Mission shaped church

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Dr. Claus Müller
Hauptstraße 1, 76726 Germersheim

Anregungen aus Großbritannien zur Volkskirche im Umbruch

In Großbritannien findet seit mehreren Jahrzehnten ein kirchlicher Aufbruch statt, der auch für unser eigenes Nachdenken über Volkskirche im Übergang hilfreiche Impulse geben kann.

Im Zentrum dieses Aufbruchs steht die praktische, organisatorische und theologische Neubestimmung dessen, was Kirche und was Gemeinde ist. Die britischen Kirchen reagieren damit auf die Veränderung des gesellschaftlichen Kontextes, beweisen aber zugleich den Willen und den  Mut, das Evangelium in den veränderten Kontexten neu (afresh) zu verkündigen und neue Ausdrucksformen des Glaubens und der Kirche (fresh expressions) zu suchen und zuzulassen. Die Frage nach der Inkulturation des Evangeliums in unsere (post-)moderne(n) westeuropäische(n) Gesellschaft(en) wird dabei ebenso mit neuer Radikalität gestellt wie die Frage, in welcher Gestalt Kirche ihre Mission am besten erfüllen kann (mission shaped church).

Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte wurden von einer Kommission der anglikanischen Kirche ausgewertet, zusammengefasst und 2004 unter dem Titel „mission-shaped church. churchplanting and fresh expressions of church in a changing context“ (Dt.: Mission bringt Gemeinde in Form, hg. v. Michael Herbst, Neukirchen, 2006) veröffentlicht.[1] Dieses Buch lieferte wiederum wichtige Impulse für die weitere Diskussion. Auch in Deutschland werden die britischen Erfahrungen und Anregungen inzwischen verstärkt aufgegriffen und auf ihre Übertragbarkeit geprüft.[2]

Im Folgenden sollen die wichtigsten Thesen von „misson shaped church“ kurz zusammengefasst werden.[3] Das leitende Interesse ist dabei die Frage, welche Impulse für unsere Situation einer Volkskirche im Umbruch und unsere eigene Diskussion über die Zukunft der Pfälzischen Landeskirche hilfreich sein können.

Veränderte Gesellschaft

Der Bericht „mission shaped church“ beginnt mit einer Analyse der veränderten gesellschaftlichen Kontexte in Großbritannien, deren Ergebnisse ähnlich auch für Deutschland gelten können.

Unter dem  Leitbegriff „fragmentierte Gesellschaft“ werden die veränderte Wohnsituation mit dem Trend zu mehr, dafür aber kleineren Haushalten problematisiert ebenso wie die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, die erhöhte Mobilität, die Auflösung traditioneller familiärer Strukturen sowie ein verändertes Freizeitverhalten.

Zwei Aspekte werden besonders herausgehoben: zum einen die zunehmende Bedeutung von Netzwerken als Form der Vergesellschaftung und der sozialen Beziehungspflege gegenüber einer statischen Ver-Ortung von Lebensbezügen, zum anderen die Bedeutung des Konsums als entscheidendes Identifikationsmedium („Die heutige Generation identifiziert sich darüber, was sie konsumiert.“, S. 46).

Zugleich mit diesen Entwicklungen gehe das Ende des Christentums als „kulturbeherrschende Größe“ und die Ausbildung einer post-christlichen, multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft einher.

Die britischen Kirchen nehmen diese gesellschaftlichen Veränderungen nun nicht einfach resignativ zur Kenntnis, sondern begreifen sie als missionarische Herausforderung („Eine veränderte Gesellschaft bedeutet auch einen neuen Auftrag Gottes.“, S. 53). Dabei werden die Anknüpfungsmöglichkeiten durchaus differenziert wahrgenommen:

Auch wenn die Schattenseiten einer mobilen Netzwerkgesellschaft gesehen werden, so greifen viele missionarische Initiativen den Netzwerkgedanken positiv auf und versuchen jenseits der traditionellen kirchlichen Orte und Strukturen selbst zielgruppenorientiertes „networking“ zu betreiben. Statt der Frage nach dem „Wo?“ rückt die Frage nach dem „Wie?“ kirchlichen Lebens stärker in den Mittelpunkt. Statt eine „Komm-Struktur“ zu pflegen, wird bewusst eine „Geh-Struktur“ aufgebaut.

Negativ werden demgegenüber der um sich greifende „Konsumismus“ und das Anspruchsdenken bewertet – auch wenn zugestanden wird, dass darin letztlich eine Suche nach dem guten Leben zum Ausdruck kommt. Viele der Initiativen verstehen sich hier eher als Gegengewicht oder als Alternativangebot.

Theologische Grundlagen

Die Wahrnehmung des veränderten gesellschaftlichen Kontextes der Kirchen in Westeuropa geht nun aber zugleich einher mit einer neuen Reflexion dessen, was der Auftrag der Kirchein diesem veränderten Kontext ist. Diese ekklesiologische Neubestimmung bildet das Rückgrat des Konzepts einer „mission shaped church“. Sie schließt sich an Diskussionen in der ökumenischen Bewegung über die „missio dei“ an und  findet ihre prägnanteste Zusammenfassung in der These: „Es ist nicht die Kirche Gottes, die einen missionarischen Auftrag in der Welt hat, vielmehr hat ein missionarischer Gott eine Kirche in der Welt“ (S. 162).

Diese Einsicht steht gegen jede Versuchung, Kirche als Selbstzweck oder gar als Heilanstalt misszuverstehen. Alle kirchlichen Reformbemühungen haben nicht auf die Institution Kirche um ihrer selbst willen zu zielen, sondern müssen auf deren Funktionalität gerichtet sein. Kirche ist nicht das eigentliche Subjekt missionarischen Engagements, sondern lediglich ein Instrument. Subjekt jeglicher Mission ist Gott selbst.[4] Damit steht es aber auch nicht im Belieben der Kirche und der Gemeinden, ob sie missionarisch tätig sein wollen oder nicht. Sie müssen es sein, wollen sie nicht ihren Sinn verlieren. Die ekklesiologische Neubestimmung wird so zurückgebunden an die Gotteslehre (im engeren Sinn).

Zugleich wird die missionarische Neuausrichtung christologisch und heilsgeschichtlich verankert. Dabei spielt das für die anglikanische Theologie zentrale Theologumenon von der Inkarnation eine entscheidende Rolle. Zudem knüpft der Bericht an Diskussionen in der ökumenischen Bewegung über die Inkulturation des Evangeliums an: So wie Christus wahrhaft Mensch wurde und sich in seine Zeit hineinbegab, so muss sich auch die Kirche mit ihrer Verkündigung des Evangeliums in ihre jeweilige Gesellschaft inkulturieren. Nur so kann es zu einer fruchtbaren Dynamik zwischen gesellschaftlichem Kontext und Evangelium kommen.[5]

Der Auftrag, das Evangelium je neu zu verkünden, findet sich denn auch im anglikanischen Ordinationsgelübde, das den Ordinierten in den Auftrag der gesamten Kirche hineinstellt, „den Glauben  … in jeder Generation neu zu verkünden“ („which faith the Church is called upon to proclaim afresh in each generation“, S. 186f). Von diesem Auftrag her wird dann das Bemühen legitimiert, neue Ausdrucksformen des Glaubens (fresh expressions) zu suchen.

In einem weiteren Schritt werden dann auch die klassischen vier Kennzeichen der Kirche des Apostolischen Glaubensbekenntnisses auf ihren Beitrag für eine missionarisch-ekklesiologische Neubestimmung befragt.

Selbst wenn wir in der Pfalz andere Ordinationsformeln benutzen, so dürfte doch unstrittig sein, dass auch bei uns der Auftrag der Kirche darin besteht, den Menschen in jeder Generation das Evangelium je neu zu verkünden und mit ihnen gemeinsam für sie angemessene Ausdrucksformen des Glaubens zu suchen. Insofern sind die anglikanischen Überlegungen durchaus auch für uns anschlussfähig.

Organisatorische Rahmenbedingungen

Neben der theologischen Reflexion bietet auch die Frage der organisatorischen Gestaltung und der institutionellen Rahmenbedingungen desanglikanischen Neuaufbruchs interessante Anregungen: Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Fragen, wie in der Vielfalt der missionarischen Initiativen und Netzwerke die kirchliche Einheit bewahrt und wie Qualität gewährleistet werden kann.

Eine Analyse der bisherigen Entwicklung zeigt eine bidirektionale Bewegung: zugleich von „unten“ und von „oben“. Einerseits verdankt sich die ganze Aufbruchbewegung vielen kleinen lokalen Initiativen an unterschiedlichen Stellen.[6] Diese wurden dann jedoch von Seiten der Kirchenleitung aufgegriffen, reflektiert, unterstützt und gefördert: Dass sich die Synoden mit dem Bericht über das Projekt „mission-shaped Church“ befassen, dass sie ihn begrüßen und Gemeinden und Diözesen ermutigen, mitzumachen, dass der Erzbischof von Canterbury sich ausdrücklich hinter den missionarischen Aufbruch stellt, sind nur einige Aspekte der Legitimierung und Förderung durch die Kirchenleitung.

Andererseits sind die verschiedenen (Basis-)Initiativen nicht freischwebend, sondern werden an die verfasste Kirche zurückgebunden. In der anglikanischen Kirche geschieht dies jenseits der Parochialstrukturen durch Rückbindung an den lokalen Bischof. Dieser prüft und bestätigt die „Anglikanität“ der Projekte. Umgekehrt verpflichten sich die Projektverantwortlichen, die Grundsätze und Ordnungen der anglikanischen Kirche zu achten. Teilweise werden sie für ihre Aufgabe sogar förmlich ordiniert.[7] So entstehen jenseits der Parochie Strukturen der Verantwortlichkeit und Verbundenheit.

Diese bischöfliche Legitimation ist sicherlich ein Aspekt, der sich nur schwer auf unsere pfälzischen Verhältnisse übertragen lässt. Aber auch wir kennen lokale Beauftragungen (Lektoren) und die Ordination von Ehrenamtlichen (Prädikanten). Hieran ließe sich anknüpfen. Zudem gäbe es auch in unseren Strukturen Möglichkeiten der Rückbindung übergemeindlicher oder besser nichtparochialer Initiativen: z.B. durch Rückbindung an den lokalen Dekan, den MÖD oder den Landeskirchenrat.

Trotz der Unterstützung der missionarischen Initiativen durch die Kirchenleitung werden diese nun aber umgekehrt nicht gegen die „klassischen“ parochialen Strukturen ausgespielt. Es gilt im Gegenteil die Vision einer „mixed economy“ (in Anlehnung an die Haushalterschaft aus 1. Pt 4).

In einer Gesellschaft im Umbruch bedarf es beider: der stabilen Strukturen der Ortsgemeinden und der neuen Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens. Die neuen Ausdrucksformen sollen die klassischen Strukturen ergänzen, nicht ersetzen oder verdrängen – zumal viele der Initiativen gerade zu Beginn auf die Unterstützung und Rückendeckung vorhandener Ortsgemeinden angewiesen sind.[8] Diese haben es dann aber gerade als ihren Auftrag verstanden, über die fest gefügten Strukturen der eigenen Ortsgemeinde hinaus andere Zielgruppen zu erreichen.

Methodisches

Über die grundlegenden theologischen und kirchenrechtlichen Erwägungen hinaus entwickelt der Bericht „misson shaped church“ auf Basis der seit den 90er Jahren gemachten Erfahrungen auch einige methodische Ratschläge.

Ausgangspunkt für alle Strategieüberlegungen ist dabei aber nicht die Institution Kirche mit ihren Belangen, sondern sind die Menschen und die Zuwendung Gottes zu ihnen. „Wer Kirche als Ausgangspunkt nimmt und mit ihr startet, dem wird wahrscheinlich die Mission verloren gehen. Wer mit der Mission startet, wird vermutlich die Kirche finden“ (S. 211).

Grundlegend ist somit die Frage: Wie sieht der missionarische Auftrag der Kirchen konkret für diesen bestimmten Ort bzw. diese bestimmte Gruppe von Menschen aus? Und: Was ist nötig, um diesen Auftrag wahrzunehmen?

Vor der Initiierung eines Projekts muss also klar sein, für wen das geplante Projekt eine neue Ausdrucksform des Glaubens bieten soll. Wer ist die Zielgruppe: die Nachbarschaft oder ein bestimmtes Netzwerk? Kirchendistanzierte oder unkirchliche Menschen? Menschen mit einem bestimmten kulturellen Hintergrund? Hier muss dann auch das Ziel des Projektes klar definiert werden.

Zudem  ist zu klären, durch wen die Projektarbeit geleistet werden kann und soll. Wer übernimmt die Verantwortung? Welche Ressourcen (Personen, Zeit, Raum, Finanzen) sind vorhanden?

Schließlich sollte geprüft werden, mit wem das Projekt initiiert werden kann, d.h. wer als missionarischer Partner in Frage kommt. Dabei ist auch das Verhältnis zu den vorhandenen Ortsgemeinden zu klären.

Im Einzelnen stellt der Bericht viele verschiedene Projekte und Initiativen „neuer Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens“ aus unterschiedlichen Kontexten vor. Dabei lassen sich sicherlich viele Anregungen für Initiativen auch in unserer Kirche holen.

Analysiert man die durchgeführten  Projekte, so lassen sich trotz aller Verschiedenheit einige Gemeinsamkeiten herausarbeiten:[9]

  • Kleingruppen spielen eine zentrale Rolle.
  • Treffen finden meist nicht am Sonntagmorgen statt.
  • Die Zielgruppe ist häufig ein bestimmtes Netzwerk von Menschen.
  • Die konfessionelle Zugehörigkeit tritt in den Hintergrund.
  • Die Initiativen und Netzwerke vernetzen sich untereinander bzw. mit bestehenden Gemeinden.

Hier zeigt sich deutlich, wie das Bild von Kirche selbst und von kirchlichem Leben in Bewegung gerät und sich verändert.

Bleibende Herausforderungen

Selbstverständlich können bei solch einem Versuch, neue Wege zu gehen, kritische Anfragen nicht ausbleiben.

In der Bestandsaufnahme und der Diskussion über das Gesamtprojekt „mission shaped church“ werden mehrere Aspekte als bleibende Herausforderungen benannt:

– Erstens stellt sich die Frage nach der Nachhaltigkeit der „neuen Ausdrucksformen“. Sind sie in einer schnelllebigen Gesellschaft selbst zur Schnelllebigkeit verurteilt? Sind die Projekte nur events, oder können sie sich dauerhaft als eigenständige Ausdrucksformen etablieren?

– Zweitens: Führen die missionarischen Aktionen Menschen wirklich zu einer eigenständigen Nachfolge (discipleship) in ihrem je eigenen Kontext oder bleibt der christliche Glaube lediglich an der Oberfläche?

– Drittens: Gelingt es, aus den Lebensbereichen und Netzwerken selbst Menschen zu gewinnen, die eigenständig die Weiterführung der Initiativen übernehmen (indigenous leaders) oder bleibt der Glaube diesen Lebenswelten letztlich doch fremd?

– Schließlich: Erreicht man mit all den Aktionen tatsächlich auch Menschen, die bisher in gar keinem Kontakt zur Kirche standen (the never churched), oder erreicht man nur Menschen, die sowieso irgendwie kirchlich sozialisiert sind.

Mit dem Synodenbericht „Mission shaped Church“ blickt die anglikanische Kirche auf über 30 Jahre missionarischen und ekklesiologischen Aufbruchs zurück. Sie hatte den Mut, vieles Überkommene radikal in Frage zu stellen und neue Wege zu wagen, ohne in einen falschen Aktionismus zu verfallen. Zugleich wurden die Versuche theologisch reflektiert und fundiert. In diesem Prozess wurden viele neue Erfahrungen und Einsichten gewonnen.

Nicht alles wird man einfach auf unsere deutschen und gar pfälzischen Verhältnisse übertragen können, dennoch können wir zweifellos viele Anregungen übernehmen. Vor allem aber können wir uns vom Mut der englischen Kirchen zum Aufbruch, von ihrem missionarischen Engagement und ihren theologischen Überlegungen inspirieren lassen.

[1] Alle Seitenangaben der im Text folgenden Zitate beziehen sich auf die deutsche Ausgabe.

[2] So z.B. bei der Konferenz „Gemeinde 2.0“ im März 2011 in Filderstadt.

[3] Die Zitate und Seitenzahlen beziehen sich auf die deutsche Ausgabe.

[4] Ein solches funktionales Kirchenverständnis entspricht übrigens auch dem Verständnis von CA VII.

[5] „Das Evangelium muss mit frischem Elan in diesen verschiedenen Umfeldern verkündigt werden. Jedes von ihnen ist eine Chance und Herausforderung, dem Evangelium zu vertrauen, und ein Auftrag, auf kreative Weise missionarisch tätig zu sein“(S. 54). Vgl. auch S. 170.

[6] Hier ist vor allem das Projekt „Church planting“ zu nennen.

[7] In Deutschland führt diese Ordinationspraxis insbesondere bei Lutheranern oft zu Irritationen. Mit dem pfälzischen Ordinationsverständnis ist dies aber durchaus kompatibel.

[8] Bei Spannungen zwischen Parochie und Projekt ist übrigens wiederum der Bischof als Vermittler gefordert.

[9] Vgl. Mission bringt Gemeinde in Form, S. 97 f.

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