Die Bibel ins Leben ziehen

Print Friendly, PDF & Email

Dr. Stefan Meißner
Im Schloßgarten 10, 76872 Minfeld

Eigene Erfahrungen, Einsichten und Anfragen – Vorsicht: sehr autobiografisch!

Glaube und Vernunft

Aufgewachsen in einem eher säkularen Elternhaus, war ich als Kind viel mehr naturwissenschaft­lich als religiös interessiert. Im Keller meiner Oma hatte ich ein kleines Labor eingerichtet, wo ich allerlei abenteuerliche Experimente machte. Mein erster Studienwunsch war entsprechend: Chemie. Im Laufe der Schulzeit verlagerte sich mein Interesse zunehmend zugunsten der Geisteswissenschaften. Vor allem soziale und gesellschaftspolitische Frage traten jetzt in den Vordergrund. Was freilich blieb, war ein naturwissenschaftliches Weltbild, das stark rationale Züge trug. Für mich war und ist bis heute wichtig, den Kopf nicht an der Kirchentür abgeben zu müssen. Ein Satz F. D. E. Schleiermachers, auf den ich später erst stieß, fasst mein frühes Denken und Empfinden gut zusammen: „Soll denn der Knoten der Geschichte so aufgehen, die Wissenschaft mit dem Unglauben und die Religion mit der Barbarei?“

Politische Theologie

Zugang zur Kirche erhielt ich durch die Konfirmandenarbeit, mehr aber noch durch die offene Jugendarbeit der Jugendzentrale in Bad Dürkheim: Es war die Zeit der Friedensbewegung, die sich im Protest gegen den sog. NATO-Doppelbeschluss formierte. Meine Frömmigkeit, wenn man damals überhaupt davon sprechen konnte, war eher politisch geprägt.

Kurz vor dem Abitur verweigerte ich den Kriegsdienst unter Berufung auf die Bibel. Vor allem Texte der Bergpredigt spielten dabei eine Rolle. Meinen Gebrauch der Bibel könnte man mit gewissem Recht als eklektisch bezeichnen, als ich die Texte von meinen konkreten Lebensfragen her beleuchtete. Mich interessierte damals (mit den Worten Martin Niemöller formuliert): „Was würde Jesus dazu sagen?“, und zwar mit der Zuspitzung: „Was würde er heute dazu sagen, nicht: „Was sagte die Bibel damals dazu?“

 

Erste hermeneutische Fragen

In dem Religionsunterricht, den ich genoss, spielte die Bibel eher eine untergeordnete Rolle. Der problemorientierte Religionsunterricht war damals angesagt, was meinem eigenen Denken sehr entgegen kam. Wo die Bibel dennoch vorkam, drängten sich hermeneutische Fragen nach ihrer Besonderheit auf, etwa:

– Ist die Bibel ein Buch wie jedes andere oder ist sie Heilige Schrift?

– Falls letzteres der Fall sein sollte (und davon ging ich schon als Jugendlicher aus): Worin genau besteht ihre Heiligkeit?

– In methodischer Hinsicht hieß das: Darf man mit der Bibel genau so umgehen wie mit anderen Texten der Antike oder gibt es eine hermeneutica sacra?

Letztere Frage stellte mir mein damaliger Religionslehrer – natürlich mit anderen, einfacheren Worten – nach der Unterrichtsstunde. Ich antwortete dialektisch mit „Ja, aber…“: Ja, man darf die Bibel mit den gleichen Methoden erschließen wie andere Texte der Antike auch. Aber die mit diesen Methoden erschlossene Botschaft hat dann für mich als Christ einen anderen Stellenwert als die Aussagen etwa eines Platon oder eines Aristoteles. Ich muss gestehen: Sehr viel anders würde ich es heute auch nicht sagen.

Kerygma und Mythos

In der Vorbereitung auf das mündliche Abitur im Fach Religion – ich hatte das Schwerpunktthema ‚Tod und Auferstehung Jesu’ – stieß ich auf Rudolf Bultmanns Entmythologisierungsprogramm. Das war alles andere als eine leichte Lektüre, aber was ich erfasste, überzeugte mich: Die Unterscheidung von Kerygma und Mythos. Es ist die frohe Botschaft von Jesus Christus, die wir weiterzusagen haben, nicht das mythologische Weltbild der Antike. Wer letzteres zum Inhalt der Verkündigung macht, erweckt den Anstoß an der falschen Stelle. Ich habe heute das ungute Gefühl, dass man zu schnell über Bultmann hinweg gegangen ist. Gerade seine Hermeneutik enthält noch immer unabgegoltene Fragestellungen, auch wenn seine Antworten nicht immer befriedigen.

Gotteswort und Menschenwort

Unser Pfarrer sagte im Konfirmandenunterricht: Die Bibel, das ist das Wort Gottes, das in Worten von Menschen verborgen ist. Diese Unterscheidung von Gottes- und Menschwort leuchtete mir spontan ein. Es ist freilich in der Praxis gar nicht so einfach, beides voneinander zu trennen. Das eine ist nämlich mit dem anderen verwoben. Es ist nicht so, dass man nur die zeitbedingte Schale abheben müsse, um an den zeitlosen Kern zu kommen. Vielleicht gehört das gerade zum Wesen des Christlichen – so denke ich mir heute –, dass das Ewige im Zeitlichen Gestalt annimmt. Wie das Göttliche sich in einem Menschen offenbarte, muss auch das Wort Gottes sich möglicherweise „inkarnieren“, um uns nahe zu kommen.

Historische und andere Wahrheiten

Der Begriff des Mythos (im Unterschied zum ‚Logos’) hatte für mich anfangs noch eine stark negative Konnotation: Er roch zu sehr nach Nur-Erzähltem, Nur-Erdichtetem, also letztlich Unwahrem. Dass es auch Wahrheiten gibt, die auf einer anderen als der historischen Ebene liegen, ahnte ich zwar, konnte es aber als Schüler noch nicht recht zum Ausdruck bringen. Dabei half mir später Sallust mit seiner Definition: „Mythos ist das, was nie war, aber immer ist.“ Es geht um Grundkonstanten unseres Menschseins also, bleibende Wahrheiten, narrativ verpackt. Interessant sind biblische Texte also nicht nur, sofern sie ‚history’ überliefern, sondern auch (oder gerade?) als ‚story’ sind sie von Wert.

Konsequenz: Die Bibel will erzählt sein, nicht nur ausgelegt. Nur so kann sie mit meiner eigenen Story, meiner Lebensgeschichte, eine fruchtbare Symbiose eingehen.

Der „garstige Graben“

Als ich das Theologiestudium aufnahm, fiel bei mir der Sturz in den „garstigen Graben“(Lessing),der uns moderne Menschen von der Welt der Bibel trennt, relativ glimpflich aus. Anders als für die meisten meiner Kommilitonen bedeutete die Begegnung mit der historisch-kritischen Erforschung der Bibel für mich keinen Schock. Ich litt nicht an den neuen Einsichten, sondern sog sie im Gegenteil eifrig im mich auf. Die exegetischen Fächer dominierten von Anfang an meinen Stundenplan. Das blieb auch so bis zu meinem Examen. Als mir mein damaliger Gemeindepfarrer kurz vor seiner Pensionierung mit leicht konspirativem Lächeln zuraunte: „Gut, dass die einfachen Christen nicht wissen, was wir beide wissen…“, war ich innerlich empört angesichts der Bigotterie dieser Bemerkung.

Wahrheit und Methode

Im zweiten Semester saß ich in der Vorlesung des damals fast 90-jährigen Philosophen Hans Georg Gadamer. Es wäre gelogen zu sagen, ich hätte alles verstanden, was die lebende Legende am Katheder zum Thema Hermeneutik zum Besten gab. Aber ein Stachel blieb haften: Die Wahrheit will nicht durch die Methode ans Licht gezerrt werden. Ja, „Wahrheit und Methode“ (so der Buchtitel von Gadamers Hauptwerk) können manchmal in einen diametralen Gegensatz treten, so dass man fast sagen müsste: „Wahrheit statt Methode“. Intuition oder zweckfreie Betrachtung bringt mich einer Sache unter Umständen näher als ein rein kognitiver Zugang. Mir war klar: Das galt auch für die historisch-kritische Bibelauslegung.

Die Heidelberger Schule: Kritik an der historischen Kritik

Zu dieser Methodenkritik passten die Anfragen, die der kurz vor seiner Emeritierung stehende Rolf Rendtorff an die bis dahin vorherrschende Pentateuchforschung stellte. Er und seine Kollegen – Frauen gab es auf den Lehrstühlen noch nicht – stellten den Sinn der üblichen Quellenscheidung in Frage. Das erfrischend subversive Nordlicht Bernd Joerg Diebner sprach mit Verachtung von der in der Forschung gängigen „Offenbarungsarchäologie“, die meinte, durch die Rekonstruktion der Vorgeschichte der biblischen Texte Gott besonders nahe zu kommen. Doch kanonisiert wurde die Bibel in ihrer Endgestalt, keine der von den Forschern rekonstruierten, höchst hypothetischen Vorstufen. Mit dieser Einsicht wurde das Verhältnis synchroner und diachroner Fragestellungen in der Bibelwissenschaft für mich wieder zurecht gerückt. Endlich sprachen die Fachleute wieder über die gleiche Bibel wie der ganz normale Christ, der zuhause seine Heilige Schrift aus dem Schrank nahm.

„Kritischer müssten sie sein…“

Als systematischer Theologe prägte mich Karl Barth, den man zu Unrecht in den USA als „neo-orthodox” beiseite gelegt hat. Anders als den Evangelikalen waren seine Vorbehalte gegenüber der historisch-kritischen Forschung nicht etwa dadurch motiviert, dass ihm diese zu kritisch war. Das Gegenteil war der Fall: „Kritischer müssten sie sein, weitaus kritischer!”, meinte er einmal im persönlichen Gespräch (K. Barth: Gespräche 1964-1968, S. 165). In seinem „Römerbrief“ exerzierte er schon nach dem Ersten Weltkrieg vor, wie es aussieht, wenn (wie heute oft gefordert) neben die historische eine theologische Auslegung tritt. In seiner „Kirchlichen Dogmatik“ (KD I,1) unterschied Barth das Wort Gottes in seiner dreifachen Gestalt:

(1)   Jesus als der Logos Gottes,

(2)   die Bibel als gedrucktes Buch

(3)   und das gepredigte Wort von der Kanzel.

 

Wer sich daran hält, wird aus der Bibel keinen „papiernen Papst“ machen, wie man es uns Protestanten zuweilen – nicht ganz ohne Recht – vorwirft. Neo-Orthodoxie oder gar Fundamentalismus sieht anders aus.
Fragen und Antworten

Manche haben versucht, das Verhältnis von Leser und Text auf die Begriffe Frage und Antwort zu reduzieren. Oder man sieht den Leser als Subjekt und die Bibel als Objekt. Doch was für andere Bücher vielleicht plausibel klingt, reicht hier zur Beschreibung nicht aus. Auch das eine Frucht der Barth´schen Theologie: Bei der Bibellektüre bin ich als Leser oft nicht der Fragende, sondern der In-Frage-Gestellte. Manchmal entdecke ich beim Lesen Antworten auf Fragen, die zu stellen mir nie in den Sinn gekommen wären. Subjekt und Objekt verschmelzen im Prozess des Verstehens. Wo das passiert, ist ein Dritter mit von der Partie: Gott selber, oder dogmatisch präziser formuliert: der Heilige Geist.

 

Ein Kanon im Kanon?

Die Bibel ist ein vielstimmiger Chor, reichhaltig, verwirrend, manchmal sogar widersprüchlich: Aus dem gleichen Buch rechtfertigen die einen Kreuzzüge, die anderen Pazifismus. Was gilt denn nun? Gibt es Kriterien für den Umgang mit dieser Vielfalt?

Nach Luther besteht das Entscheidende darin, „was Christum treibet“. Was sich wie etwa der Jakobusbrief seiner Christologie nicht unterordnen lässt, wird von dem Reformator als „strohene Epistel“ abgetan. Doch gemessen an diesem Maßstab werden große Teile der Schrift hinfällig – oder gegen den Strich gebürstet. Der Vielfalt der Schrift wird so Gewalt angetan. Ist diese Vielfalt nicht auch ein Reichtum? Einer meiner Professoren empfahl uns Maria als hermeneutisches Modell: Sie verstand nicht sogleich, was die Hirten über ihr neugeborenes Kind sagten, aber sie „behielt alles, was geschah, und bewegte es in ihrem Herzen (Lk 2,19). Für unseren Gebrauch der Bibel heißt das: Das Widerständige, das Sperrige, das sich sofort erschließt, nicht auszusondern wie Marcion oder andere, die mit der Schere der Bibel zu Leibe rückten, sondern es liegen zu lassen für anderen Menschen oder andere Zeiten. Irgendwann und irgendwo kann auch das zunächst beiseite Gelegte für mich zum Wort Gottes werden.

Ein durch und durch jüdisches Buch

Die Bibel ist ein durch und durch jüdisches Buch. Es wurde (bis auf wenige Ausnahmen) von Juden für Juden geschrieben, nicht für uns Christen aus „den Völkern“. Wir, die jüngeren Geschwister, sind in die Verheißungsgeschichte Gottes mit Israel erst später mit hineingenommen worden. Der erste Teil der Bibel ist nicht nur Altes Testament, sondern er hat eine doppelte Wirkungsgeschichte. Die Traditionen des Tenach leben bis heute fort in der jüdischen Auslegungstradition. Diesen Reichtum wahr- geschweige denn aufzunehmen, haben wir in der Kirchengeschichte weitgehend versäumt. Auch ich habe lange gebraucht, bis mir das klar wurde. Gerne ziehe ich heute Bände von Raschi, Plauth oder Gradwohl aus meinem Bücherregal und lasse mich inspirieren von einem völlig anderen Blick auf das gleiche Buch als meinem gewohnten.

 

Schrift und/oder Tradition?

Im Judentum gibt es eine schriftliche und eine mündliche Tora. Beide gelten als gleichwertige Quelle der Offenbarung. Wir Protestanten hingegen hängen am reformatorischen Schriftprinzip „sola scriptura“. Die Schrift ist die Norm über allen Normen („norma normans“),  spätere Bekenntnisse und Lehren besitzen lediglich eine davon abgeleitete Autorität („noma normata“). Als ideologiekritisches Korrektiv gegen den Alleinvertretungsanspruch der kirchlichen Hierarchie kann ich das gut nachvollziehen. Auch die neuere Rezeptionsästhetik sieht ja einen Text als eine Art „offenes Kunstwerk“: Die Bibel ist die Summe ihrer möglichen Auslegungen, wie H. Thyen in seinen Seminaren immer sagte – wobei er verschmitzt hinzuzufügen pflegte, dass es auch unmögliche Auslegungen gebe. Andererseits wäre es naiv, die Wirkungsgeschichte auszublenden. Wir lesen die Bibel nie vorurteilsfrei, sondern stets mit unserer eigenen Brille. Insofern: Schrift und Tradition. Das sich einzugestehen, ist ein Gebot intellektueller Redlichkeit. Auch für Protestanten!
 

Zu wenig und zu viel Bibel

Unter meinen Schülern gibt es viele, die die Bibel so gut wie gar nicht mehr kennen. Weder das Elternhaus noch Kindergottesdienst haben sie ihnen nahe gebracht. Nicht einmal einen Klassiker wie das Gleichnis vom Verlorenen Sohn kann man im Unterricht als bekannt voraussetzen. Dann gibt es eine kleine, aber sehr aktive Minorität, die aufgrund eines evangelikalen oder freikirchlichen Hintergrundes über sehr weitgehende Bibelkenntnisse verfügt. Beiden Gruppen versuche ich gerecht zu werden: Den einen indem ich wieder verstärkt biblische Geschichten erzähle. Gerade die jüngeren Schüler – man glaubt es kaum –  saugen diese Erzählungen gierig auf. Auch in eigentlich nichtbiblischen Unterrichtseinheiten platziere ich elementare Bibeltexte und hoffe so, den drohenden Traditionsabbruch ein wenig abzufedern. Die anderen, „frommen“ Schüler aber versuche ich durch kritisches Hinterfragen ihres meist naiven Biblizismus zu ent-täuschen, damit nicht irgendwann bei ihnen Glaube und Vernunft auseinanderfallen.

Ein Desiderat

Insgeheim beneide ich diese „frommen“ Schüler aber auch ein wenig, die so ganz anders als ich sozialisiert sind. Während ich die Bibel fast nur von Berufs wegen in die Hand nehme, können sie (vorausgesetzt, sie werden nicht von ihren Eltern dazu genötigt) die Bibel „einfach so“ lesen: zweckfrei, ohne besonderes Ziel. Sie verinnerlichen so durch den stetigen Gebrauch schon als junge Menschen einen Schatz an Worten und Bildern, von dem sie wohl ein Leben lang zehren werden. Dass ich finde, ohne zu suchen, einfach so, durch zweckfreies Stöbern, wünsche ich mir manchmal auch. Ich habe es einmal mit dem täglichen Lesen von Losungen versucht: ohne wirkliche Befriedigung. Zu fragmentiert tritt mir hier das Wort Gottes gegenüber. So bleibt es dabei, dass ich, der „Fachmann“, den unschuldigen, unvoreingenommenen Blick in die Bibel manchmal vermisse. Wie ein Gärtner, der keine Zeit findet (oder sie sich nicht nimmt?), an den Blumen, die er geduldig heranzieht, hin und wieder auch einmal zu riechen. Man sollte es einfach öfters tun – einfach tun!

Ähnliche Artikel:
Dr. Stefan Meißner
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.
Menü