Evangelische Freiheit und Gemeinschaft

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Oder: Kann man Christ sein ohne Kirche?[1]

Michael Behnke

Oklahomastraße 12, 66482 Zweibrücken

Ich will mit einer Geschichte beginnen: Im 8. Buch seiner Bekenntnisse erzählt Augustinus von dem Philosophen Marius Victorinus. Als dieser mit Christen in Berührung kam, las er die Bibel und studierte das erreichbare christliche Schrifttum und behauptete fortan: Er sei Christ. Da die zentralen christlichen Ideen mit seiner platonischen Philosophie übereinstimmten, lehnte er die Taufe ab. Die Kirche war für ihn nur Platonismus fürs Volk, deren er als Vollplatoniker nicht bedürfe[2]. Ein gewisser intellektueller Hochmut mag hier wohl Pate gestanden haben, aber diese Haltung war und ist unter Gebildeten seit jeher verbreitet.

Eine ähnliche Geschichte erzählt schon das Johannes-Evangelium: In der Nacht kommt der Pharisäer und Ratsherr Nikodemus zu Jesus und legt ein Bekenntnis zu ihm ab. Doch möchte er zu diesem Bekenntnis nicht öffentlich stehen, wohl aus Angst um seine Stellung und Reputation (Joh 3, 1-21).

Diese beiden Geschichten sind heute aktueller denn je, denn offenbar kann man auch ohne Kirche Christ sein! Und der Austritt aus der Kirche bedeutet für viele heute nicht mehr automatisch den Abschied vom christlichen Glauben. Gott: Ja! Christlicher Glaube: Ja! Aber Kirche: Nein! Ich brauche für meinen Glauben keine Kirche und Gott braucht kein Geld.

So einfach und überzeugend ist dieses Erklärungsmuster, dass man heute kein Intellektueller mehr sein muss, um es zu verstehen und anzuwenden. Und es wirkt: Der evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf schrieb letztens: „In der Bundesrepublik wächst das Christentum außerhalb der Kirche.“[3]

Aber geht das wirklich: Christsein ohne Kirchliche Gemeinschaft? Schauen wir uns einen Text aus dem Galaterbrief an, nämlich 3, 27-28: „Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen (27). Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr allesamt seid einer in Christus Jesus (28).“

Hier steht also, dass für den, der getauft ist, der also Mitglied der christlichen Kirche geworden ist, keine Unterschiede der Herkunft, des Geschlechts und des Standes mehr zählen. Denn alle seien jetzt eins in Christus, was soviel heißt: Alle sind gleich in der christlichen Gemeinde.

Wie muss man sich das praktisch vorstellen?

Die Christen machten in ihren Gemeinden die Erfahrung, dass die trennenden und diskriminierenden Unterschiede des Alltags in den gemeinschaftlichen Versammlungen nicht mehr zählten. Die patriarchal geprägten Männer sahen in ihren Frauen jetzt gleichgestellte Geschwister im Herrn, der Herr traf hier seinen rechtlosen Sklaven als gleichgestellten Glaubensbruder und der einst vom Heil ausgeschlossene Heide sah im auserwählten Juden jetzt einen ebenbürdigen Mitbruder.

In der Gemeinschaft der Glaubenden erfuhren sie so eine erlösende Befreiung aus den quälenden Zwängen des Alltags. Sie erlebten sich als Brüder und Schwestern, die in ihrer gottesdienstlichen Feier die Erlösung von Leid und Tod und die Befreiung aus den unterdrückerischen Regeln der Welt voller Freude begingen. Das Reich Gottes, ein Reich, in dem sich Freiheit und Zugehörigkeit harmonisch verbanden, war hier angebrochen.

Aber nur in der feiernden Gemeindeversammlung der Glaubenden konnte man diese Freiheit erfahren. Denn, wenn man wieder in den Alltag zurückging, mussten sich alle wieder den Regeln der Welt unterordnen. Doch man ertrug diese Leiden als Zeichen des persönlichen Kreuzes, das man im Blick auf den Herrn freudig trug. Dadurch wurden aber diese Zwänge in ihrem Anspruch gebrochen und verloren ihre Unerbittlichkeit durch die christliche Gemeinschaft. Und darum konnte die befreiende Kraft des christlichen Glaubens nur in der Gemeinschaft der Brüdern und Schwestern erfahren und gelebt werden[4].

Wie sieht es heute aus?

Die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau ist gesetzlich geregelt und politisch weitgehend durchgesetzt. Die Sklaverei ist abgeschafft und von einem Gegensatz von Heiden und Juden spricht heute niemand mehr. Was ist also heute das Befreiende und Erlösende in unseren Gottesdiensten? Wo erleben wir uns als erlöste und befreite Brüder und Schwestern, die ihre Gemeinschaft voller Freude feiern und in den Alltag tragen?

Natürlich ist auch heute Glaube noch in der gottesdienstlichen Gemeinschaft erlebbar. Doch wie viele berührt das? Was ist in der gottesdienstlichen Feier noch so erlösend und befreiend, das wir nicht auch außerhalb der Kirchenmauern erleben könnten? Welche Chancen haben wir zumal in einer hedonistischen Spaßgesellschaft, die so gar nicht von ihrem Spieltrieb erlöst werden möchte?

Wie auch immer die Antwort darauf sein mag, feststellen müssen wir, dass sich immer weniger von der Kirche ansprechen lassen und es vorziehen, lieber ihr Christsein ohne Kirche zu leben. Doch wo kommt nur der Gedanke her, dass man Christ auch ohne Gemeinschaft der Glaubenden sein kann? Im Neuen Testament und in den ersten christlichen Gemeinden wäre so etwas undenkbar gewesen. Woher also dieser Gedanke?

Ich denke, hier muss gerade der Protestantismus sich selbstkritisch fragen, ob er nicht in Wort und Tat diese Entwicklung gefördert hat. Ich will hier drei Beispiele kurz darstellen:

Ich zitiere zunächst eine These von Hartmut Metzger, die er anlässlich der letzten Reformationsveranstaltung in Speyer aufstellte: „Luthers Theologie zielte in erster Linie auf den einzelnen Christenmenschen und dessen unvertretbare Stellung vor Gott. Für den Christen bedeutete dies einen Zuwachs an Freiheit; da er mit seinem Gewissen auf sich gestellt war, aber auch ein höheres Maß an Verantwortung.“

Also der Christ steht allein vor Gott, nur ihm und seinem Gewissen verantwortlich. Dieser Satz ist gut protestantisch und jeder von uns würde ihn unterschreiben. Nur welche Stellung hat dann die Kirche in dieser ehern Zweisamkeit von Gott und Mensch? Natürlich wurde diese Frage in einem Zeitalter korporativen Geistes, also im 16. und 17. Jahrhundert nicht gestellt. Doch sie sollte aufbrechen, sobald das Individuum auch geistesgeschichtlich immer mehr in das Zentrum rückte.

So definierte die Aufklärung den Menschen als autonomes Subjekt, und der intellektuelle Protestantismus ist in großen Teilen dieser Definition freudig gefolgt. Allerdings habe ich nie verstanden, wie ein Christ das Bekenntnis auf Gott, seinen Schöpfer und Heiland aussprechen und sich gleichzeitig als autonomes Subjekt betrachten kann. Denn ist Autonomie nicht der Versuch des Menschen, selbst wie Gott zu sein, ist es nicht sein Streben nach Autarkie, durch das er nur in sich selber stehen will, sich nur selbst Gesetz sein will?

Ist Autonomie so verstanden nicht der Urzustand der Sünde, des Abfalls von Gott? Ich denke, das sollte jeder einmal für sich durchdeklinieren[5].

Aber wie auch immer! Es ist meines Erachtens ein Konzept, das den Glaubensindividualismus förderte und die Gemeinschaft der Glaubenden relativierte.

Eine weitere Tendenz sehe ich dann in der liberalen Theologie, die im Namen einer aufgeklärten Religion proklamierte, dass die Kirche sich im christlichen Staat auflösen werde. Diesen Gedanken äußerte z.B. der evangelische Theologe Richard Rothe[6]. Aber auch Kant wies in diese Richtung, wenn er sagte: „Die Stiftung Christi, die Kirche, das Reich Gottes auf Erden, kann nur in uns sein. Religion kann kein öffentlicher Zustand sein.“[7]

Das dritte Beispiel: Ein moderner Trend nun, der ein Christsein ohne Kirche fördert, ist meines Erachtens der betriebswirtschaftliche Blick auf alles kirchliche Handeln. Unsere Brüder und Schwestern in den Gemeinden sind hier nur noch unsere Kunden oder Klienten und unsere seelsorgerlichen und gottesdienstlichen Bemühungen werden hier unter der Hand zum Produkt und zur Ware.

Nur: Wer so argumentiert, muss auch um die Folgen wissen. Denn wenn ein Geistlicher seine Gemeindeglieder nur noch als Kunden sieht und anspricht, dann wird er diese zu marktkonformem Handeln erziehen. Sie werden sich fragen, wo bekomme ich das gleiche Produkt billiger her oder brauche ich dieses Produktangebot überhaupt noch?

Ein Beispiel: Da ist ein Gemeindglied, das von sich sagt: Ich glaube an Gott, ich verstehe mich als Christ und ich möchte einmal kirchlich beerdigt werden. Aber Kirche spielt in meinem täglichen Leben so gut wie keine Rolle. Warum soll ich nun jahrzehntelang im Voraus sozusagen Monat für Monat eine Gebühr entrichten, nur weil ich mir eine kirchliche Beerdigung wünsche. Wird es unter den Bedingungen des Marktes nicht auch kirchliche Angebote geben, die mir das Produkt günstiger verkaufen und zwar genau in dem Moment, in dem ich es brauche? Kurz: Das Gemeindeglied als Kunde fängt an zu rechnen und die Rechnung dürfte nicht zu unserem Vorteil ausfallen.

Meinen Metzger oder Bäcker kann ich mir aussuchen, das ist eben der Markt. Aber meine Eltern, meine Geschwister, meine Familie, meine Religion und Konfession, meine regionale Herkunft und meine Nation konnte und kann ich mir nicht aussuchen. In diese Gemeinschaften wurde ich hineingeboren und ich habe mich zu ihnen in eine bestimmte menschliche Beziehung zu setzen. Wer in diese gegebenen Beziehungen nun Marktgesetze einführen möchte, der wird auch eines Tages im wahrsten Sinne des Wortes bereit sein, seine Großmutter meistbietend zu verhökern!

Ich verkürze arg, aber ich hoffe, man sieht, dass unsere Kirche unter betriebswirtschaftlichem Denken wirklich in der Gefahr steht, zu einem Gemischtwarenladen zu verkommen, der so gar nichts mehr mit seinem ursprünglichen theologischen Sinn zu tun haben wird.

Was ist zu tun? Wie kann man gegensteuern?

Nun, ich will auch hier mit Luther reden – dessen Geburtstag wir übrigens morgen feiern werden – und will mit ihm fordern: Zurück zu den Quellen! Zurück zur Heiligen Schrift und deren sachgerechter Auslegung. Denn hier steht schon im 1. Kapitel des 1. Mose, dass der Mensch als Gottes Ebenbild gleich in zweifacher Weise beziehungsfähig geschaffen wurde, nämlich offen auf Gott und den Mitmenschen hin. Wo diese offenen Beziehungen gestört werden, entsteht Sünde, also Abfall des Menschen von Gott und die Trennung des Menschen vom Mitmensch.

Und das muss wiederholt werden: Beide Beziehungen, die die Gottesebenbildlichkeit des Menschen wesenhaft beschreiben, müssen offen und frei sein, denn es ist nun mal so, wenn zum Beispiel die Relation von Mensch zu Gott gestört ist, so ist eben auch die Beziehung zum Mitmenschen beschädigt. Darum kann es keinen christlichen Humanismus geben, ohne Beziehung zu Gott und es kann auch keine exklusive Beziehung des Menschen zu Gott geben, ohne eine offene Relation zu den Mitmenschen.

Im Neuen Testament wird nun diese Relationalität des Menschen radikalisiert. In der Nachfolge unseres Herrn wird uns Christen bleibende Vergebung geschenkt, die sich aber in unserem Leben bewähren muss. Es gilt, im Glauben unsere Ich-Bezogenheit zu überwinden und ein Leben mit unseren Mitmenschen und für sie zu führen.

Das Nächstenliebegebot, das hier sozusagen unser Grundgesetz darstellt, ist aber auch ganz praktisch gemeint: Denn es sagt: Ihr müsst euch gegenseitig helfen, weil ihr allein viel zu schwach seid. Nur gemeinsam und in der Gemeinschaft könnt ihr es schaffen. Das bedeutet aber: Ein Christ kann ohne Gemeinschaft nicht sein. Christsein ohne Kirche ist schlichtweg Blödsinn! Es kann nicht gehen! Es widerspricht fundamental dem biblischen Menschenbild. Es ist – wenn überhaupt – eher eine trotzige oder beleidigte Attitüde, aber kein christlich-biblischer Glaube!

Und das weist zurück auf den Galaterbrief. Nur in einer Gemeinschaft mit einander den Glauben bekennenden und sich einander helfenden und tragenden Christen kann das Erlösende und Befreiende des Evangeliums erfahren und gefeiert werden. Das ist die Hoffnung, die unsere Kirche am Leben erhält und darauf sollten wir setzen.

Gott hat uns die Vernunft geschenkt, damit wir unser Leben vernünftig regeln. Aber der Mensch ist nicht nur rational, er ist biblisch gesehen, auch relational, offen für Gott und seine Mitmenschen und damit offen für die Gemeinschaft mit allen Glaubenden und allen Menschen weltweit. Zur evangelischen Freiheit, die wir mit Recht so betonen, gehört notwendigerweise das Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Erst in der fruchtbaren Dialektik von Freiheit und Gemeinschaft realisiert sich christliches Leben. Wir wollen frei sein, ja, aber doch nicht allein sein!

Denn Evangelische Freiheit ist nicht Freiheit vom anderen, sondern immer Freiheit für den anderen in sorgender Liebe. Darauf beruhen unser Glaube und unsere Hoffnung. Das Strukturpapier, das im Moment in unserer Kirche diskutiert wird, sollte von hier seinen Maßstab bekommen und wir sollten darum prüfen, ob das Papier in der Lage sein wird, lebendige Glaubensgemeinschaft zu fördern oder sie zu beschädigen oder gar zu verhindern.

[1] Leicht überarbeiteter Text meiner Andacht vom 9.11.2011 bei der Mitgliederversammlung des Vereins Pfälzischer Pfarrerinnen und Pfarrer in Kaiserslautern.

[2] Aurelius Augustinus, Confessiones, lib. XIII 2, 3-5; DTV 2159, München 1982, S. 192-195.

[3] Friedrich Wilhelm Graf, Die Sünden der Kirchen. In: Pf.Pfr.bl. 8/2011, S. 294.

[4] Siehe dazu Joachim Rohde, Der Brief des Paulus an die Galater. Theologischer Handkommentar zum NT, Bd. 9, Berlin 1989, S. 163-166.

[5] Man beachte, dass ich den Autonomiebegriff hier in polemischer Absicht „infrage“ stelle. Dem Autonomiegedanke Kants werde ich dadurch nicht gerecht, denn für Kant ist die in der Vernunft begründete und im sittlichen Willen zum Ausdruck gebrachte Autonomie im transzendentalen universalen Sittengesetz verankert und nötigt den Menschen im entscheidenden Moment geradezu gegen die eigenen vitalen Interessen zu verstoßen, um im Sinne der sittlichen Pflicht – also in einer Art Selbstüberwindung –  gegenüber dem universalen Gesetz zu handeln. Kant schreibt: „Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten… Also drückt das moralische Gesetz nichts anderes aus, als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft, d.i. der Freiheit, und diese ist selbst die formale Bedingung aller Maximen, unter der sie allein mit dem obersten praktischen Gesetze zusammenstimmen können“ (Kritik der praktischen Vernunft, I § 8).

Dagegen wende ich mich polemisch gegen einen modernen rein immanenten Autonomiebegriff, der aus jedem Menschen seine eigene Welt macht, in der er sozusagen für alles zuständig ist und wie er im Grunde wie eine Monade  für sich selbst bleibt und nur selektiv das zu sich hereinlässt, was seinen ureigensten Interessen entspricht. Dieses Menschenbild entspricht dem Konsumenten, der stets aus der Angebotspalette auswählt, was ihm passt. Und dieses Menschenbild entspricht eklatant dem biblisch gefallenen, sich selbst genügenden Menschen, der Gott nicht braucht oder eben nur manchmal ein bisschen.

Kants Autonomiebegriff hingegen bleibt auch weiterhin offen für eine fruchtbare theologische Diskussion, denn er wendet sich eindeutig gegen ein utilitaristisches Eudaimonieverständnis, wonach das Streben nach materiellen Wohlstand mit dem allgemeinen Glück identifiziert wird. Auch ist die transzendentale Existenz eines universalen Sittengesetzes,  das zugleich im Gewissen zugänglich ist, mit dem protestantischen Glauben in Verbindung zu bringen, wonach der Christ eben allein aus Glauben auf das transzendente ihn unbedingt ansprechende Wort Gottes in seinem Gewissen hört und gehorsam handelt, auch wenn es gegen seine vitalen Interessen verstößt (Selbstüberwindung).

[6] Siehe dazu: Bengt Hägglund, Geschichte der Theologie, Berlin 1983, S. 289.

[7] Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Stück IV: Vom Dienst und Afterdienst unter der Herrschaft des guten Prinzips, oder Von Religion und Pfaffentum. Kant geht ähnlich wie Calvin von „sichtbaren“ und einer „unsichtbaren“ Kirche aus. Die sichtbaren Kirchen sind für ihn Ausdruck menschlicher Schwäche. Dagegen fordert er die unsichtbare Kirche als Gemeinschaft vernünftiger moralischer Wesen.

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