Kindsein als Menschsein

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Beitrag zu einer integrativen theologischen Anthropologie

Monika Lutzius-Feigk
Christian-Bitter-Straß 2/1, 69126 Heidelberg

Friederike Franziska Spengler

Kindsein als Menschsein – Beitrag zu einer integrativen theologischen Anthropologie. Marburger Theologische Studien 88. Marburg 2005. 302 Seiten. 29,- Euro. ISBN 3-7708-1274-3.

Wir gehen für gewöhnlich davon aus, dass ein Mensch zwei Beine hat. Aus seinem aufrechten Gang hat sich ein evolutionärer Vorteil ergeben, weshalb wir auch im metaphorischen Sinne vom „aufrechten Gang” sprechen.

Keiner käme auf die Idee jemandem, der als Beinamputierter im Rollstuhl sitzt, sein Menschsein abzusprechen. Menschen haben in der Regel zwei Beine. Das Menschsein und seine Würde ist nicht an die Erfüllung bestimmter Eigenschaften gebunden, sondern gilt generell.

Wie kann man das Menschsein jedoch dann definieren, wenn es nicht bestimmte empirische Eigenschaften sind, die sein Wesen ausmachen? Man kann sagen, dass diese bestimmten Eigenschaften dem Menschen eben nur normalerweise zukommen oder man muß nach dem „überempirischen Wesen” des Menschen fragen, also letztlich metaphysisch. 

Das Problem ist, dass das Menschenbild dann oft in der Gefahr steht völlig unkonkret zu werden oder durch die Hintertür das Menschenbild doch wieder an bestimmte Eigenschaften oder Fähigkeiten gebunden wird. Die Grundsatzfrage ist dann, ob nicht aufgrund anthropologischer Kategorien bestimmte Menschen quasi schon in der Definition aus der Menschheitsgemeinschaft ausgeschlossen werden.

Es ist das Verdienst von Friederike F. Spengler in ihrer Arbeit „Kindsein als Menschsein. Beitrag zu einer integrativen theologischen Anthropologie” auf dieses Problem hinzuweisen und in ihrer spannenden Studie den Fragen nachzugehen: 

„Welche Antworten … gibt die theologische Anthropologie auf die Fragen nach den verschiedenen Modi des Menschseins? Woran können wir ablesen, dass Menschen „Menschen” sind? Kinder und Alte, Kranke und Behinderte, Frühgeborene und durch medizinische Apparate am „Funktionieren” Erhaltene…?” (XI) und: „Brauchen wir zur Integration von Menschen, die nicht über den Vernunftbegriff als Menschen zu definieren sind, eine neue theologische Anthropologie?” (XIIf)

Die Arbeit von Spengler erfüllt einen hohen Anspruch. Sie will keine „theologische Anthropologie des Kindes”, „…des alten Menschen” oder „…des Menschen mit Behinderungen” vorlegen, weil sie mit Härle und Herms davon ausgeht, dass wenn ein Begriff vom Menschen aller empirischen Analyse immer schon zugrundeliegt bzw. in ihr vorausgesetzt wird, dann kann er selbst nicht aus der empirischen Analyse gewonnen werden, sondern muss auf rein begrifflichem Wege bestimmt werden. Aber – und das sehe ich als die große Herausforderung, der sich die Arbeit stellt – „die notwendige Abstraktion (die selbst die ausführlichsten Beschreibungen menschlichen Seins noch bestimmen) darf nicht auf Kosten der Übertragbarkeit der Beschreibung auf das Kind, den jungen, den erwachsenen, den alten, den kranken, den behinderten … Menschen gehen. Das, was vom Menschen als Menschen vor Gott gesagt wird, muss sich stets auf die verschiedenen Modi beziehen lassen. Umgekehrt tragen die verschiedenen Modi auch ihre Besonderheiten im Blick auf die Beschreibung des Menschen vor Gott ein. Erst ein solcher lebendiger Austausch vermag die Vielgestaltigkeit menschlichen Seins angemessen zur Geltung zu bringen.” (XIII)

In ihrer Arbeit mustert Spengler zunächst wichtige theologisch-anthropologische Entwürfe des 20. Jahrhunderts. Emil Brunner, Karl Barth, Dietrich Bonhoeffer und Wolfhart Pannenberg werden kritisch untersucht. 

Für Brunner wird resümiert, dass trotz seiner offenen, alle Modi des Menschseins umfassenden Anthropologie letztlich doch das Menschsein von Säuglingen, Kindern und Menschen mit geistiger Behinderung infrage steht, weil bei ihm das spezifisch Menschliche in der Entwicklung erst hinzukomme. (19) 

In der Betrachtung Bonhoeffers wird interessanter Weise auch auf eine frühe Seminararbeit, die er 1926 bei Karl Holl einreichte, bezug genommen. Spengler fasst zusammen: „Der Glaube kommt jedem Menschen, hier konkret dem Säugling oder (Klein-) Kind, von außen zu und wird unabhängig von dessen (intellektuellen) Fähigkeiten gewirkt.” (22) In Bonhoeffers Habilitationsschrift „Akt und Sein” werde das Kind schließlich zum „Repräsentanten des neuen Seins des Menschen” zum „Sein in Christus” gemacht. (36)

An Pannenbergs Anthropologie wird hervorgehoben, dass er einen im Kontext moderner Wissenschaften kommunizierbaren Entwurf vorlege, dass jedoch das an verbale Aussagefähigkeit gebundene Verständnis von Personalität Anlass zu kritischen Fragen gebe. (96)

Für mich am spannendsten war in diesem systematischen ersten Hauptteil der Arbeit Spenglers genaue Untersuchung von Barths Tauflehre in der „Kirchlichen Dogmatik, IV/4″. Gemeinhin wird Barths späte Tauflehre als eine Art reformierter revolutionärer Befreiungsakt gesehen, mit dem sich der alte Professor mit einem Paukenschlag aus der akademischen Welt verabschiedet hat. Eindrücklich stellt sie die problematischen Seiten seines Taufverständnisses dar. Es wird gezeigt, dass Barth den Ursprung der Säuglingstaufe in kirchenpolitischen Grundsatzentscheidungen sieht, demgegenüber will er ein theologisches Taufverständnis vorlegen, dass nun aber seinerseits entgegen seinem Anspruch auch von kirchenpolitischen Leitgedanken initiiert ist. Seine Identifikation von „Schlaftaufe” und „Schlafkirchlichkeit” führt ihn dazu, die Taufe als Sakrament in Frage zu stellen, wenn nämlich aus der Taufe als effektivem Handeln Gottes ein menschliches Tun wird: „Barths Tauflehre bietet der Taufe von Säuglingen, Kindern, geistig Behinderten und anderen nicht im Vollbesitz geistiger Kräfte stehenden Menschen keinen Platz, weil dieselben die Antwort auf den Anruf Gottes nicht in nachvollziehender Weise leisten können. Die Taufe mit Wasser ist für Barth ein kognitiver Vorgang. Ausgeschlossen sind davon alle Modi des Menschseins, die zu diesem nicht in der Lage sind.” (69)

Der zweite Hauptteil von Spenglers Studie arbeitet exegetisch. Grundlinien der Stellung des Kindes im Alten und Neuen Testament werden untersucht. Präzisen Begriffsanalysen folgen Darstellungen exemplarischer Texte über Kinder. Herausgearbeitet wird dabei „wer über das Kind redet … redet immer auch über das Menschsein.” (134) Ohne das Kind im Blick zu haben, müsse jedes Reden über das Menschsein fragmentarisch bleiben. Dieser Hauptteil bietet viele gute Beobachtungen, die auch in praktisch-theologischer Hinsicht in der Predigtvorbereitung ihren Platz finden können.

Der dritte Hauptteil stellt mit der Darstellung von „Luthers Lehre der fides infantium in der Kindertaufe” der Höhepunkt der Arbeit dar. Die Pointe des Nachvollzugs der Gedanken Luthers liegt darin, „dass erwachsene Christen das Kind in dem Glauben zu Gott bringen, dass er ihm einen eigenen Glauben in der Taufe schenkt.” (209) Weder glauben also die Erwachsenen stellvertretend für das Kind, noch bedarf es einer rationalen Einholung des Geschehens durch die Vernunft des Kindes (bzw. erwachsenen Täuflings). 

Ein etwas längeres Zitat verdeutliche den Ansatz von Spenglers Lutherdeutung: 

„Für Luther ist der Mensch vor Gott immer ein Werdender, nie ein Seiender. Diese allgemein-anthropologische Einsicht in das Sein des Menschen wird in der Kindertaufe geradezu idealtypisch abgebildet: Auch wenn wir mit einem Glauben in den zur Taufe gebrachten Kindern und Säuglingen rechnen dürfen, die Taufe geschieht nicht auf den Glauben derselben hin. Das Festhalten an der Gebotenheit durch Gott als alleinige Legitimation dieser Praxis und das gleichzeitige Insistieren auf den Glauben anderer, auf den nicht nur ein Kind, sondern jeder Mensch als Teil am Leibe Christi angewiesen ist, entspricht Luthers Wirklichkeitsverständnis des Menschen vor Gott. Die Gesamtbestimmung des als relational Verwiesener, Angewiesener auf Gott – und unter den Bedingungen der Welt auch auf den Glauben der christlichen Gemeinde – erhält in der Kindertaufe geradezu ihr Modell. Hier, und das zeichnet dieselbe noch einmal aus, ist jedes habituelle Verständnis des Glaubens ausgeschlossen. Der Blick auf die ontologische Verortung des Menschen, wie sie von Luther beschrieben ist, führt so geradewegs in die Praxis der Kindertaufe hinein.” (223)

Mit anderen Worten die fundamentalanthropologische Bedeutung der Taufe besteht in ihrer soteriologischen Begründung und ihrer ekklesiologischen Konsequenz. Am Taufverständnis entscheidet sich die Frage, ob es einer theologische Anthropologie gelingt, wirklich integrativ zu sein. 

Spengler fasst ihre Untersuchung in drei Thesen zusammen, die jeweils ausführlich begründet werden:

1.) Das Kind ist Modell des empfangenden Menschen. „Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, wird nicht hineinkommen.” (Mk 10,15) (249ff)

2.) Das Kind ist Modell des fragenden Menschen. „Das Kinder groß werden, merkt man daran, dass sie anfangen, Fragen zu stellen, die man beantworten kann.” (Erich Kästner) (253ff)

3.) Das Kind ist Modell für den im Werden seienden Menschen. „Wenn ihr nicht werdet, wie diese Kinder (jetzt) sind.” (Mt 18,3b) (256ff)

Unter These zwei zieht Spengler in vier weiteren Thesen auch Konsequenzen ihrer Überlegungen für den Religionsunterricht:

a) Religionsunterricht sollte von Langsamkeit als zeitbezogene Gelassenheit sowie von Vieldeutigkeit als inhaltsbezogener Gelassenheit geprägt sein und so weite Räume für die menschliche Entwicklung öffnen.

b) RU müsste Fragen der Kinder wahrnehmen und kultivieren.

c) RU sollte nicht das Bescheidwissen, sondern das Vergegenwärtigen, die Nachdenklichkeit und das Weiterfragen zum vorrangigen Ziel erklären.

d) RU sollte nicht die Beherrschung und Einordnung von Wissen anstreben, sondern die Intensivierung von Wahrnehmung, Erfahrungen und Gedanken und auf diesem Weg die Einwurzelung in die Lebenswelt.

Vielleicht sind die Thesen, die ein „Nicht-Sondern” formulieren weniger als Alternativen, denn als Ergänzungen zu betrachten. Ich würde nämlich (als Konsequenz der Diskussion um Bildungsstandarts) eher sagen: Bescheidwissen, nicht ohne Nachdenklichkeit oder Einordnung von Wissen, nicht ohne Intensivierung von Wahrnehmung, aber das stellt nicht die wichtige Herausforderung, die Spenglers Buch auch für die religionspädagogische Arbeit bereithält in Frage. Wie läßt sich integrativ Denken, ohne durch die Hintertür wieder bestimmte Fähigkeiten zum Beurteilungskriterium für die menschliche Gotteserkenntnis zu machen. Überhaupt zeigt das Buch, dass wir wieder viel stärker die theologische Aufgabe zu bewältigen haben, auf so etwas wie eine ontologische Gewißheit zu vertrauen. Wenn wir uns sicher sind, dass Gott selbst zu den Herzen der Menschen spricht und er sich uns als menschlicher Werkzeuge bedient, um andere Menschen zu erreichen, dann kann der Modus dieser Zuwendung sehr vielfältig sein: Blick, Rede, Nähe oder anderes kann zum irdenen Gefäß für den Reichtum Gottes werden, der Menschen in verschiedenen Modi ihres Lebens dargeboten wird.

Wie aus dem Dargestellten gesehen werden kann, halte ich die Arbeit für einen sehr wichtigen Beitrag zur Erweiterung anthropologischen Fragens in der Theologie, jedoch könnte die Ausarbeitung an einem Punkt noch an Durchschlagskraft gewinnen, wenn nämlich die Leistung Schleiermachers für eine integrative Anthropologie noch herausgearbeitet würde. Sein Ansatz beim unmittelbaren Selbstbewußtsein, das im Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit seine Beziehung zu Gott erfährt, öffnet Tür und Tor für ein Verständnis des Menschen, dessen Rationalität ihn nicht gläubiger und dessen Moralität ihn nicht frömmer macht.

Für mich gibt es keinen besseren Satz für eine integrative Theologie als der wunderbare Satz aus den „Reden”: „…alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion;… “

Ich bin gespannt, wie Friederike Spengler an dem Thema weiterarbeitet, zunächst aber bin ich einmal dankbar für eine theologische Arbeit, die an der Zeit war.

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