Der heilsame Riss. Impulse reformatorischer Spiritualität

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Prof. Dr. Hans-Martin Gutmann
Hamburg

Christian Möller, Der heilsame Riss. Impulse reformatorischer Spiritualität. Calwer Verlag Stuttgart, 2003, 296 Seiten

Christian Möllers Buch ist nicht allein Reflexion auf reformatorische Spiritualität, sondern selbst über viele Seiten ihr Ausdruck und Anstoß. Eine bunte Sammlung unterschiedlicher Textgenres: autobiographische Erinnerungen an theologische LehrerInnen und Lernschritte, Perspektiven auf evangelisches Kirche-Sein und die Aufgabe des/der Geistlichen, gegenwartsdiagnostische Mahnungen, Predigten – und immer wieder Suchbewegungen, das zu fassen, was reformatorische Spiritualität sein könnte.

„Der heilsame Riss” liegt in der unverstellten und unhintergebaren Wahrnehmung der Sünde, nicht zuerst als dogmatischer Topos, sondern als Mittelpunkt der Selbstwahrnehmung eines Christenmenschen. „Die Sünde groß machen” – diese in Anknüpfung an Martin Luther gewählte Formulierung weist auf beides: Die Selbsterkenntnis der – von Gott vergebenen – Sünde verhindert, dass sich der Mensch selbst groß macht, dass er sich in selbstverliebter Größenphantasie mit Gott verwechselt. Und dieser „heilsame Riss” ist zugleich die Offenstelle, durch die der Geist Gottes im Leben eines Menschen Macht gewinnen kann. „Reformatorisch verstandene Spiritualität … hängst aufs engste mit der Überwindung einer Sündenvergessenheit zusammen, die den Menschen an sich selbst und seiner Leistungsbesessenheit ersticken lässt, weil sie die Sünde nicht mit Blick auf Christus als den heilsamen Riss offen hält, durch den der erfrischende Sauerstoff von Gottes Geist in mich einströmen kann … Fehlt der Sündenerkenntnis die Christuserkenntnis, wird sie moralisierend, psychologisierend, zerknirschend und verängstigend. Fehlt der Christuserkenntnis die Sündenerkenntnis, wird sie todrichtig, flach, dogmatistisch.” (S.47)

In einer solchen reformatorischen Spiritualität wird eine spezifische, differenzierte Gestalt für eine menschliche Haltung gegenüber der Wirklichkeit gefunden, die Möller gegenwärtig in großer Weite und Offenheit in vielen religiösen Aufbrüchen wahrnimmt, nicht nur im reformatorischen Christentum. „Spiritualität ist Offenheit und Durchlässigkeit für das Geheimnis der uns umgebenden Wirklichkeit” (S.44). Sie in reformatorischer Perspektive zu gewinnen, verlangt Achthaben und Einüben in den Schatz der biblischen Erzähltradition, in die vergegenwärtige Erinnerung an das, was mir in der Taufe geschehen ist – im Gebet, im Gottesdienst, in den Wegen und Methoden, die mit der Geschichte der christlichen Kirche in überreicher Weise für die Gestaltfindung von Spiritualität gegeben sind. Aus ihnen erwächst und ihnen korrespondiert ein Lebensgefühl, das nicht durch Enge und angestrengte Einhaltung von Regeln, sondern durch Fülle, Sich-beschenken-lassen und Weitergeben bestimmt ist, geboren und am Leben erhalten in der Glaubens-Erfahrung des heilsamen ‚Geschenke-Austausches’ zwischen Gott und Mensch im Glauben: Gott nimmt mir in Christus und um Christi willen meine Sünde und schenkt mir seine Gerechtigkeit. Das Vertrauen in diese Verheißung überwindet das Lebensgefühl von Knappheit und Enge. „Was ist der Fluch des defizitären Denkens? Es ist der Sog des Mangels, der mich mehr und mehr in seinen Bann zieht, so dass ich immer trauriger und immer gelähmter werde … Gefragt ist heute mehr denn je eine Sprache, die die Seele beflügelt, unser Ohr öffnet und unser Herz beschwingt. Es ist eine Sprache, die nicht bei Mängeln behaftet, sondern auf Gaben anspricht, indem sie dem Menschen zuallererst etwas zuspricht.” (S.76f.) Gefordert und geschenkt ist in reformatorischer Spiritualität ein Denken und Leben aus der Verheißung.

Es ist dieses Lebensgefühl der Fülle, das Möller zu differenzierten und klaren, bisweilen auch scharfen Stellungnahmen gegenüber dem ökonomistischenMainstream in Kirche und Gesellschaft herausfordert. Scharf äußert er sich (erfahrungs- und kenntnisreich auf dem Hintergrund eigener Arbeiten zu Seelsorge und Gemeindeaufbau) zu den Methoden eines „spirituellen Gemeindemanagements” und überhaupt zu jeder Verquickung von religiöser Selbstgerechtigkeit, institutioneller Selbsterhaltung und Marketing-orientiertem Lebensgefühl im gegenwärtigen Protestantismus. „Die heute wohl gängigste Irrlehre besteht darin, dass wir schon wüssten, was das Evangelium sei; es komme nur darauf an, es richtig zu vermarkten, anzuwenden und an den Mann oder die Frau zu bringen. Diese Irrlehre kann sich missionarisch, volkskirchlich oder sonst wie tarnen. Es bleibt allemal eine Irrlehre.” (S.34). Ihre Kraft gewinnen solche Bemerkungen darin, dass Möller die Einbindung der innerkirchlichen Entwicklungen in den gesellschaftlichen Kontext immer wieder thematisiert, vor allem in seinen scharfen Wahrnehmungen zum Umgang mit Zeit. Die öffentliche Debatte um den Erhalt eines arbeitsfreien Sonntags weist auf die ökonomistische Durchdringung aller Lebensbereiche, in der die möglichst lückenlose Produktivität der Arbeit ebenso wie die „Atemlosigkeit der Erlebnissucht” den „Atem des Lebens” zu ersticken droht. Die heilige Zeit des gemeinsam geteilten Sonntags kann in der multikulturellen Gesellschaft Deutschlands ganz unterschiedliche Gestalt finden, bleibt so oder so jedoch lebens-notwendig. Wenn für die Menschen, die weiterhin erwerbstätig sind, arbeitsfreie Zeiten zunehmend individualisiert werden und nicht mehr mit Freunden und Familie geteilt werden können, zerfällt der „Lebensrhythmus”. Reformatorische Spiritualität ist immer auf die Gemeinschaft der Heiligen bezogen, auf geteilte und gemeinsame Feier des Lebens und seines Schöpfers. Sie kann auch für die gesellschaftliche Lebenswelt Kraftreservoirs entfalten, wenn sie sich nicht den Ansprüchen der Erlebnisgesellschaft unterwirft. „Es könnte sein, dass gerade um der Erlebnisgesellschaft willen Grenzüberschreitungen zu einem Leben gesucht werden müssen, nach dem sich diese Gesellschaft im Tiefsten sehnt, ohne es doch im ‚Zwei-Stunden-Takt’ entdecken zu können.” (S.158f.)

Reformatorische Spiritualität entwickelt sich nicht allein als je- individuelle und -innerliche Lebenskunst, sondern im geteilten Leben der „Gemeinschaft der Heiligen”. Protestantische Spiritualität ist ein gemeinschaftliches, und sie ist ein körper-orientiertes Geschehen. Christian Möller entfaltet diesen Gedanken immer wieder neu: in Überlegungen zur Aufgabe und Macht des Gemeindepfarramtes, zum Leben in Ortsgemeinden und kirchlichen Diensten, im Laut-Werden und Raum-Schaffen der biblischen Erzählungen, in Gebet und Gottesdienst. Am dichtesten werden seine Überlegungen dort, wo diese Gemeinschaft in wieder-erzählten Szenen aus dem Gemeindealltag Gesicht gewinnt, und in besonderer Intensität dort, wo Möller von seinen theologischen und spirituellen LehrerInnen und Freunden erzählt: Martin Luther und Kierkegaard, Ernst Fuchs und Karl Barth, Helmut Gollwitzer und Ernst Lange, Walter Mostert, Christa Reich und Manfred Josuttis. Und wieder Martin Luther und Kierkegaard. Es spricht für dieses Buch und seinen Autor, dass die „Reihe der Zeugen” sich nicht in das Muster einer theologischen Schule hineinpressen lässt, und es spricht Bände für (und vielleicht auch gegen) die aktuelle akademische Theologie, dass so wenig noch lebende ZeitgenossInnen darin vorkommen. Christian Möller schafft nicht zuletzt eine vergegenwärtigende Erinnerung der deutschen, zugleich der ökumenischen, der am Prozess von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung engagierten protestantischen ZeitgenossInnenschaft. Darin und in vielen erwähnten und von dem/der LeserIn noch aufzuspürenden Aspekten ist Möller ein wichtiges, ein ermutigendes und bisweilen auch vergnügliches Buch gelungen, das aufden Schreibtisch eines/einer jeden gehört, die sich auf dem Weg zu einer reformatorischen Spiritualität anstoßen und begleiten lassen möchte.

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