Helmut Aßmann
Herzogstraße 74, 67435 Neustadt-Gimmeldingen
Ansätze zu zwei verschiedenen Heilmethoden
In der Josefserzählung des Alten Testamentes werden die Träume Josefs und des Pharao gedeutet. Dort heißt es: „Josef sprach zu seinen Brüdern: Und siehe, wir banden Garben auf dem Felde und meine Garbe stand aufrecht und eure Garben standen rings umher und verneigten sich vor meiner Garbe“ (Gen 37,6-7).
Mit diesem Traum kompensiert Josef seinen Minderwertigkeitskomplex gegenüber seinen älteren Brüdern. Normalerweise verhielt es sich nämlich umgekehrt. Die Garben der Brüder standen aufrecht, die Garbe Josefs aber stand, als wolle sie umfallen oder sich vor den Garben der Brüder verneigen. Im Traum werden die Verhältnisse in ihr Gegenteil verkehrt. Der kleine Bruder wird zum größten erhöht. Man nennt das eine Allmachtsphantasie, die aber in diesem Fall lebensnotwendig und ein Kunstgriff des Ichs für die Erhaltung von Josefs Selbstachtung ist.
Noch auffallender ist dies bei Josefs zweitem Traum, in dem Josef träumt, dass sich Sonne und Mond und elf Sterne vor ihm verneigen. Selbst Vater und Mutter und die elf Brüder verneigen sich vor Josef. So die manifeste Bedeutung dieses Traumes. Im weiteren Verlauf der Erzählung wird diese Deutung entfaltet (Gen 37,5-9).
Die beiden Träume Josefs zeigen, dass Josef in seinem zukünftigen Leben eine herausragende Rolle spielen wird. Er wird Herrscher über ganz Ägypten werden, Herr über das Haus des Pharao und Vater des Pharao (Gen 41,40; 45,8). Diese drei Titel, die Josef verliehen wurden, bilden den latenten Trauminhalt. Die Brüder ahnen diesen verborgenen Sinn seiner Träume und hassen ihn deswegen. Sie spüren, dass er sich in seinen Träumen, wie auch schon im Leben, als der Lieblingssohn des Vaters über sie stellt. Nachdem Josef seinem Vater den Traum mit den elf Sternen und Sonne und Mond erzählt hat, zürnt er ihm und fragt: „Sollen deine Mutter und ich uns vor dir niederwerfen?“ Dies geschieht denn auch im Verlauf der Erzählung nicht. Nur die Brüder werfen sich am Ende vor Josef nieder. Die Mutter Josefs ist bereits tot, als Josef diesen Traum geträumt hat. Sie war bei der Geburt Benjamins gestorben. Mit 17 unmittelbar nach den Träumen war Josef nach Ägypten gekommen. Sein Traum hatte begonnen, aber er erwies sich zunächst als ein Albtraum. Erst mit 30 wird er vom Pharao zu seinem Stellvertreter ernannt. Die 13 Jahre dazwischen deutet Grimmelshausen zahlensymbolisch in seinem Roman „Der keusche Josef“ auf die Zahl der Eltern und Geschwister Josefs, die er im Traum als elf Sterne, Sonne und Mond sieht.
Man kommt der Bedeutung der drei oben genannten Titel näher, wenn man sie auf die allgemeine psychische Situation des Menschen überträgt und bedenkt, dass jeder Mensch in seinem Leben dazu bestimmt ist, ein Selbst zu werden, wie C.G. Jung sagt. Dieses Ziel nennt der Erzähler der Josefs-Novelle, nachdem Josef es erreicht hat und rückblickend auf sein Leben schaut: „Gott hat mich zum Herrscher über ganz Ägypten gemacht“ (Gen 45,8a). Dies zu werden ist für den Erzähler das Ziel, das es im menschlichen Leben zu erreichen gilt. So ist Josef am Ende seines Lebens zu einem wahren Selbst geworden, hat ein Bewusstsein von sich selbst erlangt, ist im übertragenen Sinne Herrscher über ganz Ägyptenland geworden. Das heißt, dass er erstens die Schattenaspekte seines Ichs integriert hat, die in seinem Leben und im Traum die Brüder repräsentieren. Er hat weiterhin die Elternimagines integriert, die im Traum Sonne und Mond repräsentieren und er hat sogar sein Ich in sein Selbst integriert, was in der Erzählung mit den Worten ausgedrückt wird: „Gott hat mich zum Vater des Pharao gemacht“ (Gen 45,8a). Hier ist das Ich der Vater des Selbst, das Ich und das Selbst bilden eine Einheit. Das Ich ist in das Selbst integriert. Dieser verborgene Sinn seiner Träume wird in der Erzählung im Verlauf des Lebens Josefs entfaltet, indem der Pharao Josef ins höchste Amt im Staat beruft (Gen 41,40), indem die Brüder sich am Schluss vor Josef niederwerfen und sagen: „Wir sind deine Knechte“ (Gen 50,18) und indem der Vater Josefs Söhne Ephraim und Manasse segnet (Gen 48,14). Die letzte Szene hat Rembrand sehr anschaulich in einem Gemälde dargestellt, das in der Kunstgalerie Kassel zu sehen ist.
Lassen Sie mich nun die Träume des Pharao betrachten. Er sagte: „Ich befand mich am Ufer des Flusses. Und siehe: sieben fette und stattlich anzusehende Kühe stiegen aus dem Wasser und gingen auf die Weide. Nach ihnen stiegen sieben magere Kühe aus dem Wasser und die hässlichen und mageren Kühe fraßen die sieben fetten Kühe. Sie verschlangen sie in ihre Mägen, ohne dass man sah, dass sie dort angekommen wären. Und ihre Gestalten waren hässlich wie zuvor. In diesem Traum sah ich auch sieben volle und schöne Ähren auf einem Halm. Danach stiegen sieben Ähren auf, dünn und verbrannt vom Ostwind und die sieben dünnen Ähren verschlangen die sieben dicken“ (Gen 41,17-24).
Josef sagte: „Beide Träume bedeuten das gleiche. Gott verkündet dem Pharao, was er vor hat. Nach sieben Jahren des Reichtums gibt es sieben Hungerjahre. In den sieben Hungerjahren wird man die Fülle des Landes vergessen; denn der Hunger wird das Land verzehren“ (Gen 41,30). Indem Josef dem Pharao seine Träume auslegt, macht er ihm seine Verantwortung für sein Land bewusst. Er macht ihm weiter deutlich, dass sein eigenes Unbewusstes ihm den Weg zeigt, seine Verantwortung für die Jahre des Hungers wahrzunehmen. Somit zeigt ihm sein eigenes Unbewusstes den Weg, der zum Überleben des Volkes führt, und es sagt es ihm durch seine Träume, die in ihrer Wiederholung ihm den Ernst und die Gefahr der bevorstehenden Situation zeigen. Die Deutung seiner Träume durch Josef befähigt den Pharao zum Handeln und dazu, sein eigenes Unbewusstes zu verstehen, welches Josef Gott nennt, indem er sagt: „Gott verkündet dem Pharao, was er vorhat“ (Gen 41,25).
Der Gott der Josefserzählung ist an dieser Stelle identisch mit dem Begriff des Unbewussten, obwohl er an anderer Stelle der Handelnde ist, der sein Handeln durch Träume ankündigt. Zwischen dem extern gedachten Gott und dem intern gedachten Gott im menschlichen Unbewussten gibt es eine Zwiesprache durch das Medium des Traums. Dieses Medium zu deuten, ist zunächst Sache Gottes, wie Helmut Hark es in seiner Monographie „Der Traum, Gottes geheime Sprache“ ausgeführt hat und wie Josef es mit den Worten „Gott verkündet dem Pharao, was er vorhat“ ausdrückt. Gott bedient sich Josefs als seines Traumtherapeuten. Er lenkt die Geschicke des Menschen zum Guten.
Spätere Ausleger wie Grimmelshausen in seinem Roman „Der keusche Josef“ haben hierfür den Begriff der Vorsehung verwendet. Dieser Begriff entstammte der Theologie des 17. Jahrhunderts und wurde auch in der der Aufklärung des 18. Jahrhunderts verwendet, gehört aber literarisch einer andern Geisteswelt zu. Grimmelshausen orientierte sich mit ihm unbewusst an der Ödipussage der griechischen Antike und der Tragödie des Sophokles, in der das Orakel ein unabwendbares Geschick ankündigt, das entgegen allen Widerständen zu seinem Ziel gelangt. Grimmelshausen kennt diese Sage und das dahinter verborgene Konzept und sieht es in den Stoff der biblischen Josefserzählung hinein, die allerdings den Traum an die Stelle des Orakels gesetzt hat, der aber ebenso wie das Orakel in der Ödipussage unabwendbar das Schicksal des Protagonisten bestimmt, wobei der Schicksalsbegriff der griechischen Antike ebenso wie der der Vorsehung dem biblischen Stoff nicht entspricht, ja sogar fremd ist. Das Endziel wird in beiden Dichtungen, die ja beide der Antike angehören, sei es durch den Traum oder das Orakel vorweggenommen und Zug um Zug seiner Vollendung entgegengeführt. Der Unterschied zwischen beiden Erzählungen besteht also weniger in der Tatsache der Vollendung des Trauminhalts oder des Orakels, sondern in der darin enthaltenen Vorstellung von der Bestimmung des Protagonisten und wir können jetzt schon sagen, des Menschen schlechthin.
Ist es in der Josefssage die Erlangung höchstmöglicher Macht innerhalb der eigenen Großfamilie, Macht über Geschwister und Eltern, ist es in der Ödipussage der Besitz der Mutter und der Königswürde, die den Vatermord billigend in Kauf nimmt. Die Beziehung zum Vater wird in der Josefssage als äußert liebevoll dargestellt und bis zum Ende beibehalten. Sie erregt dadurch den Neid der Brüder und die entsprechende Reaktion. Die Mutter Rahel hingegen spielt überhaupt keine Rolle, da sie bereits tot ist und an der Dramatik des Geschehens selbst keinen Anteil hat, es sei denn, man sähe in dem frühen Verlust der Mutter und dem damit verbundenen Mutterkomplex Josefs eine ursächliche Kraft für den steilen Aufstieg und den Absturz Josefs.
Völlig anders verhält es sich im griechischen Mythos. Hier spielt der Besitz der Mutter eine Rolle, um derentwillen der Vater in einem dramatischen Akt getötet werden muss. Da dies dem Vater schon vor der Geburt des Sohnes durch das Orakel angekündigt worden ist, versucht er sein Schicksal durch die Aussetzung des Sohnes im Gebirge abzuwenden. Die Rivalität mit dem Sohn muss dennoch ausgetragen werden und der Vater unterliegt, so wie die Rivalität Josefs mit den Brüdern ausgetragen werden muss und diese unterliegen. Josef behält die Liebe des Vaters, Ödipus gewinnt die Liebe seiner Mutter. Aber Josef gewinnt darüber hinaus auch die Liebe des Pharao. Er wird „Herr über das Haus des Pharao“ (Gen 45,8), so wie er vorher Herr über das Haus des Potifar, seines Dienstherren, war. „Nur um den königlichen Thron will ich größer sein als du“, sagt der Pharao zu ihm (Gen 41,40) und Josef sagt zu Potifars Frau, nachdem sie versucht hat, ihn zu verführen: „Er ist in diesem Haus nicht größer als ich und er hat mir nichts vorenthalten außer dir, weil du seine Frau bist. Wie sollte ich denn nun ein so großes Übel tun und gegen Gott sündigen?“ (Gen 39,9)
Was in der Josefssage heraussticht, sind ethische Überlegungen, die im griechischen Mythos völlig fehlen. Das Gebot „Du sollst nicht ehebrechen!“ wird als bekannt vorausgesetzt und damit die ganze Thora. Damit wird aber auch Gott vorausgesetzt, der im griechischen Mythos nicht vorkommt. Durch den Glauben an Gott wird die literarische Konzeption des Mythos zwar beibehalten, er erhält aber moralische Akzente durch die Versöhnung Josefs mit seinen Brüdern und die Weigerung, den Ehebruch zu vollziehen. „Stehe ich denn an Gottes statt?“, sagt er zu seinen Brüdern. Dadurch kommt ein Element der Solidarität ins Spiel. Josef bleibt der Sohn seines Vaters und der Bruder seiner Brüder. Seine Stellung am Hof ändert daran nichts. Ödipus dagegen wird König. Blutschande und Vatermord sind Stationen auf seinem Wege, die er schicksalhaft auf sich nimmt, weil das Orakel es so will. Josef dagegen bleibt im Einklang mit Gottes Willen, den er ihm im Traum geoffenbart hat und versteht sich als von Gott geführt. Auch das moralische Übel, das seine Brüder ihm angetan haben, versteht er als Führung Gottes. „Nicht ihr habt mich nach Ägypten geführt, sondern Gott“, sagt er, bevor er ausführt, wozu ihn Gott gemacht hat, was jetzt vor Augen ist und was der Satz am Schluss der Novelle ausdrückt mit den Worten: „Ihr zwar wolltet es böse machen, Gott aber hat es gut gemacht, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.“
An der Auslegung der beiden Erzählungen scheiden sich die Psychoanalyse Sigmund Freuds und die analytische Psychologie C.G. Jungs. Freud hat den Ödipuskomplex entdeckt als eine Erkrankung des abendländischen Menschen, Afrikaner dagegen sind von ihm weitestgehend frei. C.G. Jungs analytische Psychologie bietet das Instrumentarium für die Auslegung der Josefserzählung, wie es oben gezeigt wurde. Im Streit um die Heilung des psychisch kranken Menschen konkurrieren beide Methoden auf dem Feld der psychoanalytischen Praxis. Was für die Heilung hilfreich ist, kann nur der Patient entscheiden, der sich auf eine der beiden Heilmethoden eingelassen hat.
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