Christliche Anthropologie und Systemische Schulseelsorge

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Dr. Dirk Kutting

Hermann-Ehlers-Straße 10a, 55124 Mainz

„Nicht ist es gut,

Seellos von sterblichen

Gedanken zu sein. Doch gut

Ist ein Gespräch und zu sagen

Des Herzens Meinung, zu hören viel

Von Tagen der Lieb´,

Und Taten, welche geschehen.“

(Hölderlin, Andenken)

1. Entwicklung und Reife als Ziel menschlichen Personseins: Endlichkeit

Wenn Schulseelsorge-Weiterbildung handlungsorientierend sein will, dann muss man fragen, welches Ziel Seelsorge mit Schülerinnen und Schülern überhaupt haben soll. Ja, man muss sogar noch weiter fragen: Welches Ziel hat menschliches Leben überhaupt? Das Ziel kann eigentlich nur in der Reifung der Person, in der Annahme von Werden und Vergehen ihrer Lebenszeit, liegen. Mit anderen Worten besteht die Aufgabe eines jeden menschlichen Lebens darin, im Bewusstsein der eigenen Endlichkeit zu reifen. Reif sind wir, wenn wir uns und unser Vergehen als einen Prozess begreifen können, in welchem uns gleichermaßen Kraft und Schwäche gegeben ist, in welchem wir gleichermaßen Freiheit und Abhängigkeit erleben. Das Leben bewusst und aktiv gestalten und ebenfalls (paradox formuliert) bewusst und aktiv erleiden können, darin liegt Segen. Der Grad der Reife hängt davon ab, in wie fern wir realisieren, dass wir in diesem Prozess nicht nur selbstbewusste, freie, handelnde Subjekte sind, sondern zunächst und vor allem dieser Reifungsprozess eine Gegebenheit ist und wir diesem Werden also überlassen sind. Meinem Verständnis von dieser Reifungs-Aufgabe habe ich den Namen „heilsameResignation“ gegeben. Dieses Wort möchte festhalten, dass unsere Vorstellung von unserer individuellen Handlungsmacht „gekreuzigt“ werden muss. Resignieren muss die Vorstellung, die Welt aus den Angeln heben zu können. Reif kann eine Person erst dann werden, wenn sie sich selbst nicht mehr als Grund ihrer Freiheit betrachtet und die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit anerkennt. Heil werden wir, wenn wir unser Leben in seiner Endlichkeit ergreifen, wie man ein Geschenk erfasst: Wir reißen es nicht gierig an uns, sondern nehmen es vorsichtig in Empfang. Wir sind der Endlichkeit als Gabe überlassen, dürfen darin Endlichkeitsgestalten (z.B. Ehe, Familie, Beruf, aber auch alle Varianten in Kunst und Kultur, Sport und Spiel) realisieren, werden uns selbst aber nicht aufgrund irgend einer dieser Endlichkeitsgestalten erlösen.

Heilsame Resignation liegt in der liebenden Annahme des Vergehens alles Irdischen. Das Kreuztragen ist für Christen der Weg zum Leben, ein heroischer Kampf den Weg der Endlichkeit zu gehen, der sich durch Verausgabung auszeichnet.

Christ sein heißt, das Leben in der Vergänglichkeit, das Kreuztragen als Bewegung, zu lieben. Genau das führt zum Ziel: Hier zur Reife, die tapfer alle Erdenschwere liebt. Dort zum ewigen Leben, in dem alle Schwere abgelegt sein wird und Leichtigkeit Raum greift.

Was das mit dem zumeist jugendlichen Alter unserer Schüler zu tun hat, liegt auf der Hand. An der Schwelle zu Reifungsstufen und neuen Entwicklungsschritten lauern immer Krisen. Die Kindheit spricht, „verbleibe doch, du bist so schön!“ Das Erwachsenenalter fordert, „komm, werde der du sein sollst!“ Beide Stimmen werden wahrgenommen und gehört, auch ohne besondere Beschwernisse, die auftauchen können. Manchmal schockartig verstehen Jugendliche, dass sie nicht mehr die sind, die sie einmal waren und dass sie auch nicht bleiben werden, die sie jetzt sind.

Die Vertreibung aus dem Paradies wird reinszeniert: Es wird vom Baum der Erkenntnis gegessen. Der Baum des Lebens wird gesucht. Das Begehren wird entdeckt. Verzweifelt wird nach der fehlenden Hälfte gefahndet. Ängstlich hält man sich verborgen und will sich nicht finden lassen. Größenwahn und tiefe Ohnmacht wird erlebt. Alles hat Sinn und Bedeutung und verliert sich im Nichts. So nehmen Jugendliche im Besonderen an der Entwicklungsaufgabe aller Menschen teil: Im Bewusstsein der eigenen Endlichkeit zu reifen.

Die besondere Schwierigkeit von Jugendlichen, Reifungsschritte zu gehen, liegt in einer besonderen Hemmung begründet. Jugendliche kennen Erwachsene, sie wollen selbst erwachsen werden und wollen dürfen, was diese dürfen. Jugendliche kennen Erwachsene, sie wollen selbst erwachsen werden, ohne jedoch die Kosten des Erwachsenenalters zu bezahlen. Die Kosten des Erwachsenenalters muss man aber bezahlen: Jede Entscheidung kostet den Ausschluss anderer Möglichkeiten. Wähle ich Susi, ist Bibi vielleicht traurig und ich auch, weil ich Bibi vor den Kopf stoße. Jede Verwirklichung bedeutet immer auch Vernichtung von Möglichkeit. Das merken und spüren Jugendliche, sie spüren die nicht-heilsame Resignation mancher Eltern, die eventuell geschieden sind und für die vielleicht der Vater nur mehr der „Arsch“ und die Mutter nur mehr „die Ziege“ ist. Aber auch wenn es ganz normal und gut läuft, spüren Jugendliche, dass es auf dem Weg zum Erwachsenen kein zurück gibt. Jede Entscheidung vernichtet Unverbindlichkeit. Rumhängen und entscheiden gehen nicht Hand in Hand. Wenn man begreift, dass Gelegenheiten immer auch einmalige Gelegenheiten sind, dann macht dies Angst. Jede Handlungssituation scheint mit der Frage von alles oder nichts aufgeladen zu sein. Dann lieber gar nichts realisieren als etwas falsches. Ein Gefühl von Ohnmacht breitet sich aus. Wenn alle (Eltern und Freunde) zuschauen, wenn ich etwas machen will, dann lasse ich es lieber sein. Bevor ich mich an eine Person binde, halte ich mich lieber an meinem Surfbrett fest. Bevor ich heraus gehe und vom Surfbrett falle, surfe ich lieber im Internet. Es bedarf demnach schon eines besonderen Mutes, um jenseits des Paradieses die Endlichkeit anzunehmen und im „Schweiße sein Brot zu essen“. Hilfreich wäre es, sich dabei von Gott freundlich begleitet und angeblickt zu wissen.

2. Körper und Seele im Verständnis christlicher Anthropologie: Leibhaftigkeit

Die Philosophie weist eine lange Geschichte der Frage nach dem Verhältnis von Körper und Seele auf. Nietzsche verdächtigte das Christentum beispielsweise, den Platonismus nicht losgeworden zu sein und dualistisch den Körper der Vergänglichkeit anheim zu geben, um die Unsterblichkeit der Seele zu retten. Recht hat er, wenn nicht bei Paulus und Luther in die Schule gegangen wird und Körper und Seele als zwei Grundkomponenten der Menschlichen Natur verstanden werden. Mit Paulus und Luther betrachtet evangelische Theologie jedoch Körper und Seele bzw. Geist als die beiden wesentlichen Verhaltensdimensionen der menschlichen Existenz. [1]

Körperliches Sein („Fleisch“) und geistliches Sein („Seele“) sind bei Luther nicht zwei Substanzen, sondern zwei Grundrelationen, womit ein gleichursprüngliches Sich-Verhalten zur Welt und zu Gott gemeint ist. [2] Körperlich verhält sich der Mensch zur Welt, in dem er ihr seine Nahrung nimmt (z.B. als naturnah wandernder Jäger und Sammler) oder raubt (z.B. als kulturschaffender sesshafter Ackerbauer und Viehzüchter). In seinem Wirtschaften verhält sich der Mensch physisch zur Welt. Körperlich verhält sich der Mensch ebenfalls zur Welt, in dem er zur besseren Sicherung seiner Reproduktion soziale Institutionen wie Ehe und Familien schafft und das Zusammenleben in sozialen Gemeinschaften rechtlich regelt. Auch die Entwicklung von Recht und Ordnung ist demnach ein physisches Verhalten zur Welt.

Im Unterschied dazu verhält sich der Mensch zu sich selbst „psychisch“. Geistliches Sein meint immer in ein Selbstverhältnis zu treten, nämlich über sich und sein Verhalten nachzudenken oder nach sich und seinem Tun zu fragen. Verhält sich der Mensch zu sich selbst, wird er in die Frage nach seiner Existenz getaucht. Er fragt nach seinem Woher, nach seinem Wohin und seinem Weg. Und: Immer wenn der Mensch sich in seinem Selbstverhältnis erkennt, wenn er nach seiner Existenz fragt, taucht die Frage nach dem Grund seiner Existenz, also nach Gott (und der Anerkennung oder nicht Anerkennung Gottes des Schöpfers) auf.

Diese Gedanken mögen abstrakt klingen und man mag auch nach deren Handlungsrelevanz fragen. Vielleicht lässt sich das ganze auch leichter verständlich formulieren. Jedoch hat ein Verständnis dieser Zusammenhänge eine enorme Gegenwartsbedeutung, wenn man nur an Selbstmordattentäter denkt, die meinen, selbst mit Gewalt den Grund der Erlösung legen zu können. Sie haben nämlich kein emotionales oder begriffliches Verständnis davon, dass mit unserem körperlichen und seelischen Verhalten sehr unterschiedliche Freiheiten und Abhängigkeiten gegeben sind. Hierauf müssen wir jetzt schauen.

Die körperliche Dimension der Abhängigkeit zeigt sich in vielen Begrenzungen, denen wir ausgeliefert sind. Jedoch gilt es gleichfalls die Freiheitsmomente festzuhalten, wie die Möglichkeit handelnd auf unsere natürliche und soziale Wirklichkeit einzuwirken. Trotz aller Abhängigkeit eröffnet sich in unserem Weltverhalten ein Spielraum endlicher (begrenzter) Freiheit. Der Weltbezug ist getragen von der Gleichzeitigkeit von relativer Freiheit und relativer Abhängigkeit. Keine private Entscheidung, z.B. eine bestimmte Person zu heiraten und Kinder zu bekommen hat eine absolute, d.h. erlösende Reichweite, auch wenn dies ein sinnvoller Vollzug einer Endlichkeitsgestalt ist. Gleichfalls hat jede wirtschaftliche oder politische Option jeweils nur eine relative und keine absolute Vorzüglichkeit vor anderen Optionen. Luther fasst die endliche Freiheit, die sich in unseren körperlichen Handlungsvollzügen zeigt, daher als „dienstbarer Knecht und jedermann untertan sein“ zusammen. Endliche Freiheit realisiert sich demnach in z.B. einander bindender Nächstenliebe.

Auch in der geistigen Grunddimension menschlichen Verhaltens zeigt sich eine Gleichzeitigkeit von Freiheit und Abhängigkeit. Diese betrifft aber nicht einzelne Handlungsmöglichkeiten, sondern unsere Gesamteinstellung zum Leben und seinem Ursprung. Wir sind schlechthinnig abhängig von unserem Schöpfer (weil wir sonst nicht leben würden) und frei die Situation des Geschöpfes anzunehmen oder zu bezweifeln. Die glaubende Annahme dieser Art schlechthinniger Abhängigkeit bezeichnet Luther denn auch „als freier Herr und niemand untertan sein“. Schlechthinnige Abhängigkeit realisiert sich demnach in befreiender Gottesliebe, die der Grund unserer Selbstannahme ist.

Von „Leibhaftigkeit“ würde ich sprechen, wenn beide Dimensionen unseres Verhaltens eine zielstrebige Einheit bilden, wenn nämlich der Mensch sich in seinem physischen Weltverhalten und in seinem psychischen Verhalten zu sich selbst dem schöpferischen Verhalten Gottes zu ihm sich hingibt.

Die Zielstrebigkeit ist darin gegeben, dass wir als leibliche Wesen wie wir schon gesehen haben zum Reifen bestimmt sind. Wir sind die zielstrebige Einheit unseres leibhaften (körperlich-geistigen) Lebens. Dies ist uns darin erschlossen, dass wir es erleben und in dem Erleben uns selbst innewerden und in der Durcharbeitung dieses Grunderlebnisses als Person eben reifen.

Evangelische Theologie bezeichnet als Sünde die fundamental verkehrte Selbsteinschätzung, selbst der Grund seiner Freiheit zu sein. Dies führt zu einer Verkehrtheit der gesamten Lebensführung, die denkt, ich habe mir alles selbst verdient. Evangelische Theologie behauptet darum weiterhin, dass es einer leibhaften Begegnung mit Jesus Christus bedarf, um die falsche Selbsteinschätzung zu überwinden, damit wir uns in unserer Geschöpflichkeit unverfälscht wahrnehmen können und zu wissen, alles ist unverdiente Gabe, ja, unverschämtes Glück.

Leibhaftig ist unser Leben, das die Endlichkeit annimmt, leibhaftig ist unser Auferstehen, wenn wir mit unserem ganzen gelebten und ungelebten Leben vor das Angesicht Gottes treten.

3. Seelsorge mit Schülerinnen und Schülern: Übergangsgeleit

Wenn wir ein Verständnis von Reife haben, wenn wir ein Verständnis ihrer Hemmung haben, dann kann Seelsorge mit Schülerinnen und Schülern nur darin bestehen, ihnen entwicklungsfördernd zu begegnen.

Hierbei helfen ein paar entlastende Erkenntnisse und hilfreiche Abgrenzungen: Der Psychoanalytiker Donald Winnicott weiß: „Die Kur für die Adoleszenz liegt im Verstreichen der Zeit und muss dem allmählichen Reifungsprozess überlassen bleiben; beides zusammen führt am Ende zur Entstehung des erwachsenen Menschen.“ [3] Entlastend ist diese Erkenntnis, weil sie deutlich macht, dass die meisten Probleme von Jugendlichen einen Episoden-Charakter haben. Die meisten dieser episodenhaften Krisen vergehen mit und ohne unser Zutun im Entwicklungsprozess selbst. Auch wenn wir uns in unserem Tun im Umgang mit Jugendlichen immer wieder ohnmächtig fühlen sollten, die Zeit ist mächtig und oft heilsam. Die meisten Krisen im Jugendalter haben einen Anfang und ein Ende.

Weiterhin entlastend ist die Erkenntnis, dass die meisten Probleme nicht hier und heute gelöst werden müssen. Die meisten Probleme haben eine gewisse Dauer, daher können wir unsere Handlungsnot ertragen und nicht in Aktionismus verfallen. Wir müssen es akzeptieren, wenn ein missbrauchtes Mädchen nicht will, dass wir zum Jugendamt gehen. Annette Diehl vom Notruf für vergewaltigte Frauen sagte in einer Fortbildung. „Es ist wichtig, dass Ihnen vertraut wird, dass in Ihnen jemand gefunden wird, mit dem man reden kann. Ein Gang in eine Beratungseinrichtung oder gar zum Staatsanwalt findet oft erst Jahre später statt, manchmal auch nie.“

Hilfreiche Abgrenzungen: Schulseelsorge ist keine tiefenpsychologische Therapie: Persönlichkeitsänderungen brauchen einen langen Zeitraum und eine therapeutische Kompetenz, die wir nicht haben. Psychoanalytiker arbeiten von allen Therapieformen deshalb am längsten  mit ihren Klienten, weil die ganze Person mit ihrer Lebensgeschichte in den Blick genommen wird.

Schulseelsorge ist aber auch keine Verhaltenstherapie, auch wenn man auf das Verhalten anderer leichter Einfluss nehmen kann als auf deren Persönlichkeit. Dennoch bzw. daher werden wir in der Schulseelsorge vielleicht mal eine verhaltenstherapeutische Technik anwenden. Z.B. werden in der Expositionstechnik ängstigende Situationen aufgesucht, um zu zeigen, dass die Fantasien über diese Situation schlimmer sind als die Realität.

Schulseelsorge ist in erster Linie Beratung und Begleitung: d.h. da sein und ein offenes Ohr haben. Oft wissen wir nicht einmal, was wir leisten. Ein Schüler sagte Jahre nach dem Abitur zu mir: „Sie haben mir einmal unter eine Kursarbeit geschrieben: ‚Warst du bekifft?’ Sie hatten Recht, ich war bekifft, das war aber auch das letzte Mal gewesen.“ Eine einfache Intervention hatte eine Verhaltensänderung bewirkt, ohne dass ich mich überhaupt daran erinnern konnte. Anscheinend hatte der Schüler es mit einem veränderbaren Problem zu tun. Oft sind Probleme aber unveränderbar. Die Mama und der Papa bleiben immer Mama und Papa. In solchen Fällen bleibt uns als Berater und Begleiter nur die Möglichkeit, auf Haltungsänderungen hinzuweisen. Auch wenn Mama und Papa immer Mama und Papa bleiben, muss ich mich nicht immer darüber ärgern. Ich lerne, sie zu lassen und ich selbst zu bleiben. Wenn Bedingungen, die Persönlichkeit oder das Verhalten anderer, nicht verändert werden können, bleibt nur, unseren Umgang mit ihnen zu verändern.

Wie können wir trotz dieser Hinweise entwicklungsfördernd mit unseren Schülerinnen und Schülern als Schulseelsorger umgehen? Meine These: Wir sollten ihnen anerkennendes Übergangsgeleit geben. Das ist erstens nicht so schwierig und zweitens passiert es manchmal von allein.

Was ist gemeint? Seelsorge sollte entwicklungsfördernd sein. Entwicklungsfördernd ist die Artikulation und das Aushalten einer unangenehmen Selbstwahrnehmung im Beisein eines anderen. [4]

Eine unangenehme Selbstwahrnehmung kann alles Mögliche sein: Scham, weil man den schulischen Anforderungen der Eltern nicht entspricht; Schuld, weil man als Junge mehr von den Eltern gefördert wurde als die jüngere Schwester; Rachebedürfnis, weil der Bruder mehr von den Eltern gefördert wurde; Machthunger, weil man sich dem Vater gegenüber stets schwach fühlt; Aufmerksamkeitslust, weil man sich zu Hause übersehen fühlt; Unfähigkeit, weil man sowieso alles falsch macht und es inzwischen eh keinen mehr interessiert, zu was man fähig ist.

Die Artikulation einer unangenehmen Selbstwahrnehmung setzt eine reife Reflexionsleistung voraus, das unangenehme Gefühl muss nämlich sprachfähig mitteilbar werden. Daher hat der Jugendliche, der uns gegenüber eine unangenehme Selbstwahrnehmung äußert, das meiste schon geleistet, wenn er uns anspricht. Wenn wir nun diesen Jugendlichen in seiner Selbstwahrnehmung annehmen und anerkennen und das Unangenehme gerade nicht kleinreden, dann werden wir zu seinem Begleiter, auch wenn das Gespräch wieder beendet ist. Die Interaktion, das gemeinsame des Aushaltens, bleibt nämlich beim Jugendlichen auch wenn wir uns getrennt haben. Sie wird szenisch erinnert und wird immer wieder aktiviert, wenn wir uns auch nur im Vorbeigehen kurz grüßen. Die heilsame Interaktion wird zu einem anerkennenden Übergangsgeleit, auch wenn sie vielleicht nur einmalig und kurz war. Das sollte uns Mut machen, uns für die unangenehmen Selbstwahrnehmungen zu öffnen, sie auszuhalten und, wie gesagt, nicht „weg machen“ zu wollen. Das Kreuztragen wird ein Gemeinsames, aber dieses Joch kann dadurch sanfter und leichter werden.

4. Systemisches Werkzeug in der Seelsorge mit Schülerinnen und Schülern: Möglichkeitsraum

In systemischer Beratung werden nicht Elemente mit ihren Eigenschaften betrachtet, sondern die Relation der Elemente untereinander. D.h. es wird versucht, auf diagnostischeZuschreibungen zu verzichten, in dem man z.B. nicht sagt, wie ich es einmal von einem Klassenlehrer hörte: „Die Eltern wollen mir nicht glauben, ich weiß aber, der Junge hat ADHS!“ Stattdessen wird versucht, die Muster der Interaktion zu erkennen, die zwischen zwei oder mehreren Personen herrschen. Dieses Muster wird als Regelkreis wahrgenommen, der eine bestimmte Funktion hat, es macht also Sinn. Besser gesagt, es machte solange Sinn, bis ein Interaktionsteilnehmer sich bewusst wird unter dem Muster zu leiden und etwas verändern möchte. Wie kann man einen Regelkreislauf verändern? Man muss irgendwie eine Störung einbauen, das bisherige Muster muss irritiert bzw. verstört werden. Warum ist das gerade bei unseren jugendlichen Schülerinnen und Schülern manchmal nötig? Es geht um anerkennendes Übergangsgeleit. In früheren Zeiten wurden junge Menschen in Übergangsriten von der Kindheit ins Erwachsenenalter begleitet. Davon zeugen in unserer Kultur noch Konfirmation, Firmung und Jugendweihe. Dennoch ist dieser Übergang für die meisten Jugendlichen krisenhaft. Man hat seine Kindheitsstruktur verloren, aber noch keine Erwachsenenstruktur aufgebaut, also steht man dazwischen, wenn man so will in einer Antistruktur, in einer Schwellenphase, dem Angelpunkt zu einer Transformation. Viele Symptome sind Zeugen für diese Übergangsphase. Ein Mädchen weiß vielleicht intuitiv, wenn ich meine Essstörung aufgebe und erwachsen werde, lassen sich Mama und Papa scheiden. Ein problematischer Regelkreis sorgt für eine gewisse Sicherheit, bis dem Mädchen das Essstörungskorsett zu eng wird und sie sich verändern will. Wie kann im Gespräch ein solcher Regelkreis, ein solches Muster gestört werden? Wie können Lösungen in den Blick kommen? Hierzu hat die Systemische Beratung ein reiches Instrumentarium entwickelt, einen gefüllten Werkzeugkasten: Reframing, Skalierung, Verschlimmerung, Symptomverschreibung, zirkuläres Fragen, Beobachtungsaufgaben, Wunderfrage etc. Immer geht es dabei darum, zunächst im Gespräch einen sicheren, Halt gebenden Rahmen herzustellen (Framing), um dann den alten Regelkreis durch Irritationen und Verstörungen zu verändern. Hierzu wird unsere gewöhnliche Kausalität auf den Kopf gestellt. Es wird nicht beim Alten, beim Warum, bei der Vergangenheit geblieben, sondern das Neue, das Wozu, die Zukunft antizipiert. Das bedeutet, eine Zukunft als Realität zu erfassen. Es bedeutet, innerhalb einer hermetischen bedrückenden Wirklichkeit einen Möglichkeitsraum zu öffnen.

Und das kann so einfach sein: Ein zerstrittenen Ehepaar wird gefragt. „Woran würden Sie morgen merken, dass unser heutiges Gespräch etwas gebracht hat?“ Die Frau wendet sich an den Mann und antwortet: „Du würdest mir nach dem Aufwachen ‚Guten Morgen!’ sagen.“ Möglichkeitsräume zu öffnen heißt nicht, wie vorhin kritisch gesehen, im Reich der Möglichkeiten zu bleiben und keine Entscheidungen zu treffen, sondern genau das Gegenteil. Eine Möglichkeit wird als realisierbar und gegenwärtig in den Blick genommen. Und dann werden konkrete Schritte dahin durchgespielt. „OK, du willst da und da hin. Was ist der erste kleine Schritt dahin, den du umsetzen wirst? Welche Hemmnisse können sich dir dabei in den Weg stellen? Wie zufrieden bist du, wenn du nur 50% von dem schaffst, was du dir vorgenommen hast? Was wäre ein gutes Ergebnis für dich? Reichen vielleicht fürs erste auch 40%? Was sind 40% für dich? Stell dir vor, du hast 40% erreicht, was willst du als nächstes? 100%? Oder wie sieht der zweite realisierbare Schritt aus?“ Usw. usf.

Was passiert hier? Aus Problemen werden Lösungen. Nicht in der Vergangenheit und bei den Ursachen des Problems liegt das Hauptaugenmerk, sondern bei den Lösungen und den Ressourcen des Gesprächspartners. Das kann durchaus etwas Spielerisches und Experimentelles haben. „Ich bin morgens, immer so müde!“ „Zeig mir das mal, wenn du morgens müde bist, wie gehst du dann im Zimmer umher?“ … „Gut, und jetzt zeig mir mal, wie du wach im Zimmer umhergehst!“ … „Gut, ich schlage dir ein Experiment vor, es ist etwas schwierig und hört sich etwas sonderbar an, aber mit ein bisschen gutem Willen solltest du das schaffen. Willst du es hören?“ „Ja.“ „Nimm dir morgen früh einen Würfel und würfele. Bei ungeraden Zahlen, verhältst du dich müde. Bei geraden Zahlen, verhältst du dich wach und munter und ich rate, wenn wir uns sehen, was du heute gewürfelt hast. Und dann unterhalten wir uns nächste Woche, wie es dir mit dem Experiment ging.“

Ein Möglichkeitsraum wird geöffnet, der Schüler darf anders sein. Seine Müdigkeit ist kein ontologisches Gefängnis, sondern ein Schild, das er gelernt hat zu tragen, um sich vielleicht vor den Ansprüchen der Eltern zu schützen. Aber nun will er dieses Schild manchmal ablegen und Erfahrungen damit machen, ein anderer zu werden: Nämlich reif im Umgang mit sich selbst.

5. Systemische Seelsorge mit Kindern (Triangulierung)

Gibt es auch für Kinder eine wichtige Schwellenphase, die mit Konflikten oder einer Krise behaftet ist? Die Psychoanalyse sieht diese bekanntlich im ödipalen Konflikt, bei dem das Kind (flapsig formuliert) begreifen muss, dass die Mutter nicht ihm gehört, sondern dem Papa bzw. dass der Papa schon verheiratet ist, nämlich mit der Mama. Aktuell wird in der Psychoanalyse das, was mit dem umstrittenen Ödipus-Modell gemeint ist, als Triangulierung[5] reformuliert. Eine Kenntnis des Triangulierungskonzepts halte ich für die Schulseelsorge Beratung und Begleitung besonders in der Grundschule für unabdingbar. Hierbei geht es nicht um die Glorifizierung der traditionellen mitteleuropäischen Kleinfamilie, sondern um die Wahrnehmung einer grundlegenden Struktur. D.h. Mutter, Vater und Kind werden nicht individuell und persönlich betrachtet, sondern als eine Struktur, die gegeben ist, sobald Menschen Kinder haben. [6] Wenn wir von der Mutter-Kind-Beziehung sprechen ist eine dyadische Struktur gemeint:

Diese Struktur, wenn sie ausreichend gut ist, gibt dem Kind Sicherheit und Behütung. Die einfühlende Präsenz der Mutter (oder von „Mütterlichkeit“) verhilft dem Kind zur Ich-Stärkung. Problematisch wird diese Struktur, wenn die Mutter-Kind-Dyade eine geschlossene symbiotische Einheit bleibt. Dann wird die Entwicklung des Kindes behindert. Die dyadische Struktur muss demnach durch die triadische Struktur geöffnet werden, indem der Vater (oder „Väterlichkeit“) seine triangulierende Aufgabe wahrnimmt. Die triangulierende Struktur meint, dass im Vater etwas Drittes in die Zweierbeziehung tritt und diese in einem bestimmten Sinne stört. Er öffnet die enge Zweierbeziehung, indem er einerseits für Frustration sorgt: „Deine Mama ist meine Frau!“ und andererseits dem Kind verhilft, sich schuldfrei der Welt da draußen zuzuwenden und andere Dinge zu entdecken. Der Vater ist der störende und öffnende Dritte. Dyade und Triade sind also gemeinsam für die Entwicklung von Kindern unschätzbar wichtig, zusammen geben sie dem Kind Geborgenheit und Offenheit, Schutz und die Fähigkeit Risiken einzugehen. „Vater“ wird als personales Übergangsobjekt und Hilfs-Ich verstanden, der die notwendige Trennung von der Mutter moderiert. Er stellt eine Brücke zur außermütterlichen Welt der Kultur dar. [7]

Nun muss man fragen, wie sieht denn das z.B. bei alleinerziehenden Müttern aus, bei denen der biologische Vater nicht als sozialer Vater fungiert? Vor allem für die Jungen alleinerziehender Mütter ist es von entscheidender Bedeutung, welches Vater-Bild die Mutter in sich trägt und vermittelt. Untersuchungen weisen eindeutig darauf hin, dass die Ablehnung von Väterlichkeit ein wichtiger Faktor für spätere Gewalttätigkeit, Frauenhass und Fremdenhass sind. [8] Auch die Ruhelosigkeit kann ihren Ursprung in mangelnder Anerkennung der Männlichkeit von Jungen sein. Für die reife Identitätsbildung des Jungen ist die Gender-Triangulierung von essentieller Bedeutung. Triangulierung bezeichnet die Entwicklungsaufgabe, aus dem äußeren Beziehungsdreieck ein inneres zu machen. Sie basiert auf der psychischen Anerkennung der Männlichkeit durch die Mutter mithilfe eines positiven Vater-Bildes, das die Mutter in sich hat und so an die Söhne weitergibt. Eine systemisch ausgebildete Lehrerin hat z.B. den Rat gegeben, Blumen auf den Tisch zu stellen, wenn der Vater der Kinder Geburtstag hat. [9] Im Kern ist es das intrapsychische Fehlen eines libidinös besetzten Vaterbildes, das mit dem Mutterbild positiv verbunden ist, der den Bodensatz der meisten psychosozialen Störungen von Jungen bildet. Psychische Gesundheit basiert auf der Fähigkeit, situationsabhängig flexibel und spielerisch zwischen dyadischen und triadischen Beziehungsmustern hin und her wechseln zu können. Es sind die Erfahrungen von Mangel und Verlust, die mit einer hinreichenden Toleranz für Versagungen ertragbar sein müssen, welche die Grundlage für die Entwicklung von Kindern bilden. Soweit zur Frage der Triangulierung bei alleinerziehenden Müttern, generell gilt: Kinder müssen das Zusammensein von Vater und Mutter und das eigene Ausgeschlossensein wahrnehmen und aushalten können. Sie müssen lernen, die damit verbundene Frustration, dass Mama und Papa auch Mann und Frau sind, zu ertragen. Sie müssen einen Zugang zu eigenen Gefühlen bekommen, ohne ihnen ausgeliefert zu sein. Das nennt man eine funktionierende Affektregulation, ohne die es kein angemessenes Lernen gibt.

Gibt es Hinweise für eine triangulierende Beratung mit Kindern? Ich möchte zwei geben: Erstens kann man dyadisch gebundene Kinder (und Jugendliche) daran erkennen, dass sie sehr ansprüchlich sind. Sie wollen, dass wir es ihnen recht machen und signalisieren uns, dass wir es ihnen nicht recht machen können. Was können wir tun, wenn wir merken, ihren Beziehungshunger nicht stillen zu können? Wir müssen versuchen, den Anspruch an uns in ein Begehren [10] nach anderem zu verwandeln. Dabei hilft es am ehesten, wenn wir mit ihnen zusammen an ihren Fähigkeiten und Ressourcen arbeiten und ihnen ihr eigenes Können verdeutlichen. Z.B. kann man mit Legosteinen einen Turm bauen, wobei jedes Klötzchen eine Fähigkeit verdeutlicht und dann mit ihnen zusammen über die Höhe des Turmes in Erstaunen geraten. Sie können sich vorstellen, dass besonders Jungen daran viel Spaß haben.

Zweitens: Für mich ist es immer erstaunlich, wenn Kinder ihre Familie mit Schleich-Tieren aufstellen. Darüber lässt sich reden. Welches Tier repräsentiert wen, wer steht wo? Wenn ich dann frage: „Möchtest du eine Veränderung vornehmen, die dir besser gefällt?“, dann erscheint meist das Bild: Vater und Mutter stehen zusammen und die Kinder stehen in der Geschwister-Reihenfolge daneben. Kinder haben ein Gefühl für eine wohltuende Ordnung, wir sollten ihnen in ihrer Ordnungssuche und bei ihren Reifungsschritten anerkennendes Übergangsgeleit geben. Es ist ihr Leben.

[1] Das sieht nicht nur evangelische Theologie so, sondern z.B. auch die Systemtheorie, die biologische, psychische und soziale Systeme unterscheidet. Erstere dienen dem Leben, bzw. Überleben, die Zweiten entwickeln Erlebens- und Sinnstrukturen und geben Orientierung, und die Dritten verwirklichen kommunikative Prozesse und damit bestimmte Interaktionsmuster. Vgl.: Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1991.

[2] Eine ausführliche Entwicklung dieser Gedanken findet sich bei: Eilert Herms, Der Leib als Symbol menschlicher Freiheit und Abhängigkeit, in: Eilert Herms, Sport, Hannover (Lutherisches Verlagshaus) 1993, 13-24.

[3] D. W. Winnicott (1965), Familie und individuelle Entwicklung, Frankfurt/M. (Fischer) 1984, 116.

[4] Eilert Herms, Die ethische Struktur der Seelsorge, in: Pastoraltheologie 80 (1991), 40-62

[5] Hermann Lang, Die Strukturale Triade und die Entstehung früher Störungen, Stuttgart (Klett-Cotta) 2011

[6] Diese Struktur wird auch in homosexuellen Beziehungen mit Kindern eine Bedeutung, weil auch in deren Interagieren, mütterliches und väterliches Verhalten vorhanden wird. Jeder Interaktionspartner in einer Familie trägt immer schon Mutter und Vater vom eigenen Ursprungserleben her in sich.

[7] Wie gesagt, das sind strukturale Aussagen und keine empirischen, womit natürlich keinesfalls der mütterliche Beistand bei der „Öffnung zur Welt“ der Kultur geschmälert werden soll. Dies bedeutet, dass Mütter triangulierende Aufgaben wahrnehmen und umgekehrt Väter dyadisch binden können.

[8] Hans Hopf, Die Psychoanalyse des Jungen, Stuttgart (Klett-Cotta) 2014, 202

[9] Marianne Franke-Gricksch, Du gehörst zu uns. Systemische Einblicke und Lösungen für Lehrer, Schüler und Eltern, Heidelberg (C. Auer) 2004

[10] Zu diesem Zusammenhang, z.B.: Peter Widmer, Subversion des Begehrens. Eine Einführung in Jacques Lacans Werk, (1. Aufl. 1997) Wien (Turia & Kant) 2016

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Dr. Dirk Kutting

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