Gedanken zu den Bremer Kirchmusikanten
Ulrich Kronenberg
Am Anger 5, 67346 Speyer
„Haben diejenigen ganz unrecht, die von einer Epoche geistlicher Verwirrung und Verzweiflung reden, in deren Anfang wir uns befinden? Anders gesagt: Wenn nicht alles täuscht, so stehen wir heute in einem Glaubenskampf, einem Kirchenkampf, gegenüber dem der Kirchenkampf des Dritten Reiches ein Vorhutgefecht war. Das Unheimliche dabei&xnbsp; ist, dass dieser heutige Kampf vielfach kaum erkannt, zu allermeist verharmlost wird und unter Tarnworten wie Pluralismus voranschreitet“ (Hermann Dietzfelbinger).
Diese Worte sprach vor 44 Jahren der damalige EKD-Ratsvorsitzende Hermann Dietzfelbinger [1]. In kirchenpolitisch bewegter Zeit sah der durch viele Jahre abgeklärte bayerische Bischof eine Gefahr heraufziehen, die sich heute zu bewahrheiten scheint. Als damals die vordrängende 68er-Bewegung auch „unter den Talaren den Muff von 1000 Jahren“ hervorkehren wollte, begannen viele neue Bewegungen innerhalb der Kirche sich Bahn zu brechen, die sich seit dieser Zeit fleißig weiterentwickelt haben. Dietzfelbinger sprach unter Bezug auf Peter L. Berger von einer „Selbstvernichtung der Theologie“ und von einem „Kampf des Glaubens gegen den Unglauben“, der in der evangelischen Kirche Einzug hielt [2]. Seit dieser Zeit hat sich nun die evangelische Kirche „bewegt“. Eine neue Generation ist herangewachsen. Weltgeschichtlich bedeutsame Ereignisse wie die gewaltfreie deutsche Wiedervereinigung, der Zusammenbruch des Warschauer Paktes, das Ende des kalten Krieges durfte meine Generation miterleben. Heute stehen wir an einem Punkt, an dem sich die Worte Dietzfelbingers prophetisch zu bewahrheiten scheinen. Sein damaliger Rechenschaftsbericht vor der EKD-Synode ist auch heute noch mit großem Wert zu lesen, denn viele von ihm erkannte Gefahren haben sich heute realisiert und tragen zum geistlichen wie institutionellem Verfall der evangelischen Kirche bei. Seine Autobiographie spiegelt die Brisanz der damaligen Lage klar wieder [3].
Unter den Begriffen wie Pluralismus, Toleranz, Paradigmenwechsel u. a. sind viele neue Entwicklungen entstanden, die auch mancher kirchlichen Fehlentwicklung Vorschub geleistet haben. Eine nie dagewesene Politisierung der Kirche ist erfolgt. Führende Vertreter der Kirchen haben zu so ziemlich allen gesellschaftspolitischen Themen etwas zu sagen und sind dankbar für alle Medienkontakte, die sie in die Schlagzeilen der Öffentlichkeit rücken. Dabei ist es, wie so oft in der Geschichte der Kirche, dazu gekommen, dass der Schuster seine Leisten vergessen hat und sich stattdessen auf anderen Baustellen tummelt, auf denen er eigentlich gar nichts verloren hat. Die Schar der kirchlichen Beauftragten aller Art und ihre mehr oder minder qualifizierten Äußerungen zeugen von einer unheimlichen Bandbreite kirchlicher Aktivitäten – man kann fast schon von einem Allzuständigkeitswahn sprechen. Darüber sind die kirchlichen Uraufträge von Wort und Sakrament in Vergessenheit geraten und manche egozentrischen Kleriker halten ihre Äußerungen, „ihren“ Glauben und ihre „Gefühle“ für wesentlich wichtiger als das Wort vom Kreuz und die Botschaft, die der Kirche Christi aufgetragen ist.
Ich kann mich des schmerzenden Eindrucks nicht erwehren, dass heute große Teile der evangelischen Bodentruppen auf Nebenkriegsschauplätze geeilt sind und die eigentliche kirchliche Hauptkampflinie verlassen haben: Krieg und Frieden, Armut und Reichtum, Bürgerrechte, Homophilenrechte, Fragen der sozialen Verteilungsgerechtigkeit, Genderfragen und Umweltfragen beschäftigen eine Volkskirche heute weithin mehr als ihr ureigenstes Arbeitsfeld, das ihr zum Beackern übertragen worden ist. Es ist eine theologische Sinnsuche und eine Selbstbestätigung derer, die mit dem Evangelium von Kreuz und Auferstehung wenig zu tun haben. Man kann auch von einer Verführung sprechen, einer dämonischen Versuchung, der weite Teile der Kirche erlegen sind. Luther hat in seiner Römerbriefvorlesung zu Rö 15,13 genau vor dieser Verführung gewarnt: „Sed hoc signo distinguit falsos deos a Deo vero. Dii enim falsi demones sunt dii rei, Quia eos possident, Qui rebus nitentes nesciunt sperare. Qui enim in Deum verum nititur, ablatis omnibus rebus nuda spe viuit. Ideo ‘Deus spei’ idem est, quod Deus sperantium. Non enim est Deus diffidentium ac desperantium, Sed hostis et Iudex. Breuiter itaque Est ‘Deus spei’, Quia largitor est spei. Magis autem, Quia spes sola eum colit, Sicut dicitur ‘Deus Abraam Et Isaac et Iacob’, ‘Deus Israel’, ita ‘Deus spei’, Quia Vbi spes est, ibi est cultus eius” [4].
Die Generation der Kirchenleiter, die den Kirchenkampf des 3. Reiches miterlebt haben, hat seinerzeit sehr klar erkannt, welche Gefahr für die Kirche besteht, die sich ihres Auftrages und ihrer Botschaft unsicher geworden ist. Überall dort, wo man dem Zeitgeist erlegen war, konnte die Irrlehre der DC einfallen und ihre Triumphe feiern. Die kirchlichen Aussagen der Stunde Null, wie sie 1945 nach dem Zusammenbruch erfolgten, sind sehr deutlich, als man die diabolische Verführung klar erkannte: Männer wie Barth, Niemöller, Wurm, Thielicke, Dibelius, Gollwitzer, Dietzfelbinger, von Loewenich und viele andere waren durch den bestandenen und letztlich gewonnenen Kampf gestählt und sensibilisiert, um die immerwährende Gefahr zu erkennen, die Dietzfelbinger 1971 klar gesehen und vor der EKD-Synode benannt hat.
Diese Entwicklungen kommen nicht über Nacht, sondern wachsen meist langsam und beständig. Sie entwickeln ein Eigenleben und haben geistlich gesehen fatale Auswirkungen. Kirche Christi befindet sich immer in einem Kampf, ja in einem Krieg, der erst mit dem Ende dieser Welt zu seinem Ziel kommen wird. Das Ringen des Paulus zeugt von diesem Krieg um die Herzen und Seelen der Christen. Von daher sind seine Äußerungen, die sich einer militärischen Sprache und eines militärischen Terminologie bedienen, zu verstehen. In der evangelischen Kirche will man dies weithin nicht wahrhaben und wähnt sich – aus verschiedenen Gründen – in einer gefährlichen Sicherheit und in tiefstem Frieden, der allerdings ein Trugschluss ist, wie die jüngsten Auseinandersetzungen um Pastor Olaf Latzel in Bremen zeigen. Der dort aufgebrochene Konflikt ruft nach theologischer Besinnung und zeugt von einer Entscheidungsschlacht, die ausgefochten werden muss. Es handelt sich, das zeigt die Brisanz der Sache, nicht um Kirchenpolitik oder innere theologische Streitigkeiten, sondern um einen Grundsatzkonflikt, der hier die Spitze eines Eisberges darstellt, auf den die Kirche in titanikartiger Fahrt zusteuert und an dem sie Schiffbruch erleiden kann, wenn sie sich nicht besinnt und den Kurs ändert.
Diese Besinnung kann nur in der Frage nach dem ersten Gebot liegen. Das Gebot der Exklusivität des lebendigen Gottes, der die Herzen der Seinen für sich allein beansprucht und hier keine andren Götter neben sich dulden will.Dies ist der Dreh- und Angelpunkt: die Erklärungen aller Katechismen zum ersten Gebot sind hier völlig einig. Das Zeugnis des Alten wie des Neuen Testamentes ist an diesem Punkt völlig kompromisslos. Das zentrale Gebot (Ex 20,3; Dtn 5,7) lässt keinen Synkretismus zu und fordert ein klares Abtun aller anderen Götter und ihrer Ansprüche. Hier hat Gott von seinem Volk einen absoluten Gehorsam gefordert und hier macht er keine Zugeständnisse: Er ist ein eifernder Gott, der niemand anderen neben sich duldet. Hier ist und bleibt die Pforte eng. Dies in aller Schärfe zu erkennen und zu bezeugen, ist Aufgabe derer, die den Namen dieses Gottes verkündigen; und in Bezug auf die Bremer Ereignisse kann dies nur heißen, dass die ordentlich bestellten Prediger, die auf Schrift und Bekenntnis ordiniert sind, der Gemeinde das in aller Deutlichkeit sagen. Dies ist die Pflicht derer, die das Wort dieses Gottes auslegen. Jeder Ordinierte hat das in seinem Ordinationsversprechen gelobt. Gott will, dass der Glaubende in diese Fliehburg der Exklusivität flüchten kann und wissen darf, dass er in allem Getriebe des Lebens und der Welt hier zur Sicherheit findet.
Das tröstliche Wort Ps 27,1 hat Luther als „Lebenskraft“ übersetzt: Wörtlich kann man maoz [5] auch „die Burg meines Lebens“ übersetzen; die sichere Festung, die Fliehburg, das Bollwerk, die Bergfeste für den auf Gott Vertrauenden. In diesem Zusammenhang ist die Verwendung von batach zu sehen, das 161-mal in der BHS vorkommt. Exemplarisch ist die Verwendung dieser Vokabel in 2 Kön 18 und bei den Propheten zu sehen. In historisch schwierigster Zeit wird hier um das Vertrauen gerungen: 2 Kön 18,5.19.20.21.24.30 zeigen völlig klar, dass nur das völlige Vertrauen gefordert ist; alle anderen Ausflüchte und alles andere Vertrauen ist unnütz und führt ins Verderben. Dieser Befehl Gottes (Spr 3,5) verweist die Menschen auf die alleinige Hilfe. Nirgends wird dies deutlicher als in den Psalmen, vgl. Ps 4,6.9; 9,11; 13,6; 16,9; 21,8; 22,5f.10; 25,2; 26,1; 27,3; 28,7; 31,7.15; 32,10; 33,21. Hier ist das völlige Vertrauen und das absolute Hoffen auf die Güte Gottes die Grundlage, alle Kämpfe im großen wie im kleinen zu bestehen. Und in dieser Gabe des Geborgenwissens liegt zugleich die Aufgabe, hier keine Kompromisse zu machen, indem man der Fremdgötterei verfällt und halbherzige Kompromisse macht. Die prophetischen Worte sind diesbezüglich völlig eindeutig, vgl. exemplarisch Jes 26,4; 30,12; 31,1; Jer 7,4.8.14; 13,25; 17,5. Das Doppelgebot der Liebe, wie es Jesus gelehrt hat (Mt 22,33-40), ist hier völlig eindeutig, denn es fordert die ungeteilte Liebe und Hinwendung des Menschen zu Gott und den Menschen, weil Gott mich so sehr liebt und mir Sünden vergibt. Jesus hat es klar ausgedrückt im Gleichnis vom Schalksknecht (Mt 18, 23-35), für den es kein Erbarmen gibt, als er dem Mitknecht das verweigert, was er selbst erfahren hat, nämlich die grundlose Liebe und Vergebung.
Ohne das Erkennen und Annehmen dieser Güte des liebenden Gottes ist auch keine Liebe zum Mitmenschen möglich – hier ist die Wurzel, aus der das Alles nur kommen kann, denn sonst wäre alles uns gut erscheinende Tun nichts anderes als billige Mitmenschlichkeit, Solidarität oder Ähnliches; nicht aber die Liebe, die nur der erkannten Wohltat in Gottes Liebe durch seinen Sohn folgen kann. Hier ist der entscheidende Unterschied zwischen Humanität und Nächstenliebe, die in der Gottesliebe wurzelt. Überall da, wo man dieses Gebot übertreten hat, führte dies immer zu fatalen Konsequenzen für die Herde Gottes. In der Geschichte der christlichen Kirche wird man feststellen, dass die Zeiten, in denen man in dieser Frage glaubte liberal sein zu dürfen, immer in den Niedergang und in die Katastrophe geführt haben. Deshalb muss sich Theologie immer dagegen wehren, dass uns diese zuwendende Liebe Gottes verdächtig gemacht oder gar in Abrede gestellt wird. Dies geschieht nicht selten in unseren Tagen.
Die Konsequenz dieser Erkenntnis muss getrennt werden von den gesellschaftlichen Entwicklungen, die durch die Politik verursacht und verantwortet werden und die nichts – aber auch gar nichts – mit der christlichen Lehre von der Exklusivität Christi zu tun hat. Kirche Christi ist dazu gerufen, den Anspruch Gottes in dieser Welt zu verkünden. Sie hat zur Zeit und zur Unzeit diesen Anspruch Gottes zu verkünden. Und zwar frei und kompromisslos. Die Kirche Christi hat an diesem Punkt nur eine einzige Botschaft und kann an diesem Punkt davon nicht abweichen. Dies ist keine Diskriminierung oder Ausgrenzung anderer, sondern ein klares Zeugnis. Kirche Christi ist an diesem Punkt echt oder sie wird zur Verräterin an dem Anspruch Gottes. Man kann es mit dem Vertrieb exklusiver Waren über bestimmte ausgewählte Händler vergleichen: Manche Kostbarkeiten bekommt man eben nur dort; einen Rolls-Royce gibt es nicht bei Aldi. Der ist besonderen Vertriebspartnern vorbehalten. Und wer sich der Exklusivität des Glaubens an den einen Gott sicher ist, der wird keine Kompromisse oder Halbheiten eingehen.
An diesem Punkt gibt es keine Alternative. Und das muss in der Kirche, die auf die Einmaligkeit des Gottes, der sich im AT wie im NT bezeugt, klar bleiben. In der Automobilindustrie hat sich diesbezüglich in den letzten Jahren ein Wandel vollzogen, den man in gewisser Weise mit der kirchlichen Lage vergleichen kann: Früher wurde eine Automarke über das Händlernetz exklusiv verkauft; wer einen VW wollte, musste eben zum VAG-Betrieb, bei Opel oder Ford bekam man diesen VW nicht. Heute hat sich das gewandelt, und man kann in großen Supermärkten der Kfz-Branche vom gleichen Händler alle möglichen Autos aus aller Herren Länder kaufen. Man denke an die EU-Fahrzeuge und ihren Vertrieb auf der grünen Wiese. Was der Automobilbranche möglich ist und für den suchenden Kunden eine große Freiheit und eine große Vielfalt bedeutet, kann es in Glaubensdingen nicht geben: Da besteht weiterhin dauernd ein Exklusivvertrieb, der nichts mit Diskriminierung, Ausgrenzung, Verhetzung oder anderen Modeworten zu tun hat.
Mit Wilhelm Busch kann man sagen: „Wer in Glaubensdingen den Verstand befragt, der bekommt unchristliche Antworten“. Es ist vielleicht mit einer Eheschließung zu vergleichen: Wenn der Hans die Liese heiratet (Spr 31,10), dann entscheidet er sich damit für Liese. Er diskriminiert damit nicht, Grete, Wilma oder Anneliese, sondern weiß, dass Liese unter allen Frauen die Beste für ihn ist. Das nennt man Liebe. Hans sagt damit nicht, dass die anderen Damen der Schöpfung minderwertig, furchtbar oder dämlich sind, sondern sagt mit seiner Haltung nur aus, dass er Liese als die für ihn beste und geeignetste Frau ansieht. Übertragen auf den Glauben an Gott heißt dies nicht, dass alle andren irren, wenn sie meinen Glauben an den in der Bibel geoffenbarten und bezeugten Gott nicht teilen, sondern es bezeugt nur vor Gott und der Welt, das ich die eine Perle gefunden habe, für die ich alle anderen Perlen liegenlasse. Jesus hat dies im Gleichnis vom perlensuchenden Kaufmann sehr deutlich gemacht (Mt 13,45f). Und er hat davor gewarnt, mit dieser Perle Schindluder zu treiben (Mt 7,6). Die von ihm aufgezeigten Folgen des Zertretens und Zerreißens haben sich in der Geschichte oft bewahrheitet, denn an diesem Punkt lässt sich Gott nicht spotten (Gal 6,7) [6].
Diese exklusive Haltung in Glaubensfragen kann nicht widerspruchslos bleiben, denn der Teufel schläft nicht. Deshalb ist hier scharf zu trennen zwischen dem Recht – ja der Pflicht – der Kirche zur Verkündigung ihrer Botschaft und ihres Anspruches und den Belangen der politischen Gemeinschaft, die ihr Zusammenleben in irgendeiner Form zu gestalten hat. Kirche hat alle Menschen zum Wort des Kreuzes zu rufen. Dieser unbequeme kirchliche Bußruf hat nichts mit den Plänen, Zielen und Hoffnungen der multikulturellen Gesellschaftspolitik zu tun, die unser Land derzeit betreibt. Es ist unwahr, dass man die Ansprüche Gottes auf jeden Bürger dieses Landes anwenden kann, da nicht jeder Christ ist und sich gar nicht unter das Wort und den Anspruch Gottes stellt. Das heute vielfach schwächer werdende Wort der Kirche, das oft zu einer saft- und kraftlosen Gutmenscherei verkommen ist, bricht dem Evangelium oft die Spitze und die Härte ab. Das Entsetzen der Menschen, die Jesu Worte [7] hören, hat nichts mit den Tagträumereien mancher links-intellektueller Denker zu tun, die Staat und Kirche gleichsetzen und meinen, für gesellschaftspolitische Anliegen das Evangelium vor ihren Karren spannen zu müssen. Diese Pipi-Langstrumpf-Philosophie („ich mach die Welt, wie sie mir gefällt…“) neigt dazu, ideologische Trittbrettfahrerei zu betreiben.
Die Predigten von Pastor Olaf Latzel sind deshalb so schmerzlich für viele Schwestern und Brüder im Amt, weil ihnen damit letztlich der Spiegel ihres eigenen Baalsdienstes vorgehalten wird. Der klare Ruf Latzels zur Besinnung auf das Wesentliche unseres christlichen Glaubens wird doch nur deshalb als Angriff empfunden, weil getroffene Hunde bekanntlich bellen. Latzels klare und kompromisslose Linie hält doch vielen den Spiegel des göttlichen Anspruches vor, dem sie nicht genügen. Die Erkenntnis des verirrten König Davids (2 Sam 12,7) ist schmerzlich: Buße war und ist immer unbequem und tut weh. Sie stellt in Frage und macht manches im wahrsten Sinne des Wortes fragwürdig. Die Heftigkeit der Reaktionen auf Latzels Predigt [8] zeugt von der Wahrheit der Worte Dietzfelbingers. Es geht nicht um Gesellschaftspolitik oder andere Fragen, die im Parlament entschieden werden müssen, sondern ist letztlich eine Anfrage an die evangelische Kirche, ob sie ihrem Auftrag gerecht wird und die Ziele verfolgt, die der Herr der Kirche ihr befohlen hat. Das Wort Christi, dass sein Reich eben nicht von dieser Welt ist (Joh 18,36), muss uns hinterfragen, was an kirchlichem Tun vom Auftrag des Herrn gedeckt ist und was man getrost den dafür zuständigen „weltlichen“ Personen, Institutionen und Gremien überlassen soll bzw. muss.
Zwar werden gerade führende EKD-Vertreter nicht müde zu betonen, dass Kirche sich „einmischen“ soll [9], aber ob dies immer und überall erforderlich ist, erscheint mir im derzeitigen ethischen Irrgarten, in dem mancher wackere Gottesmann herumirrt, fraglich. Mir persönlich ist es zudem sehr unangenehm und lästig, wenn sich fremde Menschen ungefragt und ungebeten in meine dienstlichen oder privaten Angelegenheiten einmischen. Diese Selbstermächtigung halte ich für sehr fragwürdig. Mit Recht wurde und wird diese kirchliche Einmischung von vielen politischen Amtsträgern als anmaßend und überflüssig empfunden. Eine Einmischung in alle Fragen dieser Welt, hat Gott nicht angeordnet. Eine wohlverstandene Zwei-Reiche-Lehre anzuwenden ist hier m.E. wohltuend und hilfreich. Sie befreit von der zwanghaften Manie vieler Christen, für alles sorgen, alles richten und verantworten zu müssen. Die Gelassenheit eines Gamaliel (Apg 5,34-42) tut uns kirchlich heute dringend Not und bewahrt vor der unevangelischen Werkgerechtigkeit, die sich oft hinter der „Einmischung“ verbirgt. So mancher kirchliche Amtsträger, der sich zu allen möglichen und unmöglichen Fragen und Problemen äußert, überschreitet nicht nur seine ihm gegebenen Kompetenzen, sondern entpuppt sich auch allzu oft als Dilettant in Sachfragen, der sich eigentlich nur lächerlich macht. Gerade in der Friedensethik wird dies oft deutlich, wenn hinter dem vermeintlichen Friedensstreben nur latent-platter Antiamerikanismus oder eine fast schon krankhafte Militärphobie stehen.
Im letzten Grund wissen die Gegner Latzels, dass sie dem Anspruch Gottes nicht genügen und wollen deshalb solche harten Worte nicht dulden. Der geistliche Anspruch der christlichen Vollmacht in der Verkündigung hat nichts mit gesellschaftspolitischem Größenwahn moderner Gesinnungsdiktatoren aller politischen Couleur zu tun. Die weltlichen Propheten der multikulturellen Phantasterei müssen doch angesichts der klaren Worte Latzels auf die Barrikaden springen und die „Konterrevolution“ bekämpfen, da sie ihr Dogma in Frage gestellt sehen. Dies ist faktisch aber gar nicht der Fall: Pastor Latzel hat nicht gegen die politischen Entscheidungen der Bremer Bürgerschaft oder des Senates gesprochen, sondern das Wort Gottes vor der zum Gottesdienst versammelten christlichen Gemeinde ausgelegt. Er hat Christen davor gewarnt, in ihrem Vertrauen auf Jesus Christus Kompromisse zu machen, die er als gefährlich ansieht. Es muss klar gesehen werden, wer hier zu wem in wessen Auftrag spricht. Die Scheidung von Amt und Person [10] ist an dieser Stelle entscheidend. Luther hat dies grundlegend in seinen Schriften „An den christlichen Adel deutscher Nation“ (1520) [11], „Ob Kriegsleute in seligem Stande sein können“ (1526) [12], „Predigt, dass man Kinder zur Schule halten sollte“ (1530) [13] in seiner Septuagesimae Predigt über Mt 20,1-16 [14] und in den Tischreden entfaltet.
Hier spricht nicht die Privatperson Olaf Latzel oder ein Redner im politischen Amt in irgendeiner Funktion, sondern hier spricht ein bestellter Diener der Kirche, der ordiniert und zur christlichen Gemeinde gesandt ist. Nichts anderes. Das Vermengen dieser beiden Reiche ist wie schon so oft eine fatale Angelegenheit, weil hier Äpfel mit Birnen gleichgesetzt werden, wenn man dies nicht klar trennt. Wer im lutherischen Sinne um die zwei Reiche weiß und dies ganz nüchtern voneinander trennt, der kann die Bremer Ereignisse nur als einen Zirkus von Phantasten ansehen. Hier muss theologisch sauber geschieden werden; dann wird deutlich werden, dass die ach so bunten und offenen demonstrierenden Bremer Geistlichen besser in einer Synode die geistliche Klärung herbeiführen würden, anstatt wie die bunt geschmückten Pfingstochsen mit ihren selbstgebauten Batikstolas die Buntheit der Bremer Bürgerschaft verteidigen. Diese ist von Olaf Latzel gar nicht angegriffen worden. Seiner Predigt entnehme ich an dieser Stelle eine gut lutherische Scheidung der beiden Reiche, und die Predigt lässt klar erkennen, in welchem Reich sich Latzel bewegt und wen er verkündigt – so wie es der Auftrag eines ordentlich bestellten Predigers ist.
Der Bremer Senat bräuchte sich nicht als weltlicher Großinquisitor auf den vermeintlichen Ketzer Olaf Latzel stürzen, der nach seinen eigenen Worten nichts gegen andersgläubige Mitbürger hat, wie man ihm dies unterstellt, wenn man von Volksverhetzung und anderen gesellschaftspolitischen Kapitalverbrechen spricht. Latzel will keine Politik betreiben – dafür ist er viel zu sehr Kirchenmann mit Leib und Seele –, sondern vielmehr die Gemeinde des auferstandenen und wiederkommenden Christus vor der Gefahr der Abgötterei und des Synkretismus warnen. Wenn er hier in scharfen Worten die Dinge beim Namen nennt, ist das kein Fall für den Staatsanwalt, der wegen Volksverhetzung Anklage erheben soll, wie es viele Brüder und Schwestern im Amte in fragwürdiger Koalition mit „rechtgläubigen“ Politikern der Linken, Grünen und SPD fordern, sondern eine Anfrage und auch eine implizite Anklage an die Kirche Christi, die gar nicht merken will, welchen Göttern sie dient. Die Weckuhr Gottes reißt aus den Tagträumen vieler Kirchenmenschen, die sich in ihren jeweiligen Ecken sehr bequem eingerichtet haben und aus der gutalimentierten Sicherheit des pastoralen Dienstes heraus Gesellschaftspolitik betreiben.
Es verwundert keineswegs, dass die Gegner Latzels alles tun, um die theologische Auseinandersetzung zu vermeiden und am liebsten eine Lösung der Probleme beim Staatsanwalt oder beim Senat der Stadt Bremen erhoffen. Die Flucht in die weltlichen Gesetze oder die Dogmen der grünen Gesellschaftspolitik zeigt erschreckend, dass man die theologische Auseinandersetzung scheut. Und dies aus gutem Grund: Die prophetischen Worte gegen die Sünde Jerobeams [15] waren immer schon unbequem. Sie haben immer Menschen verärgert. Die Propheten starben zumeist nicht alt und lebenssatt im Kreise ihrer Lieben, sondern waren immer Hass und Verfolgung ausgesetzt. Der Vorwurf, die öffentliche Ordnung zu stören, ist nicht neu. Man betrachte die Vorwürfe gegen Führer der Bekenntniskirche im Kirchenkampf des Dritten Reiches – etwa gegen Otto Dibelius [16], Paul Schneider [17] oder Martin Niemöller [18] – und man wird kaum sagen können, dass man sich damals kirchlicher oder theologischer Argumentation bediente: Es handelt e sich immer um „weltliche“ Vorwürfe – theologische Auseinandersetzung war belanglos, da ja gerade die DC nicht über namhafte Theologen oder gar eine eigene akademisch-standfeste Theologie verfügten. Jesu Wort vom Sieben der Mücken und dem Verschlucken der Kamele findet hier seine neuzeitliche Entsprechung (Mt 23,24).
Die Botschaft und der Anspruch Gottes hatte ja auch zur Folge, dass die Apostel und in ihrem Gefolge die Märtyrer der Kirchengeschichte immer eines gewaltsamen Todes starben. Dieser Anstoß der Botschaft Gottes, die ja ein Anspruch an den Menschen ist, bleibt auch im 21. Jahrhundert bestehen. Der Streit der Bremer Kirchmusikanten zeigt, dass der Kampf an diesem Punkt immer geführt werden muss und geführt werden wird. Denn der Theologe, der sagt, quod res est, wie Luther sagt, muss ja Anstoß erregen. Dies hat allerdings weniger mit der Person Pastor Latzel zu tun als mit dem Anspruch Christi [19]. Und genau diesen Punkt wollen die Gegner Latzels elegant umschiffen. Dazu werden alle Register der Betroffenheitsrhetorik und der Entrüstungsmoral gezogen und Latzel als Ketzer vor die Inquisitionsgerichte der modernen Medienindustrie gezerrt. Es ist bezeichnend und theologisch beschämend, dass man hier versucht eine Anklage zu erheben, die theologisch gesehen eigentlich keine sein kann. Gegen Jesus wurde der Vorwurf der Unruhestiftung und der Aufwiegelung des Volkes erhoben und in seinem Gefolge auch gegen Paulus: Lk 23,2; Apg 17,13; 21,38; 24, 1-21 [20]. Wenn es einem Diener des Wortes Gottes nicht mehr erlaubt sein soll, das klare Wort Gottes in voller Härte zu predigen, sondern nur noch das vernebelnde gesellschaftspolitische Credo nachzuleiern, wie es landauf landab erschreckend oft geschieht, dann ist die Wortverkündigung im evangelischen Sinne an ihr Ende gelangt und verkommt zum farblosen Gerede – der Kirche des Wortes unwürdig. Dann ist das Salz der Erde (Mt 5,13) zum Honig der Welt mutiert [21]. Dann stehen wir unweigerlich in der „zweiten Not“ der evangelischen Kirche, von der Karl Barth 1931 so eindrücklich und klar gesprochen hat [22]. Die Gefahren, die er in diesem heute wieder hochaktuellen Vortrag aufzeigt, haben sich ab 1933 bewahrheitet.
Die ganze Schrift des Alten wie des Neuen Testamentes hat immer wieder vor Synkretismus und Abgötterei gewarnt. In der Kirchengeschichte hat es immer wieder Phasen der Besinnung und der Reformation gegeben. Die ganze Schrift bezeugt die immerwährende Gefahr für die Kinder Gottes, die gerade im Land von Milch und Honig den Gott vergessen, der ihnen das gegeben hat, und der sie aus Gnade und Geduld bis heute erhalten hat. Die hybride egozentrische Theologie, die sich lautstark Bahn gebrochen hat und heute die Meinungshoheit für sich einfordert und merkwürdige oft unbiblische Dogmen errichtet hat, kommt angesichts der scharfen Worte Latzels in eine gewaltige Krise. Dies spüren ihre Vertreter und reagieren deshalb mit dieser in Bremen gezeigten Brisanz, weil ihnen der Spiegel ihres Irrtums vorgehalten wird. Man kann es auch mit der alten Weisheit der Hundebesitzer sagen: getroffene Hunde bellen. Es werden damit ja eigenen Defizite sichtbar, die man latent kennt und die man gern kaschieren will.
Die merkwürdigen neuen Dogmen, die man errichtet hat, verbergen sich heute oft hinter wohlklingenden Termini wie Frieden, Gerechtigkeit, Gemeinschaft, Offenheit, Tol(l)eranz usw. Wer wollte dagegen etwas sagen, denn dies alles sind ja sehr positiv besetzte Begriffe, die man an sich gar nicht tadeln kann. Jedoch sind sie im Bereich der kirchlichen Lehre und des kirchlichen Lebens völlig uminterpretiert und werden so gedehnt und umformatiert wie man sie ideologisch gerade braucht. Ulrich Körtner hat in einem brillanten Aufsatz auf den irreführenden Gebrauch der „Gerechtigkeit“ [23] aufmerksam gemacht, der mit der Gerechtigkeit Gottes oft genauso wenig zu tun hat wie der Igel mit dem Staubwischen [24]. Hinter wohlmeinendem Vokabular verbirgt sich – ähnlich wie ein trojanisches Pferd – etwas ganz anderes, was für uns als Kirche eine große Gefahr bedeutet, denn auf einmal redet jeder von irgendeiner Gerechtigkeit – oder was er gerade dafür hält –, jedoch nicht mehr von der Gerechtigkeit, von der wir zu sprechen und zu predigen haben. So werden aus der vermeintlichen Freiheit eine neue Knechtschaft und eine neue Sklaverei. So wird aus dem positiven Wert der Gerechtigkeit, die mir Gott schenkt und bereitet (Rö 1,17; 3,5f.21; 4,6; 10,3; 2 Kor 5,21; Php 3,9), eine neue Werkgerechtigkeit, die drückt und ablenkt von dem eigentlich Wert: Das was Christus uns bereitet hat durch seinen Sühnetod am Kreuz und sein leeres Grab am Ostermorgen.
Es ist dies ein wirklich verwirrender Zustand, der sich hier in der evangelischen Christenheit nach meiner Beobachtung mehr und mehr breit macht. Diese neue Gesetzlichkeit, die man unter dem wohlmeinenden Terminus „Kirche der Freiheit“ [25] einführte, ist mehr und mehr zu einer Diktatur der neuen Werkgerechtigkeit verkommen, die sich in Autofasten oder anderen Erste-Welt-Kasteiungen Bahn bricht und überall als „Werk der Gerechtigkeit“ gepriesen wird. Diese neue Gesetzlichkeit führt uns an Punkte zurück, wo die befreiende Wirkung des christlichen Glaubens, die ja gerade aus diesem Gefängnis herausführen soll, zu einer dicken Kugel am Bein wird, dass man in der neuprotestantischen Werkerei geradezu versackt. Man kann dieses selbstgerechte Gehabe nicht scharf genug herausarbeiten, um zu sehen, wohin dies führt: In die völlige Ver(w)irrung. Walther von Loewenich hat 1958 vor dieser Gefahr nachdrücklich gewarnt: „Die gefährlichsten Feinde des Christentums sind ja nicht die offenen Gegner, die Christusleugner und erklärten Atheisten, sondern die Verfälscher, die heimlich das Bild Christi auswechseln, um es mit dem des Antichrist zu vertauschen. Sie können sich finden unter allerseits anerkannten Kirchenführern und unter Theologen, aber ebenso unter solchen, die offiziell in der Kirche wenig zu sagen haben. Es ist keiner von uns sicher, dass er der Versuchung des Antichrist nicht unterliegt. Es gibt Zeiten, in denen die Gefahr besonders groß ist. Das sind vor allem die Zeiten, in denen es der Kirche äußerlich gut geht, in denen das Christentum öffentliches Ansehen in der Welt genießt, in denen uns persönlich das Christsein in dieser Welt leicht gemacht wird“ [26]. Von Loewenich sieht daher die Kirche zu steter „Wachsamkeit und Nüchternheit“ gefordert.
Der seit Jahrzehnten sich beschleunigende innere und äußere Zerfall unserer evangelischen Kirche, der jedes Jahr Zigtausende Gemeindeglieder den Rücken kehren, hat m.E. hier seine Wurzel, denn der eingeschlagene kirchliche Weg lässt das Herz oft kalt und statt dessen viele Fragezeichen zurück. Im letzten Grunde ist es die Frage nach der Wahrheit. Deshalb ist der Bremer Streit ein Ruf an die evangelische Kirche: Ein Ruf zur Besinnung auf das Wesentliche. Ein Ruf zur Buße und auch zur Umkehr von manchem Irrweg. Dem äußerlichen Verfall der evangelischen Kirche, der seit Jahrzehnten die Menschen den Rücken kehren [27] und nichts mehr von ihr erwarten, geht mit dem inneren geistlichen Verfall einer veräußerlichten Kirche einher, die krampfhaft nach immer neuen Betätigungsfeldern sucht und darüber den ihr anvertrauten Schatz des Evangeliums vergisst.
Es ist m.E. an der Zeit, hier zur Umkehr zu rufen: Der eifernde Gott [28], den wir in der Kirche oft zu einem altersheim-gerecht sedierten Großvater oder Erfüllungsgehilfen von Ideologien oder Utopien aller Art degradieren wollen, hat sich in Gesetz und Evangelium anders gezeigt. Dieser Gott wird als ein verzehrendes Feuer (Ex 24,17; Dtn 4,24; 9,3; Jes 30,27; Joel 2,3; Am 5,6; Hebr 12,29), als Lebenskraft bezeugt, nicht als unscheinbares Teelicht für die schwachen Stunden des Lebens, wenn man eine göttliche Garnierung benötigt. Allein die Schriftstellen in den Evangelien [29] über das Feuer sprechen hier eine eindeutige Sprache: Mt 3,10-12; 5,22; 7,19; 13,40; 18,8f; 25,41; Mk 9,49; Lk 12,49; Joh 15,6. Das Gebot der Stunde mahnt uns heute, den Auftrag der Kirche Christi neu zu bedenken und auch neu auszurichten. Die Not der Kirche muss uns im aktiv machenden Sinn unruhig werden lassen. Es wird nicht zu Unrecht heute oft der Vorwurf erhoben, dass das Salz der Christenheit „dumm“ (Mt 5,13 parr; moraino (gr) Rö 1,22; 1. Kor 1,20) geworden ist – ich gebrauche bewusst den Terminus aus der Lutherbibel von 1912. Die Salzkraft des Evangeliums liegt nicht in gesellschaftspolitischen Allerweltsweisheiten oder in lamentierend-nörgelnden Beauftragtenerkenntnissen, sondern in der frohmachenden Botschaft des Evangeliums, das uns ja gerade aus den Allerweltssorgen herausziehen will und an den Gott weisen will, dessen Frieden höher ist als alle Vernunft, und der Christenheit die Kraft gibt, ihren Weg in dieser Welt zu gehen und ihn dabei in Wort und Tat zu bezeugen.
Der Bremer Streit stellt uns als Kirche vor die dringliche Aufgabe, uns auf das Wesentliche zu besinnen, und dies mit aller zur Verfügung stehenden Kraft. Die Abkehr vom falschen Götzendienst war immer konfliktgeladen und spannungsreich [30]. Das Gebot der Stunde kann m.E. nur eine Rückkehr zum ureigensten Handwerkszeug des Christen sein: Bibel, Gesangbuch, Katechismus. Der vielleicht wesentlichste Beitrag, den wir als Orientierung in einer immer verwirrter und komplizierter werdenden Lebenswirklichkeit zu geben haben, ist die doch im Grunde einfache evangelische Lehre, die das oft so unruhige Herz von uns Menschen zur Ruhe der Kinder Gottes bringen kann. Luther hat unter Berufung auf Augustin immer wieder gelehrt, dass evangelische Lehre [31] einfach und verständlich bleiben muss, anstatt sich hinter großen Reden, theologischen Systemen oder anderen glückseligmachenden Frondiensten (Lk 23,24) zu verschanzen. Es wird zu einer heilsamen Besinnung führen, wie sie im NT mit sabbatismos bezeichnet wird (Hebr. 4,9). Der Smart-Werbeslogan „Reduce to the Max“ ist hier ein Wegweiser für manche Fehlentwicklungen. Es geht nicht um Genörgel an bestimmten Arbeitsfeldern der Kirche, sondern um eine Debatte, ob Kirche den richtigen Kurs verlassen hat, wie es Hermann Dietzfelbinger nicht zu Unrecht befürchtet hat.
Man muss ihm und anderen Mahnern der damaligen Zeit – ich denke hier besonders an Helmut Thielicke und sein Diktum vom Plusquamfuturum – heute Recht geben. Leider! Es wäre besser, wenn sich Dietzfelbinger geirrt hätte. Wir stehen heute weithin vor einem kirchlichen Trümmerhaufen – manches Totenliedchen erklingt. Der Verfall der evangelischen Christenheit in den vergangenen Jahrzehnten spricht eine mehr als deutliche Sprache. Wir müssen dieses von Dietzfelbinger erkannte Gefecht erst einmal zur Kenntnis nehmen und die Gefahr erkennen, um ihr begegnen zu können. Denn wir haben an diesem Punkt sicherlich nicht nur mit „Fleisch und Blut zu kämpfen“. Nur: Wie soll man einen Feind erkennen, dessen Existenz man leugnet oder wirklich nicht erkennt?
Kampf ist den Christen „verordnet“ (Hebr 12,1: prokeimai (gr)). Und in diesem Kampf sind wir auf den Feldherrn geworfen, der die Seinen in den Dienst genommen hat: „aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens“ (Hebr 12,2). Im neuen Hören auf sein Wort und im Blicken auf sein Kreuz und auf seinen exklusiven Anspruch kann man den Bremer Streit klarer sehen. Die Frage 95 des Heidelberger Katechismus ist hier ganz eindeutig. Es ist eine Infragestellung unseres derzeitigen Weges, den mancher Gegner unserer Kirche als anbiedernden Kuschelkurs empfindet und verspottet. Friedrich von Bodelschwingh hat in der schweren Zeit des Kirchenkampfes seine Glaubensgeschwister und Kampfgefährten immer wieder dazu aufgerufen, die Angriffe gegen die Kirche als Anlass zu nehmen sich in ehrlicher Selbstprüfung den Vorwürfen und Anklagen zu stellen, ob nicht etwas Wahres daran ist. Dass der derzeitige Kurs fatal ist, kann unmöglich geleugnet werden. Die Besinnung, die Umkehr, die Buße oder wie auch immer man das benennen will, verlangt klare Worte, die nicht zu konsumieren sind wie passierte Zahnlosenkost im Altersheim. Eine lebendige Kirche des lebendigen Gottes wird nicht konfliktfrei durch die Zeiten gehen können. Aber in diesem Ringen um den richtigen Weg braucht man vertrauenswürdige Hirten, die die Herde in die richtige Richtung weisen: Pastor Olaf Latzel ist meines Erachtens ein solcher unbequemer Wegweiser – allem kollegialen Störfeuer zum Trotz.
[1] Bericht über die dritte Tagung der vierten Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 18. bis 21. Februar 1971. Hannover 1972. S. 33f.
[2] aaO. S. 34.
[3] &xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp; Dietzfelbinger: Veränderung und Beständigkeit. Erinnerungen. München 1984. S. 303-312. Vgl. auch: Dein Wort bewegt des Herzens Grund. Bibelarbeiten und Vorträge. München 1988: zum Auftrag der Kirche S. 137-234. Vgl. auch Christen sind gefragt. Glaube zwischen Zweifel und Gewissheit. München 1982.
[4] WA 56, 522, 9-17. Gute Übersetzung: Luther, Martin: Ausgewählte Werke. Vorlesung über den Römerbrief. Hrsg. von H. H. Borcherdt und Georg Merz. Ergänzungsreihe Bd 2. 3. Aufl. München 1965. S. 463f.
[5] Vgl. im Sinnzusammenhang 2 Sam 22,33; Neh 8,10; Ps 28,8; 31,3.5; Ps 37,39; 43,2; 52,9; 60,9=108,9; Spr 10,29; Jes 17,10; 25,4; 27,5; Jer 16,19; Joel 4,16; Nah 1,7.
[6] Interessant ist&xnbsp; hier die Verwendung der Vokabel mükterizo (gr) in LXX: 1 Kö 18,27; 2 Kö 19,21; 2 Chr 36,16; Ps 79,7; Spr 1,30; 11,12; 15,5; 23,9; Jes 37,22; Ez 8,17.
[7] Mt 13,54; 19,25; 22,33; Mk 1,27; Lk 2,48: die Verwendung von ekpleso wäre eine eigene Untersuchung wert.
[9] Vgl. exemplarisch: http://www.evangelisch.de/inhalte/110284/16-10-2014/ekd-synodenpraeses-christen-muessen-sich-politisch-einmischen ; http://www.heute.de/neuer-ekd-ratsvorsitzender-bedford-strohm-hat-viel-vor-35840420.html ; http://www.focus.de/panorama/vermischtes/margot-kaessmann-ehemalige-ekd-ratsvorsitzende-will-sich-weiter-einmischen_aid_589183.html ; http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2010-02/kaessmann-nachfolger
[10] Althaus, Paul: Die Ethik Martin Luthers. Gütersloh 1965. S. 67-87. Ders.: Die Theologie Martin Luthers. Gütersloh6 1983. S. 279-287 (das kirchliche Amt).
[11] WA 6, 404-469.
[12] WA 19, 623-662.
[13] WA 30, II, 517-588.
[14] WA 17, II, 135-141; WA 37, 275-278; WA 21, 87f; WA 52,136-142: „Ein Fürst ist eine andere Person und hat ein anderes Amt als ein Prediger, ein Lehrer eine andere Person und ein ander Amt als ein Bürgermeister. Darum sollen oder können sie nicht einerlei Weise oder Wesen führen. Solche Ungleichheit muß auf Erden bleiben“. Zit. nach: Martin Luther: Sonntag Septuagesimae. Matth. 20, 1-16. Martin Luther: Gesammelte Werke, S. 5247. Vgl. Luther-W Bd. 8, S. 116.
[15] Sir 47,29 bringt summarisch auf den Punkt, was von 1. Kön 13,34 bis 2 Kön 23,15 vierundzwanzig Mal als Gründsünde genannt wird: Abgötterei. Das Leben jedes Königs wird daran gemessen, ob er dem ersten Gebot folgte oder aber dem Synkretismus frönte.
[16] Gollert, Friedrich: Dibelius vor Gericht. München 1959. Gollert zeigt sehr ausführlich, wie man Dibelius des Landesverrates beschuldigte und wie einem Verbrecher vor Gericht zog. U.a. ging es um Dibelius Schrift „Frieden auf Erden? Frage, Erwägungen, Antwort.“ (Berlin2, 1930). S. 14ff. Man spürt also, wie brisant der Vorwurf gegen Latzel heute ist und welche Geister hier agieren. Vgl. Dibelius, Otto: So habe ich´s erlebt. Selbstzeugnisse. Berlin 1980. S. 204ff.
[17] Vogel, Heinrich (Hrsg.): Der Prediger von Buchenwald. Das Martyrium Paul Schneiders. Berlin10, 1970. S. 87ff. Schneider wurde vorgeworfen „den ganzen Hunsrück aufzuwiegeln“.
[18] Niemöller, Wilhelm: Macht geht vor Recht. Der Prozess Martin Niemöllers. München 1952.
[19] http://www.idea.de/nachrichten/detail/frei-kirchen/detail/pastor-olaf-latzel-uebt-scharfe-kritik-an-der-evangelischen-kirche-89769.html
[20] Im AT wird dem Propheten Amos genau dieser Vorwurf gemacht: Am 7,10. Die Reihe lässt sich deutlich erweitern, was an dieser Stelle zu weit führt.
[21] Bernanos, Georges: Tagebuch eines Landpfarrers. Freiburg3, 2010: „So wenig wie ein Mensch kann eine Christenheit von Leckerbissen leben. Der liebe Gott hat nicht gesagt, dass wir der Honig, sondern dass wir das Salz der Erde sind mein Junge. Und unsere trübselige Welt voll von Wunden und Schwären gleicht dem alten Vater Hiob auf seinem Misthaufen. Salz auf die nackte, lebendige Haut, das brennt! Aber es verhindert auch die Fäulnis“ (S. 18).
[22] Barth, Karl: Die Not der evangelischen Kirche. ZdZ 9, 1931, S. 89-122. Barth hielt diesen Vortrag in der Zeit vom 31.1. bis zum 14.2. drei Mal: in Berlin, BREMEN (!) und Hamburg.
[23] Koh 7,16 findet hier Anwendung: „Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest“.
[24] Körtner, Ulrich: Hauptsache gerecht. Wie die EKD Familie neu zu denken versucht. ZEE 57, 2013, S. 243-248.
[25] http://www.ekd.de/download/kirche-der-freiheit.pdf
[26] Loewenich, Walther von: Protestantischer Glaube. Witten 1964. S. 65.
[27] http://www.kirchenaustritt.de/statistik. Diese Zahlen bedürfen keines Kommentars. Es ist sicherlich kein Zufall, dass mit dem Jahr 1971 der große Exodus aus den Kirchen begann.
[28] Ex 20,5; 34,14; Dtn 4,24; 5,9; 6,15; Nah 1,2. – 1 Petr 3,13 fordert genau zu diesem Eifern auf.
[29] Nach der Konkordanz der SESB sind dies 24 Belege.
[30] Vgl. die Gebrauchsanweisung im EG: 136,5; 137,6; 326,8. Es geht so gesehen um nichts anderes als um die Frage nach der Wahrheit.
[31] Sehr deutlich wird dies in „De servo arbitrio“: „Nos ad certam regulam, sobriis et propriis verbis debere loqui, In docendo enim simplicitas et proprietas dialectia requiritur, non autem ampullae et figurae rhetoricae persuasionis“. WA 18, 662, 19 – 21.