) – machte ihm den Vorwurf, er sei gar kein Jude gewesen, sondern stamme von griechischen Eltern ab. Um die Tochter eines (Hohen-?)Priesters heiraten zu können, habe er sich beschneiden lassen, sein Werben sei aber erfolglos gewesen und dadurch sei er zu einem Gegner der Beschneidung, des Sabbats und des Gesetzes geworden“ (zit. n. Andreas Lindemann: Paulus im ältesten Christentum: Das Bild des Apostels und die Rezeption der paulinischen Theologie in der frühchristlichen Literatur bis Marcion, 1979, S.108). Dazu schreibt Theißen: „Diesem Autor war Paulus zu revolutionär. Er wollte seine Gesetzeskritik als Ressentiment erklären.“

 

Der Verfasser irrt sicher, was die Beschneidung des Paulus betrifft; denn Paulus selbst weist den Vorwurf zurück, er stamme von griechischen Eltern ab und habe sich erst in Jerusalem beschneiden lassen, wenn er in Phil 3,4-6 schreibt: „Wenn ein anderer sich dünken lässt, er könne sich auf Fleisch verlassen, so könnte ich es viel mehr: der ich am achten Tag beschnitten bin, einer aus dem Volk Israel, vom Stamme Benjamin, ein Hebräer von Hebräern, nach dem Gesetz ein Pharisäer, nach dem Eifer ein Verfolger der Gemeinde, nach der Gerechtigkeit im Gesetz gewesen unsträflich.“

 

Hierzu schreibt Theißen: „Die jüdische Herkunft des Paulus besteht aus drei ererbten Merkmalen: Paulus ist rituell beschnitten am achten Tag, er stammt genealogisch aus dem Volk Israel, vom Stamme Benjamin ab und er darf sich Hebräer von Hebräern nennen. D.h. er kommt aus einer Familie, die hebräisch sprach und ihre eigene Kultur bewahrt hat.“

 

„Die drei dann folgenden Merkmale sind durch eine abweichende sprachliche Gestaltung von diesen drei ererbten Merkmalen unterschieden.“

 

1.    „Nach dem Gesetz (kata nómon) ein Pharisäer.“ In der Wendung kata nómon (= nach dem Gesetz) klingt für antike Ohren der Gegensatz zu katà phýsin an (= von Natur oder „von Geburt aus“). Wenn Paulus „nach dem Gesetz“ ein Pharisäer war, war er es nicht von Geburt aus. Paulus hat sich wahrscheinlich erst zum Anschluss an die Gruppe der Pharisäer entschlossen, als er in Jerusalem mit seiner Ausbildung im Gesetz begann. Für uns ist wichtig, auch die weiteren Bestimmungen, die mit katá eingeleitet werden, weisen auf bewusste Entscheidungen des Paulus.“

 

2.    „Paulus hat ‚nach Eifer die Gemeinde verfolgt’ (katá zêlos), d.h. er hat, durch das Ideal des Eifers motiviert, eine Minorität, die in seinen Augen die Heiligkeit des Volkes bedrohte, unter Druck gesetzt. Damit stellt er sich in die Tradition, die im Makkabäeraufstand die jüdische Religion gegen Entfremdung durch Anpassung an den Hellenismus bewahrt hat. Er muss die Christen (wohl begründet) verdächtigt haben, das jüdische Gesetz aufzulösen und damit die Abgrenzung zu den Heiden undeutlich zu machen. Das Ergriffensein vom Zelosideal war eine bewusste Entscheidung des jungen Paulus. Man wird nicht als Eiferer geboren.“

 

3.    „Paulus fügt hinzu, er sei ‚untadelig nach der Gerechtigkeit’ (katá tèn dikaiosýnen) gewesen. Dies verstehen wir so, dass Paulus, weil er für das Gesetz eiferte, meinte, untadelig die Forderungen des Gesetzes zu erfüllen. Paulus wurde erst sekundär ein Pharisäer und Eiferer und verfolgte als solcher eine Minorität im eigenen Volk, die von dessen Normen abwich.“ Pressionen gegen abweichende Minoritäten sind Merkmal religiösen Fundamentalismus. Die zwei Wesensmerkmale des Fundamentalismus: Repressionen gegen Abweichler in den eigenen Reihen und Aggression gegen Außengruppen finden sich bei Paulus in seiner vorchristlichen Biographie. „Durch seinen Eifer überbot Paulus andere Pharisäer und Pharisäerschüler. Historisch wissen wir, dass in der Tat nicht alle Pharisäer so radikal waren wie er, sondern nur eine kleine Minderheit, z.B. die Anhänger eines Judas Galilaios und eines Zaduk, die sich von den anderen Pharisäern getrennt hatten und den Aufstand gegen die Römer propagierten.“ Einen Beleg dafür gibt Paulus selbst Gal 1,13f: „Denn ihr habt ja gehört von meinem Leben früher im Judentum, wie ich über die Maßen die Gemeinde Gottes verfolgte und sie zu zerstören suchte und übertraf im Judentum viele meiner Altersgenossen in meinem Volk weit und eiferte über die Maßen für die Satzungen der Väter“ (S. 6).

 

„Wir hatten Fundamentalismus als Überidentifikation mit den Normen der eigenen Gruppe definiert, die sich an zwei Merkmalen zeigt: (1) einmal in einer starken Abwertung und Aggressivität gegenüber Außengruppen und (2) zweitens in einer Repression gegen normabweichende Binnengruppen. Die Abwertung anderer nennt Paulus das Sich-Rühmen (kauchasthai), die Repression gegen Minderheiten Eifer (zelos). Beides lehnt er als Fehlhaltungen ab, die mit der jüdischen Gesetzesfrömmigkeit verbunden sind. Beide kennt er aus persönlicher Erfahrung“ (S. 7).

 

Warum hat sich Paulus vom Fundamentalismus getrennt und ist Christ geworden? Eine erste Antwort auf diese Frage gibt Phil 3. „Dort betont Paulus, er sei untadelig im Judentum gewesen. Der Paulus von Phil 3 war stolz auf das Gesetz.“ Dagegen sagt Theißen: „Unbewußt lebte in ihm schon länger ein Zweifel, ob er das Gesetz des Heiligen Gottes wirklich erfüllen könne und ob das Gesetz den Menschen nicht überfordert.“ In Röm 7 spricht nämlich ein „Ich“, das vor seiner Erlösung durch Christus tief unter dem Gesetz gelitten hat, weil er es nicht erfüllen konnte. Der Widerspruch zwischen beiden Aussagen wird meist so gelöst, dass man das „Ich“ in Röm 7 für ein rhetorisch-fiktives Ich hält, mit dem Paulus gar nicht sich selbst meint, sondern einem allgemeinem Gedanken Ausdruck verleiht“ (S. 9). „Es könnten auch Zweifel daran gewesen, sein, dass er mit Recht die harmlose, kleine Gruppe der Christen verfolgte. Mein Bild vom vorchristlichen Paulus sieht so aus: Er war vorübergehend Fundamentalist mit aggressiven Aktivitäten gegen die Christen als Gesetzesübertretern. Indem er die Christen verfolgte und unterdrückte, verfolgte und unterdrückte er gleichzeitig aber auch diese Zweifel in sich. Er bekämpft in den Christen, was er in sich selbst bekämpft. Er verfolgt in ihren ein Stück von sich selbst. Das heißt aber auch: Als er sich ihnen anschließt, akzeptiert er damit ein Stück von sich selbst“ (S. 9). „Bei ihm (Paulus) finden sich nebeneinander beide kritische Stimmen gegen das Gesetz, ohne dass sie unterdrückt werden: Die Rebellion gegen ein tyrannisches Gesetz, dem der Mensch wie ein Sklave ausgeliefert ist (Röm 6), das den Menschen gefangen hält und von dem er befreit werden muss (Röm 7,6).Unmittelbar daneben steht bei Paulus die depressive Selbstabwertung angesichts eines heiligen Gesetzes, das der Mensch nicht erfüllen kann (Röm 7,14). Nach einer emphatischen Apologie des Gesetzes als heilig, gerecht und gut, wendet sich hier die Aggression gegen das Ich, das die Gebote erfüllen will und nicht erfüllen kann.“ „Das Bekehrungserlebnis vor Damaskus hat es ihm auf jeden Fall ermöglicht, sich seine Kritik gegen das Gesetz einzugestehen und seinen Sündenpessimismus zu überwinden. Paulus darf sich dann eingestehen, dass er ein Sünder und dass das Gesetz unerfüllbar ist. Richtig ist, dass Paulus die Problematik des Gesetzes erst in Retroperspektive formulieren konnte“ (S. 10).

 

 

Die Anabathmoi des Jakobus

 

So sehr diese Schrift darin irrt, dass sie Paulus eine griechische Herkunft unterstellt und sagt, er habe sich erst in Jerusalem beschneiden lassen, um die Tochter des Hohenpriesters zu heiraten, sei aber, nachdem ihm dies nicht gelungen sei, zu einem Gegner der Beschneidung, des Gesetzes und des Sabbats geworden, so sehr kann sie doch darin recht haben, dass sie das Bekehrungserlebnis im Leben des Paulus mit einer unglücklichen Liebe in Zusammenhang bringt, einer Liebe, die ihn zuerst zum Eiferer für das Gesetz gemacht hat und die, als sie sich nicht erfüllte, bei ihm in den Eifer gegen das Gesetz umschlug. Eine Liebe, die nicht erwidert wird, kann sehr wohl zu einer grundsätzlichen Veränderung führen gegenüber den Kreisen, denen man sich vorher verbunden fühlte.

 

In diesem Fall waren es offensichtlich priesterliche Kreise, in denen die Observanz des jüdischen Gesetzes praktiziert wurde, ohne sie zu hinterfragen. Die Zweifel des Paulus an der Erfüllbarkeit des Gesetzes und andererseits seine pharisäische Hochschätzung des Gesetzes entsprachen einem gespaltenen Verhältnis zu diesen Kreisen, denen er durch Heirat anzugehören strebte, von denen er aber aufgrund seines gespaltenen Verhältnisses zum Gesetz nicht als einer der Ihren angenommen wurde. Vielmehr stießen sie ihn zurück, sodass er sich durch die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde von ihrem Gesetzesverständnis lösen konnte und an die Stelle der verweigerten Liebe einer Frau aus einem jüdischen Priestergeschlecht die Erfahrung der Liebe des Christi trat, von dem er bekennt: „der mich geliebt hat und der sich für mich dahingegeben hat“ (Gal 2,20).

 

Die Anabathmoi irren mit der Behauptung der griechischen Herkunft des Apostels. Ihre Deutung des Scheiterns der ehelichen Absichten des Apostels und die Verknüpfung dieses Scheiterns mit dem radikalen Gesinnungswandel in seiner Biographie vom Pharisäer zum Christen und vom Christen zum Apostel eines beschneidungsfreien Evangeliums für die Heiden und der Freiheit vom Gesetz, hat die Judenchristen in Jerusalem befremdet. Aber mit ihrem Deutungsversuch, der zugleich eine Distanzierung von Paulus als auch eine Erklärung für die psychischen Motive seines Gesinnungswandels ausdrückt, kann sie die Paulusdeutung bereichern. Der Verlust der pharisäischen Gesetzesfrömmigkeit korrespondiert mit dem Verlust der Geliebten, die Rechtfertigung aus Glauben, die Erwählung der Heiden und die eschatologische Errettung Israels korrespondieren mit der Hoffnung auf die Eroberung der Geliebten. Hier wird die Geliebte zu einer Metapher für Israel, die geliebten Stammesverwandten des Paulus. Ein neues, ein geistliches Israel, ein Israel katá pneuma, tritt an die Stelle des Israel katá sarka.

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