Michael Behnke
Oklahomastraße 12, 66482 Zweibrücken
„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (I. Kant)
Unter der Schädelschwarte rumorte es. Die höheren Schaltkreise des Bewusstseins gingen auf die Straße, machten Randale und protestierten mit all ihrer Kraft gegen den „stinkenden Saustall“, der ihrer Meinung nach in den unteren Regionen des Gehirns zu herrschen schien. Gemeinsam skandierten sie ihre Parolen:
„Hoch lebe sie, die Großhirnrinde!
Nieder mit dem limbischen System!
Pfui, Amygdala!
Hinfort, du Hippocampus!
Überhaupt, wer braucht denn heute noch ein Stammhirn?
Oh, Heiliger Schöpfer des präfrontalen Cortex, du Lenker der Vernunft, du Licht unseres Bewusstseins, schütze uns vor deren Impulsen, Trieben und Affekten! Beende endlich diesen Stress endloser Emotionen, denen wir tagtäglich ausgesetzt sind! Vernünftiges Arbeiten ist einfach nicht mehr möglich bei all diesem willkürlichen Störfeuer, das diese Vandalen uns ständig bereiten! Es muss ein Ende haben!“
Und es geschah ein Wunder. Der Herr des präfrontalen Cortex erhörte die Gebete und unterzog das Gehirn einer grundlegenden Revision. Mit sicherer Hand schnippelte er alles weg, was an Altem bis Uraltem unter dem Dache der Großhirnrinde so waberte und immer wieder als wirres und unberechenbares Wirken des Unbewussten dem wachen Bewusstsein auf den Wecker ging: Kleinhirn, Stammhirn, Hypothalamus, Hippocampus und Hypophyse, das komplette limbische System samt Mittel- und Zwischenhirn. Zurück blieb allein der gereinigte Neo-Cortex mit all seinen Zentren. Zwar gestaltete sich das Innere des Schädels nun als großer Hohlraum, war aber dadurch auch sehr geräumig.
Jedoch war das Ergebnis des Eingriffes äußerst zufrieden stellend, denn wahrlich, es war herrlich! Das Bewusstsein sonnte sich im vollen Glanze seiner Einsicht. So rational und aufgeklärt waren wir Menschen noch nie. Jubilierte nicht Sigmund Freud in taumelndem Glücke auf seiner himmlischen Wolke ob der gelösten Tragik des menschlichen Lebens? Sah er doch das Bewusstsein ewig in den stählernen Ketten eines irrationalen Unterbewusstseins. Und nun! Kein „Es“, kein „Über-Ich“, kein „Du“ noch ein „Wir“ störten fürderhin das „Ich“ in seinem wachen Bewusstsein. Ach wie schön war es zu leben im hellen Lichte vollster Vernunft!
Nur, was war da los? Unser Bewusstsein erkennt nun alles in schärfster Analyse und präzisester Beschreibung, allein es bewegt sich nichts. Wieso denn das? Die Antwort darauf fällt nicht schwer, denn man hatte doch im Übereifer des Entsorgens auch das Willenszentrum herausgeschnitten, was leider größtenteils im emotionalen Bereich angesiedelt war. So können wir zwar alles erkennen, aber offenbar nichts mehr entscheiden! Aber wir gehen davon aus, dass dieser Zustand nur vorübergehend uns etwas einschränken wird.
Von marginalen Anpassungsproblemen und neuen Sparprogrammen
Aber nicht nur die Bewegung liegt am Boden, auch die Sinnesorgane schwinden, das Sprechen will nicht mehr gelingen, das Kurzzeitgedächtnis hat sich vollends verabschiedet und sogar der Stuhlgang stellte seine Tätigkeit ein. Was aber noch seltsamer war: Man konnte nicht mehr lieben oder hassen, nicht mehr sich freuen oder trauern, schmecken will auch nichts mehr. Man spürt keine Angst, noch Gier noch Leidenschaft. Auch die Libido ging flöten und träumen will schon gar nicht mehr gelingen. Gleichfalls versiegte die Tiefe religiös-transzendenten Ahnens wie ein staubig ausgetrockneter Brunnen.
Ebenso verschwanden der quälende Zweifel und die innere Zerrissenheit der Seele, die im Ringen um einen die Existenz tragenden christlichen Glauben angesichts einer zunehmend absurd empfundenen Welt, immens viel geistige Energie in Anspruch nahm. Man hatte also den Herrn samt allen Religionen und Göttern im chirurgischen Orkus versenkt, was sich im Nachhinein – sozusagen als positive Nebenwirkung – als ein gigantisches Energiesparprogramm entpuppte. Welch’ unvorstellbar große Mengen an geistiger, körperlicher und seelischer Energie hatte doch die Menschheit seit Vorzeiten in diesen religiösen Hokuspokus investiert!
Mit welch’ unsäglichen Mühen bauten Abermillionen Gläubige Pyramiden, Mausoleen und Tempel, Kathedralen, Kirchen, Klöster und Kapellen, wie viel Zeit, Energie und Geld investierten sie für langwierige und gefährliche Wallfahrten, wie quälten sie sich mit endlosen Fasten- und Bußübungen, mit Höllen- und Dämonenangst, mit Selbstkasteiungen und Gewissensnöten, mit wie viel Geduld und Opfersinn ließen sie nicht enden wollende Messen, Gottesdienste, Zeremonien, Bußpredigten und Ablassforderungen über sich ergehen und bedienten diese sogar aus tiefstem Glauben; all dies allein für das ewig gleiche Geleier dieses „Eiapopeia vom Himmel“ (H. Heine). Ja, überhöhten das Christentum und hier insbesondere der Protestantismus nicht diese irdischen Mühen mit der Vorstellung, wonach Leben und Arbeit beschwerlich sein müssen, damit es von Gott als Buße für die Sünde angenommen werden kann?
Ja, waren die denn alle noch recht bei Trost? Was für eine Verschwendung! Einfach unverantwortlich! Und in der Tat, gehörte es nicht zu den Träumen vieler Philosophen der Aufklärung, die jede Religion als Ausdruck menschlicher Irrationalität ansahen und die sich anschickten, die Menschheit von diesem überflüssigen Ballast programmatisch zu befreien? Wozu sollte man weiterhin selbstquälerisch eine Antwort auf die Sinnfrage suchen, wenn doch nun alles in leuchtender Klarheit vor uns steht? Auf Kirchen und sonstige religiöse oder andere Weltanschauungsgemeinschaften wird man von nun an getrost verzichten können, was in der Folge ein weiteres Sparprogramm für den Geldbeutel des Bürgers darstellen dürfte.
Wie schön besang doch der Nachbar von Brian am Kreuze diese neue rationale Weisheit:
„What have you got to lose? You come from nothing, you’re going back to nothing. So what have you lost? Nothing!
Forget about your sin, give the audiance a grin. Enjoy it, it’s your last chance anyhow. And always look on the bright side of life….!
Von der neuen Sicht auf den Mitmenschen
Doch wenden wir nun den Blick von uns weg zur Außenwelt. Sehr bald erleben wir Erstaunliches. Denn auf einmal geraten da so merkwürdige Gestalten ins Blickfeld unserer Augen, die sehen irgendwie aus wie wir. Was wollen die? Das sind wohl Menschen, sagt das Bewusstsein. Nur, warum gibt’s die denn? Was sollte man mit denen nur anfangen? Ist man nicht bei vollem Verstande sich selbst genug? Wozu noch Gemeinschaft? Wozu noch Kommunikation? Im Zustande geistiger Perfektion erübrigen sich soziale Kontakte zum Zwecke gegenseitiger Unterhaltung oder Hilfeleistungen. „Schön ist es auf der Welt zu sein, sagt der Igel zu dem Stachelschwein…“ Solche peinlichen Parolen müssen wir dem Hirn sei Dank nun nicht mehr über uns ergehen lassen. Überhaupt: Solche merkwürdig lästigen Gefühle wie Empathie, Sympathie, Mitleid, Compassion oder gar Nächstenliebe wurden ja – gratia rationis! – erfolgreich entsorgt.
« L’enfer, ce sont les autres! » Recht hat er ja, der olle Sartre! Endlich erfolgreich befreit von allen Trieben der Geselligkeit und der geschlechtlichen Partnerschaft, werden wir nicht nur im Nu das Weltbevölkerungsproblem lösen, nein, nun können wir uns endlich intensiv der wahren Nachkommenschaft widmen, nämlich der Vermehrung des Geldes, was nun auch ohne jede finanzielle Einbuße zu leisten sein wird. Oder hat man schon mal gehört, dass Zinsen und Profite Windeln, Kindergärten, teure Schul- und Universitätsausbildung für sich in Anspruch nehmen? Schließlich sollten wir nicht vergessen, dass ein wesentlicher Teil der allumfassenden Selbstverantwortung sein wird, privat für einen auskömmlichen Lebensabend zu sorgen – und der ist nun mal abhängig von der finanziellen Potenz des Einzahlers.
Hier sollte man sich zudem die Implikationen einer stringenten vernunftbasierten Existenzweise bewusst machen: Vernunft abstrahiert, entmaterialisiert – entleiblicht sozusagen – Wirklichkeit und reduziert sie auf ein Zeichen, einen Begriff. Dieser Vorgang entspricht auch der Logik des Geldes. Es abstrahiert vom konkreten Leben hin auf ein allgemein anerkanntes Zeichen: den Preis. Damit suggeriert Geld Weltbeherrschung und Weltüberwindung und generiert so Zukunft – entleiblichte Zukunft in Form von Zahlen! –, das ein auskömmliches Leben bis hin zum Tode verspricht. Ist das nicht logisch? Ist das nicht rational? Ja, ist das nicht wunderbar?
Und handeln wir nicht schon lange in dieser Weise? Hat sich der Finanzkapitalismus nicht schon längst von der industriellen Produktion verabschiedet und kreiert nun sozusagen aus sich selbst heraus gigantische Renditen im virtuellen globalen Netz? Oder hat sich zum Beispiel die Sexualität nicht in zunehmendem Maße entmaterialisiert von ihrem ursprünglichen Inhalt: der natürlichen Fortpflanzung? Und haben sich entsprechend nicht immer mehr Menschen zusehends von traditionellen Gemeinschaftsformen wie Ehe und Familie emanzipiert und leben als allseits mobile, aber bindungsscheue Singles in recht komfortablen und virtuellen Verhältnissen?
Da mag es denn auch gar nicht mehr erstaunen, wenn einer hinter dieser typisch abendländischen Entwicklung das Christentum wittert: Jesus, der erste Single und Familienfeind, in dessen Nachfolge sich Tausende und Abertausende von Singles beiderlei Geschlechts befanden und befinden[1]. Als Anhänger des jungfräulich Geborenen blieben sie selbst jungfräulich und die sich aus dem Christentum entwickelnden Naturwissenschaften entwarfen Pläne jungfräulichen Gebärens. So stellt schon der Schüler Fausts, Wagner, seine Kreatur, Homunkulus, mit folgenden Worten vor:
„Behüte Gott! Wie sonst das Zeugen Mode war, erklären wir für eitel Possen.
Wenn sich das Tier noch weiter dran ergötzt,
So muss der Mensch mit seinen großen Gaben
Doch künftig höhern, höhern Ursprung haben.“[2]
Heute haben uns die Biowissenschaften diesem Ziel um einen gewaltigen Schritt näher gebracht. Wer sich nun unbedingt „jungfräulich“ und somit genetisch optimiert fortpflanzen möchte, dem bietet der Markt alles, was er dazu braucht: Von der Ei- und Samenspende bis hin zu mietbaren Leihmüttern – und das alles zu überschaubaren Preisen!
Andererseits: Konzentriert sich hingegen nicht unbewusst unser überwiegendes Bemühen immer mehr auf uns selbst und das Generieren von Geld und neuen Finanzdienstleistungen ganz im Dienste eines ewigen „immateriellen“, sozusagen eines jungfräulich sich selbst befruchtendes Wachstums?
Vernunft – Logik – Markt/Geld: Ist es nicht die neue Trinität einer wieder auferstandenen Fruchtbarkeitsreligion – diesmal in abstrakter, entleiblichter Form? Eine schöpferische De-Kreation, deren stetig steigender Verbrauch natürlicher Ressourcen – von Rohstoffen und „Humankapital“ nur noch in seinen numerisch-quantitativen Ergebnissen des Wachstums – der geldlichen Wertsteigerung (BIP), der Sicherung von Arbeitsplätzen und dem Erhalt unseres Lebensstandart zum Bewusstsein kommt und uns den Blick verstellt, dass wir auf diese Weise die „Natur“ unserer armen Erde „verfrühstücken“ und schreiendes Unrecht und tiefe Armut und Not in vielen Teilen der Welt produzieren? Letztendlich überwindet die Vision der „schönen neuen Welt“, die uns Politik, Ökonomie und Biowissenschaften in leuchtenden Farben als Erlösung von Krankheit und Alter an den Himmel malen nicht das existentielle christliche „Kreuzesparadox“, demnach für das Kommen neuen verheißenen Lebens für die „happy few“ einerseits auf der anderen Seite immer Hekatomben als Opfer „dran glauben müssen“. „Was ihr einem meiner geringsten Brüder angetan habt, das habt ihr mir angetan!“ (Mt 25). Aber ich vergaß: Glauben und Religion haben wir ja gerade glücklich entsorgt. Schlechte Gewohnheiten verliert man leider nicht so schnell!
Vom Ende der Schule
Unser Augenmerk fällt zum Ende auf die Schulen, diese traditionellen Marteranstalten kindlicher Seelen. Brauchen wir diese denn noch? Wozu noch lernen, wenn der befreite Geist einem alles „frei Haus“ liefert? Den Rest bekommt man doch schon seit langem bequem und ausführlich aus dem „world-wide-web“. War dies schließlich nicht das glückliche Ende jeder fortschrittlichen und aufklärerisch-liberalen Pädagogik? Ja, gibt es nicht bereits moderne pädagogische Konzepte, die in diese Richtung weisen – wie zum Beispiel „SOL“ (selbstorganisiertes Lernen), „LOL“ (Lernen ohne Lehrer) oder „EVA“ (eigenverantwortliches Arbeiten)? Die Parole lautet nun „Selbst-Kompetenz“ und „Selbst-Evaluation“, wodurch letztendlich das moderne pädagogisch-konstruktivistische Paradigma von der Selbstsozialisation aller Lernenden zu seiner Vollendung geführt wird. Wie war doch die neue Pädagogik ihrer Zeit voraus! „School’s out for ever! – Teachers, leave the kids alone! – Yeah!“
So erfüllte sich also die Aufklärung der Menschheit zur vollen Klarheit von Vernunft und Bewusstsein auf hirnchirurgischem Wege – sozusagen durch partielle Hirnamputation. Da hätte man wohl schon früher darauf kommen können! Aber ist es nicht ein Wunder? So klar war unser Bewusstsein noch nie! Kommt hier nicht endlich die Vision Lessings zu ihrer Erfüllung, so wie er sie in seiner „Erziehung des Menschengeschlechtes“ erzählte? Ja, gelangte hier nicht der Weltgeist Hegels letztendlich zu sich selbst und beendet damit jede weitere Dialektik eines in These und Antithese zerspalteten Dasein? Kein zerrissenes Leben mehr in Gut und Böse, in Gewinn und Verlust, in Angst und Begehren, in Freud und Leid, in arm und reich, in oben und unten, in Hunger und Durst, in Hass und Liebe und in Licht und Finsternis. Die Dualität, Paradoxie und Schizophrenie, der Antagonismus und Dualismus, ja diese undurchsichtige Absurdität allen Lebens wurde endlich überwunden und macht Platz einem neuen Sein in voller Identität. Die Vision eines neuen Reiches, wie sie Johannes in seiner Offenbarung sah, kommt uns in den Sinn:
„Es wird keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal mehr sein. Wer durstig ist, den werde ich umsonst aus der Quelle trinken lassen. Es wird keine Nacht mehr geben, und sie brauchen weder das Licht einer Lampe noch das Licht der Sonne. Denn siehe, ich mache alles neu!“ (Offb 21,4-6; 22,5)
Träumten wir von soviel Vernunft und Aufklärung nicht schon seit Hunderten von Jahren? Sollten wir nicht glücklich und zufrieden sein?
Oh ja! Selbstredend! Nur: Glücklich und zufrieden? Träumen? Bitte, was ist das?
Man ist geneigt an Zarathustra zu denken, den Nietzsche sagen lässt: „’Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?’ – so fragt der letzte Mensch und blinzelte.“
[1] Hans Conrad Zander, Der erste Single. Jesus, der Familienfeind, Gütersloh 2010; Peter Brown, Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperfeindlichkeit im frühen Christentum, München 1994; Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt/M. 1990.
[2] Johann Wolfgang Goethe, Faust II, VV.6843-47
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