Dr. Michael Gärtner
Lutherstraße 1. 67059 Ludwigshafen
Ulrike Wagner-Rau: Auf der Schwelle. Das Pfarramt im Prozess des kirchlichen Wandels, Stuttgart (Verlag Kohlhammer) 2009, 144 Seiten, 18,00 Euro.
„Das Ziel dieses Buches ist es, die Kontur des Pfarrberufs und seiner Aufgaben im Zusammenhang der Debatte um die Veränderung der Kirche zu schärfen“ (13). Ulrike Wagner-Rau möchte keine neue Vision des Pfarrberufes entwickeln, sie möchte die derzeitige Realität des Wandels von Kirche und Pfarrberuf einerseits und pastoraltheologische Visionen andererseits miteinander ins Gespräch bringen. Heraus kommt die Definition: Auf der Schwelle. „Die Schwelle – das ist auch der Raum zwischen Innen und Außen, der von dem Pfarrer und der Pfarrerin als spezifischer Ort aufmerksam wahrgenommen werden muss“(7).
In sechs Kapiteln nähert sie sich ihrem Ziel. Um es gleich vorwegzusagen: Die große Stärke dieses Buches liegt in seiner klaren Sprache und seinem ausgewogenen Urteil. Wagner-Rau nimmt die wichtigsten Veröffentlichungen zur Pastoraltheologie auf (Barth, Bonhoeffer, Dahm, Gräb, Grözinger, Hermelink, Josuttis, Karle, Klessmann, Lange, H. Luther, Pohl-Patalong, Rössler) und bringt sie mit den Untersuchungen zu den besonderen Kennzeichen und Belastungen des Pfarrberufs sowie den im Umkreis des EKD-Papiers „Kirche der Freiheit“ veröffentlichten ekklesiologischen Konzepten ins Gespräch. Dies geschieht in einer wohl abgewogenen und konstruktiven Weise.
In dem Kapitel „Der Pfarrberuf – Verständnis und Problemanzeigen“ nimmt sie von Manfred Josuttis positiv auf: „Dass der Pfarrer als Geistlicher erkennbar ist – auch sich selbst –, die Pfarrerin durch ihr Amt auch eine ‚andere’ Wirklichkeit repräsentiert, ist ein zentraler Aspekt des Pfarrberufes“ (19). Mit Isolde Karle ist ihr wichtig: „Der Pfarrer/die Pfarrerin begleitet eine berufliche Rolle, in der die Persönlichkeit zwar große Bedeutung hat, die Rolle aber auch unterstützende Funktionen für die Person bereit hält“ (20). Mit Michael Klessmann betont sie: „Wichtig…ist die Aufmerksamkeit für die im Pfarrberuf unverzichtbare Entwicklung kommunikativer Kompetenz, die eine bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Person, ihrer Geschichte und ihrem Glauben einschließt“ (21).
Im Weiteren stellt sie die „Spannungen im Pfarrberuf“ dar (22ff). Diese sind gekennzeichnet durch hohen Druck bei wenig Struktur. Aus diesem Grund braucht ihrer Meinung nach jede Pfarrerin und jeder Pfarrer „kollegiale Beratung und Austausch, Supervision, differenzierte Rückmeldungen durch Gemeindeglieder und Vorgesetzte, die als eine Qualitätskontrolle im Sinne einer realistischen Einschätzung der eigenen Arbeit und ihrer Perspektiven fungieren“(28).
Ein weiteres Kennzeichen des Pfarrberufes ist „faktische Diffusion – erwünschte Konzentration“ (29ff). Das Feld der Aufgaben ist schier unbegrenzt, die Anforderungen von Seiten der Kirchenleitungen, besonders der EKD, verstärken dies. „So wird immer deutlicher, dass Pfarrerinnen und Pfarrer sehr genau wissen müssen, wie sie ihr Tätigkeitsfeld konturieren wollen. Diese Notwendigkeit steht aber im Widerspruch zu dem Eindruck, den sie selbst haben: Dass sie nicht in ausreichendem Maß zu dem kommen, was wichtig ist“ (31).
Mit „Ungleichzeitigkeiten“ überschreibt sie ihr drittes Kapitel (35ff). Es geht um den kurzfristigen Wandel im Pfarrberuf kombiniert mit einer langfristigen Traditionsfindung, um mehr Interesse an Religion bei gleichzeitig weniger Kirchlichkeit, sowie einer Kirche mit sehr verschiedenen lokalen Situationen und Bedürfnislagen, die einige eigene Ausprägungen des Pfarrberufes je nach Situation erfordern. „Aufmerksam wahrnehmen – reflektiert gestalten“ (59ff), so überschreibt sie den Abschnitt, in dem sie Akzente setzt wie die Bedeutung des Blicks des Einzelnen für das Ganze, die Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft im Pfarrberuf sowie die theologische Reflexion der Veränderungen. Mit „Trauer, Wut Schuld und die Lust zur Veränderung“ (63ff) charakterisiert sie abschließend die Situation der Pfarrerinnen und Pfarrer.
„Begrenzte Möglichkeiten – Möglichkeiten der Grenze“ ist das Kapitel Vier überschrieben (73ff). Es ist ihr wichtig „realitätsgerechte Perspektiven zu entwickeln, vorhandene Möglichkeiten wahrzunehmen und zu nutzen und sich mit bestehenden Grenzen auszusöhnen“ (73). Die Kategorie des Wachstums, die in der Unternehmenslogik leitend ist, darf ihrer Meinung nach im Zusammenhang kirchlichen Lebens nicht grundlegend als Zielsetzung fungieren.“ Die Grenze ist im theologischen Verständnis der Wirklichkeit ein zentraler Topos: …“ (75).
Wagner-Rau diskutiert das Konzept der Volkskirche von Wolfgang Huber sowie die Ergebnisse der jüngsten Mitgliedschaftsstudien und kommt unter anderem zu dem Ergebnis: „Die Verfeinerung der Wahrnehmung ermöglicht insgesamt keine eindeutige Handlungsorientierung. Teilweise führt sie im Gegenteil zu einer präziseren Beschreibung von Paradoxien, die zu kennen das Handeln erschwert“ (80). Vielmehr wird es darum gehen, die vorhandenen Grenzen der kirchlichen Arbeit und ihrer Ambivalenzen zu akzeptieren. Für den Gottesdienstbesuch heißt dies z. B.: „Vielerorts wird es kaum möglich sein, die Zahl der Gottesdienstbesucher deutlich zu erhöhen. Ein naheliegender Schritt ist es deshalb, auf die kleinen Zahlen von Menschen so zu reagieren, dass der Gottesdienst für alle Beteiligten nicht nur erträglicher, sondern schön und befriedigend wird“ (87).
Anschließend setzt sie sich mit dem Begriff Mission auseinander und stellt fest, dass sich in der Debatte kein einheitliches Verständnis von Mission zeigt. Die vielerorts vorhandene Wachstumsorientierung sieht sie kritisch, weil der Trend der Mitgliederentwicklung in den Kirchen nur zu einem geringen Teil aus dem Handeln der Kirche selbst resultiert und deshalb auch nur begrenzt durch das kirchliche Handeln zu beeinflussen ist. „Insgesamt erscheint es viel versprechender, das Wachstum als Zielsetzung kirchlicher Orientierung nicht über Gebühr zu strapazieren, sondern die Frage zu akzentuieren, wie die Kirche ihre Zuversicht und ihre öffentliche Ausstrahlungskraft nicht verliert, obwohl sie kleiner wird“ (93). Sie plädiert deshalb dafür, das missionarische Wirken der Kirchen nicht in den Vordergrund ihres Handelns zu stellen. Viel mehr geht es darum, die Aufmerksamkeit für die Ränder und die Grenzen zu schärfen, gezielt Schwellenbewusstsein zu entwickeln (94).
Unter der Überschrift „Kulturen der Gastfreundschaft“ sucht sie im fünften Kapitel (97ff) nach einem neuen Leitbild für eine pastorale Praxis. Sie greift damit ein Bild auf, das Rolf Zerfaß bereits in seiner Seelsorgelehre (Menschliche Seelsorge. Für eine Spiritualität von Priestern und Laien im Gemeindedienst, Freiburg 1985) verwendet hat. Dabei geht es darum, nicht nur gastfreundlich zu sein, sondern sich selber auch als Gast wahrzunehmen. Im Gegensatz zum Leitbild Mission vermittelt das Leitbild Gastfreundschaft eine größere Flexibilität und Offenheit. „Während die Mission eine deutliche Bewegungsrichtung hat, nämlich hinauszugehen in die Welt, um hineinzuziehen in die Gemeinschaft der Kirche, schwingen in der Gastfreundschaft die Türen in beide Bewegungsrichtungen: Man kann eintreten und es besteht keine Erwartung, dass man bleibt“ (99).
Gastfreundschaft wird exemplarisch deutlich im Abendmahl, bei dem die Pfarrerinnen und Pfarrern zuständig dafür sind, dass der Tisch schön gedeckt wird, ähnlich wie die Jünger Jesu den Raum für das letzte Mahl vorbereitet haben. Die Last des Gastgebers tragen sie jedoch nicht – denn der Gastgeber ist Gott. Zugleich bedeutet Gastfreundschaft als Leitbild jedoch auch, dass man sich zum Gast in fremden Häusern macht, also hinaus geht, Menschen gezielt aufsucht und Kontakte aufbaut zu denen, die nicht zur Kirchengemeinde gehören, aber wichtige Stimmen des öffentlichen Lebens repräsentieren (111).
Wagner-Rau strebt letztlich keine essentielle Veränderung des Pfarrberufes an, sondern allenfalls eine Akzentverschiebung. Dies wird im letzten Kapitel ihres Buches „Auf der Schwelle“ (119ff) deutlich. Das Pfarramt als öffentliches Amt erfordert, dass Pfarrerinnen und Pfarrer sowohl die Innen- als auch die Außenperspektive auf Theologie und Glauben wahrnehmen können. Das Amt ist ein vermittelndes Amt, das kenntnisreich, liebevoll und kritisch die Schätze der christlichen Tradition mit den Herausforderungen des Alltags in Verbindung setzt. Dazu gehört, dass diejenigen, die ein geistliches Amt innehaben, bereit sind, sich, „durch gezielte Rückmeldung und Fortbildung immer wieder neu zu orientieren und zu lernen“ (125).
Die Balance von Nähe und Distanz zur Gemeinde gehört elementar dazu. „Pfarrer und Pfarrerinnen tun also gut daran, nicht zu viel regeln und ordnen zu wollen und stattdessen mehr auf die Förderung der Begegnung und des Austausches um die Schwelle herum zu setzen“ (129). Wagner-Rau weist auf die hohe Verantwortung der Pfarrerinnen und Pfarrer für eine konstruktive Bearbeitung der Krise in Gemeinden und Kirche hin, um abschließend unter den Überschriften: „Begrenztes und vernetztes Amt“ (132f) und „Geistliches Amt“ (134ff) darauf hinzuweisen, dass man als Pfarrerin und Pfarrer auch immer wieder beruhigt sich zurückziehen kann, um für sich und Gott alleine zu sein, um auf den unvermeidbaren Wüstenwegen nicht die Orientierung zu verlieren.
Das Buch von Ulrike Wagner-Rau bietet sowohl pastoraltheologische und kirchentheoretische Reflexion als auch seelsorgerlich geprägte Orientierung für den Alltag einer Pfarrerin und eines Pfarrers. Von daher ist es – auch wegen seines begrenzten Umfanges (144 Seiten) – ein sehr lesenswertes Buch.
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