Von Pegida zu Jeschurun – eine Anfrage an die Kirche

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Ulrich Kronenberg
Am Anger 5, 67346 Speyer

Pegida ist ein Phänomen: Bis vor wenigen Wochen völlig unbekannt ist die Protestbewegung gegen die Islamisierung Europas nun über Nacht in aller Munde. Von begeisterter Zustimmung bis zu völliger Ablehnung reicht die Palette der Meinungen. Bis hin in die Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin dominiert die Debatte um das Für und Wider die Republik. Die Altkanzler Schmidt und Schröder melden sich zu Wort. Auch bei Kirchens fehlen die mahnenden Worte nicht: Von Altbischöfen und EKD Alt-Ratsvorsitzenden wird eindringlich vor der Bewegung gewarnt und die Teilnahme für Christen untersagt. In Köln macht man die Dombeleuchtung aus, um gegen die Proteste zu protestieren.

Jeder, der ein wenig tiefer schürft als bis zur oberflächlichen Begeisterung oder moralischen Entrüstung, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass mit Pegida keine momentane Eintagsfliege unterwegs ist. Es wird immer klarer erkennbar, dass hier grundlegend verschiedene Weltanschauungen aufeinanderprallen: Die multikulturelle Vorstellung vom friedlichen Miteinander der Kulturen und Religionen in der sog. offenen Gesellschaft oder Zivilgesellschaft wird durch die Protestbewegung massiv in ihrem ureigenstem Lebensnerv getroffen. Viele Kommentare und Stellungnahmen, die landauf landab von Politikern aller Parteien und medialen Meinungsmachern zu hören sind, haben etwas entschuldigend Beschwichtigendes an sich. Es wird der Eindruck vermittelt, dass die Protestierenden es nur noch nicht genau genug verstanden haben, was die Architekten der „brave new world“ beabsichtigen mit ihrer Prophetie der angeblich modernen Weltanschauung: Wenn sie das erst einmal in voller Konsequenz als Bereicherung erkannt haben und das alles gut finden, löst sich das Problem quasi von selbst auf und die Demonstranten gehen wieder nach Hause und üben die „erste Bürgerpflicht“ wieder aus wie man das vom deutschen Michel in den letzten Jahrzehnten gewohnt ist, denn er hat ja noch seine verkabelten Medien und seine Konsumtempel, wo er im Wohlstandsrausch seiner neuhochdeutschen Beglückung nachgehen kann. Man verzeihe mir die Ironie.

Wer tiefer sieht, spürt seit Jahren, dass es im Lande brodelt. Und das nicht nur in Deutschland. „Die Wut wächst“. Und das nicht nur bei Oskar Lafontaine. Viele Menschen haben das ungute Gefühl, dass sich hier etwas zusammenbraut. Viele haben ein mulmiges Gefühl, da man schwer absehen kann, wie sich so manche Dinge entwickeln. Es erinnert an die fatale Wirkung eines zunähst leicht zu übersehenden Schwelbrandes. Was in der Theorie so mancher intellektuell verbrämten „Erkenntnis“ gut denken lässt, ist in der realen Welt in Europa für viele Menschen ein Grund zur Sorge bzw. der Angst geworden. Es breitet sich seit Jahren diesbezüglich ein zunehmendes Misstrauen gegen die Medien aus, von denen man nicht immer behaupten kann, dass sie nicht systemkonform „Lieder“ nachsingen, deren Melodie vielen Menschen in Deutschland nicht gefällt und äußerst schräg vorkommt. Ich selber habe mit Sorge seit vielen Jahren die größte Partei der Republik betrachtet: das ist mittlerweile die der Nichtwähler und man fragt sich, was diese Menschen wohl wählen täten, wenn sie es denn tun würden. Als Patriot und Demokrat kann ich nur mit Sorge diese Entwicklung beobachten – wobei ich den Frust vieler Mitmenschen nachvollziehen kann.

Nun haben wir als Kirche in erster Linie nicht die Probleme dieser Welt zu lösen, denn Kirche Christi hat ja einen anderen Auftrag als die Aufrechterhaltung des multikulturellen Weltbildes oder die Regelung der Zuwanderung in Europa. Der Schutz der bürgerlichen Freiheiten oder der Menschenrechte beispielsweise obliegt ja nicht in erster Linie der Kirche Christi sondern den dafür zuständigen staatlichen Organen und Institutionen. Dafür gibt es „Obrigkeit“, die das zu tun hat. Und diese tut das seit Jahrzehnten mit großem Erfolg, wie man dankbar anerkennen muss. Hier gewinnt die zu Unrecht oft geschmähte Zwei-Reiche-Lehre Luthers eine brennende Aktualität.

So ist das sich zuspitzende gesellschaftspolitische Drama meines Erachtens eine theologische Anfrage an uns als christliche Kirche. Und dies in fundamentaler Weise. Als Mensch und Christ frage ich mich: Haben wir als Christen alles getan, dessen wir schuldig sind? Haben wir in einer immer materialistischer und egoistischer werdenden Gesellschaft unsere Botschaft des Wortes vom Kreuz glaubwürdig ausgerichtet? Das Evangelium ist doch hier eine Alternative zum zeitgeistlichen Mainstream. Ist nicht das Erstarken des Islam in Europa auch eine Anklage an uns? Die evangelische Kirche befindet sich seit knapp fünfzig Jahren in einem erschreckenden Schrumpfungsprozess. „Jedes Jahr stirbt eine pfälzische Gemeinde“ sagte vor vielen Jahren unser damaliger Ausbildungsleiter OKR Dr. Klaus Bümlein zu uns als jungen Studenten – und er sagte das sehr traurig.

Die Spirale abwärts hat sich seitdem immer schneller gedreht. Ein Ende ist bei allem Optimismus nicht abzusehen. Diese Entwicklung ist nicht nur zahlenmäßig zu sehen. Kirche ist sich m.E. ihrer eigentlichen Botschaft weithin unsicher geworden: Die Flucht auf alle möglichen und unmöglichen sozialethischen Nebenkriegsschauplätze belegt doch, dass das Wort vom Kreuz, Wort und Sakrament offenbar nicht für ausreichend erachtet werden, um kirchliches Sein und Handeln zu begründen. Da jagen ausgewachsene Geistliche dem grünen Gockel nach, da wird der Segen oder Fluch des Palmöles zum Gegenstand des kirchlichen Handelns pastoraler Referenten im Diakonischen Werk. Da wird das Autofasten zur Weltenrettung beschworen und und und und und…

Kein geringerer als Friedrich von Bodelschwingh d.J. (1877-1946) hat in den heißesten Tagen des Kirchenkampfes seine Brüder der Bekenntnisfront gemahnt, jede Kritik und jeden Angriff ernst zu nehmen: und zwar als Selbstkritik! Als berechtigte Anklage gegen das eigene Versagen und die eigene Schwäche. Er verlangte eine ernste Selbstprüfung, ob der von außen gemachte Vorwurf nicht eventuell berechtigt ist. Wenn das so ist, dann muss der erkannte Missstand korrigiert werden. Der vermeintliche Angriff ist das Hinterfragen eines Missstandes. Und von Bodelschwingh hat damit völlig recht: wäre sich die christliche Kirche heute ihrer ureigensten Botschaft sicher, den auferstandenen und wiederkommenden Herrn in Gesetz und Evangelium zu bezeugen und zu bekennen, wären manche Entwicklungen gar nicht möglich gewesen: wenn man den ureigensten Auftrag des Herrn (Mt 28,19f) ernst nimmt, wäre so manche kirchliche Suppenkasperei, über die Viele, die mit Ernst Christ sein wollen, den Kopf schütteln und sich innerlich abwenden, gar nicht möglich.

Mich erinnert die Situation unserer evangelischen Kirche oft an das anklagende Wort über das Volk Israel im Lied des Mose, das den Kosenamen Jeschurun bekommt: „Als aber Jeschurun fett ward, wurde er übermütig. Er ist fett und dick und feist geworden und hat den Gott verworfen, der ihn gemacht hat“ (Dtn 32,15) [1]. Die Parallelen liegen auf der Hand: Noch nie ist es unserer Kirche materiell so gut gegangen wie in den vergangenen Jahrzehnten. Es ist nach dem Zusammenbruch 1945 ein Wohlstand über unser Land und auch über unsere Kirche gekommen, der in der Geschichte seinesgleichen sucht – und nicht findet. Dieser ist nicht vom Himmel gefallen sondern von der Kriegs- und Nachkriegsgeneration hart erarbeitet worden. Mit jedem Jahr wächst mein Respekt vor der Lebensleistung dieser strebsamen Generation, der wir Nachgeborenen so viel zu danken haben. Denn wir kennen keine materielle und kriegsbedingte Not. Wir kennen keine Gefahr für Leib und Leben: Wir durften bis heute in Frieden, Sicherheit und Wohlstand leben. Wenn ich das Leben meines Großvaters mit meinem vergleiche, so kann ich nur dankbar sagen: Als er so alt war wie ich, hatte er bereits zwei Weltkriege und zwei Währungsreformen hinter sich. Nach dem Krieg war er froh, mit seiner Familie das nackte Leben aus dem Wahnsinn des Krieges gerettet zu haben und in großer Dankbarkeit hat er dies in seinen letzten Lebensjahren oft betont.

Nur hat der große materielle Reichtum unserer Kirche dazu geführt, dass wir genau diesem Vorwurf gegen Jeschurun ausgesetzt werden. Dabei ist das geistliche Fundament heute, auf dem jede echte Glaubensüberzeugung fußt, wie bei Jeschurun ins Wanken geraten. Die Folge des Landes, in dem Milch und Honig fließen, kann ein Verwerfen des Gottes sein, dem man all das Gute verdankt. Und dann folgt die Verwerfung Gottes, dann folgt die ewig alte Versuchung des „pelagianischen Grundirrtums“, wie Luther das genannt hat, und der Synkretismus, der allen exklusiven Anspruch Gottes zunichte macht.

Dies ist kein neues Phänomen unserer Zeit: Die Vorrede Luthers zum Großen Katechismus nennt das klar beim Namen und ist für die Geistlichkeit keineswegs schmeichelhaft [2]. Das Fett-, Dick- und Feistwerden ist eine immerwährende geistige und geistliche Gefahr. Jeder Mensch – auch der Christ – lässt sich gern einlullen. Die Folge für die Glaubwürdigkeit ist fatal: Mit den Boten wird auch die Botschaft unglaubwürdig. Das Wort der Kirche, die sich in den Vorläufigkeiten dieser Welt erschöpft und in Alltäglichkeiten versinkt, wird auf die Dauer unglaubwürdig und dann nicht mehr ernst genommen.

Dies kann man heute zunehmend beobachten: Viele Menschen trauen weder der Kirche noch der von ihr vertretenen Botschaft mehr zu, als krisenfester Grund für das Leben und das Sterben zu taugen. Hinter vielen hausbackenen kirchlichen selbsterwählten Werken der Gerechtigkeit, die wir heute als Kirche tun, steht oft eine tiefe Unsicherheit – ja eine theologische Verlegenheit. Die wachsende Furcht vor dem Islam und seiner Ausbreitung in Europa ist ein Eingestehen der eigenen Unsicherheit und Schwäche in der Lehre. Wir haben uns viel zu oft damit abgefunden, dass unsere Botschaft, die wir zu verkünden haben, scheinbar niemand interessiert. Die Zahlen des kirchlichen Lebens sprechen hier eine mehr als deutliche Sprache. Der Gottesdienstbesuch, das fehlende Wissen um fundamentale Glaubensinhalte und andere grundlegende Fragen, sowie das Wissen um biblische Geschichte spielen kaum mehr eine Rolle. Kirche beschäftigt sich weithin zu viel mit sich selber und gibt zu oft Antworten auf Fragen, die keiner stellt. Wir stehen damit mitten in einem Glaubwürdigkeitsproblem. Prominente Vertreter des Protestantismus richten oft schweren Schaden an [3]. Der Vorwurf des Wasser-Predigens und Wein-Trinkens ist nicht singulär [4].

Es kommt mir oft so vor, dass die Vorwürfe Gottes gegen das im Land von Milch und Honig schwelgende Volk Israel heute auch auf unsere Kirche mit einigen ihren hausgemachten Wohlstandssorgen zutreffen. Der Vorwurf gegen Jeschurun war die Abgötterei: dass Jeschurun falsche Bündnisse einging und fremden Göttern diente (Dtn 32,16). Judith Gärtner hat in ihrer wunderbaren Habilitationsschrift [5] über die Geschichtspsalmen sehr exakt herausgearbeitet, was denn diese Botschaft damals wie heute ausmacht: der Gang der Geschichte ist da oft identisch. Mit Helmut Thielicke kann man von der „Dieselbigkeit“ sprechen. Sind wir als Kirche, als Christen in den vergangenen Jahrzehnten nicht auch oft wie Jeschurun geworden? Haben wir nicht den Gott verworfen, den uns die Bibel als den einzigen, eifersüchtigen Gott bezeugt, der den Kampf um unser verstocktes Herz mit Schlägen von außen zu gewinnen sucht.

Die Theologie der Geschichtspsalmen ist der Jeschurun-Vorwurf: Luther hat in seinen drei Schriften zu den Türkenkriegen [6] darauf verwiesen, dass das Gericht von außen über die Christenheit kommen muss, weil sie den lebendigen Gott verlassen bzw. verworfen hat und sich im Synkretismus ergeht. Der eifersüchtige Gott, der keine anderen Götter neben sich duldet, sondern unser Herz und unser Vertrauen exklusiv für sich will und fordert, lässt das nicht mit sich machen: So nennt Gott Nebukadnezar „meinen Knecht“ (Jer 25,9). Dieser soll das abtrünnig gewordene Volk Gottes strafen und zur Räson bringen, dass sie sich auf ihren Gott, den sie vergessen haben, besinnen.

All die modernen und so wohlfeil klingenden synkretistischen Sirenengesänge, die auch von Chorknaben in unseren eigenen Reihen gesungen werden, sind nicht im Sinne des einzigartigen Gottes, der in Jesus Christus Fleisch geworden ist, der Krippe und Kreuz nicht gescheut hat, um unser Herz zu gewinnen. Der Umbau der christlichen Botschaft zu einer allgemeinen Humanitätsrede „seid doch ein wenig nett zueinander – es ist doch so vernünftig“ ist doch letztlich theologischer Verrat an der christlichen Botschaft und am Auftrag, den der Herr seiner Kirche gegeben hat (Joh 14,6). Dieser Verrat ist noch nie ohne Folgen geblieben. Die innere geistliche Aushöhlung der evangelischen Kirche hat heute so erschreckende Ausmaße angenommen, dass man ernsthaft darüber nachdenken muss, wie dem zu begegnen ist. Die Welt- und Religionsgeschichte lehrt, dass dieses Nachdenken noch nie freiwillig geschehen ist, sondern immer Folge von großen Katastrophen und Zusammenbrüchen war [7]. „Warum haben wir den Krieg verloren“, fragte 1945 der Speyerer Dekan Wien in einer noch heute sehr lesenswerten Schrift. Seine Antwort ist klar: die große und immer wieder neu begangene Sünde wider das erste Gebot. Das Verlassen des gewiesenen Weges. Das Verlassen des Vertrauens auf Gott. Das Vertrauen auf die eigene Kraft und Fähigkeit. Die ewig alte und doch immer neue Versuchung der Hybris von Babylon: „Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen“ (Gen 11,4).

Dieses Verlassen hat immer in vermintes Gelände geführt mit den entsprechenden Folgen: Irgendwann platzte dann die Bombe. Die Gefahr, vor der Hermann Bezzel vor über 100 Jahren gewarnt hat, dass Kirche Christi zu einem Sprechsaal der vermeintlich gleichberechtigten Meinungen verkomme, ist heute weithin eingetreten. Wenn wir heute über Aussagen der Bibel „Argumentationsgänge“ hören „das kann man heute so nicht mehr sagen…“ oder „das kann ich mit meinem Glauben nicht vereinbaren“, dann muss jeden aufrechten Christen das Grauen packen, dass Jeschurun bei uns heute aktueller ist denn je.

Deshalb tun uns heute Besinnung und Demut mehr Not als je: Das Hören auf das Wort vom Kreuz hat die Verheißung des Herrn, dass die Pforten der Hölle uns nicht überwinden werden. Man kann es mit dem Smart-Werbeslogan sagen: „Reduce to the max“ – Konzentration auf das Wesentliche. Weniger ist mehr. Die jetzt höher schlagenden Wogen, die der Pegida-Sturm aufpeitscht, lassen das Absingen zivilreligiöser Beschwichtigung und Flucht in die Alltäglichkeit kaum mehr zu. Wer die Zeichen der Zeit mit wachen Augen sieht und auf die Zwischentöne hört, kann hier nur ernsthaft zur Buße gerufen sein und sich fragen, welchen Göttern wir dienen und was der lebendige Gott von uns fordert.

Diese Buße hat für mich persönlich bedeutet, mich dem Wort Gottes anders zu nähern als in vielen Jahren der pastoralen Vielgeschäftigkeit und der pfarramtlichen Verzettelung, die einem so leicht gemacht wird: Dem Übersetzen des NT folgt nun das Übersetzen der Psalmen. Dies lässt mich völlig neu auf die Botschaft der Bibel hören und hinterfragt das Nachbeten gängiger kirchlicher Phrasen, die in die Welt hinausklingen. Der Aufruf des „Reformanini“ (Vulgata Rö 12,2) „Verändert Euch“ ist hier unmissverständlich. Viele Wege der ideologisierten oder moralisierenden Kirche erweisen sich heute als Abwege oder als Sackgassen. Das von Helmut Thielicke öfter zitierte Wort des „Plusquamfuturum“ ist heute erschütternd aktuell und stellt uns in Frage – ja macht uns wirklich fragwürdig.

Dieser Fragewürdigkeit werden wir uns stellen müssen: nicht mit konsensfähigen synodalen Willenskundgebungen, sondern mit dem Ernst, der an den Christen erkennbar sein muss, wenn die Botschaft glaubwürdig sein soll. Wahrheit muss nicht immer mehrheitsfähig sein. Wir müssen uns nach der Wahrheit richten und nicht die Wahrheit nach uns [8]. Deshalb ist Pegida m.E. eine ernstzunehmende Bußfrage an uns als Kirche und Christen. Reformation ist nach Hermann Sasse ein immerwährender Ruf zur Buße [9]: Das bevorstehende Jubiläum 2017 hat deshalb m.E. die dringliche Aufgabe, uns als Kirche und Christen zu dieser Buße zu rufen: so wie es Luther in der ersten der 95 Thesen sagt. Man kann es mit dem Ruf Johannes des Täufers sagen: Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen! (Mt 3,2) Ohne die Buße im ureigensten evangelischen Sinn, kommt das Himmelreich auch nicht nahe. Die Einzigartigkeit Jesus Christi, die Eifersucht des dreieinigen Gottes fordert ein entschiedenes Bekenntnis und dann ein klares Handeln, wenn man Wegweiser in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt sein will.

Diese Aufgabe haben wir. Die verunsicherten Pegida-Demonstanten sind im letzten Grunde eine Anklage gegen uns als Kirche, die ihre prägende und wegweisende Kraft weithin verloren hat. Welche Werte haben wir vermittelt? Welchen Glauben haben wir gelehrt? Welche Fundamente haben wir gelegt? Haben wir dies treu und glaubwürdig bezeugt? Das sind die Anfragen, die uns ernsthaft herausfordern müssen. Ob das von Carl Friedrich von Weizsäcker angestimmte konziliare Liedchen von „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ hier ausreicht, wage ich nach dem Verlauf der letzten Jahrzehnte theologisch zu bezweifeln und es treibt wohl immer mehr Menschen deswegen aus der Kirche, weil sie die ganze Hohlheit und Inhaltslosigkeit dieser kirchlichen Phrasendrescherei als scheinheilig und selbstgerecht durchschauen und davon zutiefst enttäuscht sind.

Der Islam mit seiner einfachen, klaren Lehre und seinen restriktiven Weisungen übt auf zunehmend viele Menschen – auch in Deutschland – eine große Anziehungskraft aus. Angesichts der oft verwirrenden Vielfalt im protestantischen Blätterwald mag das kaum zu verwundern. Luther hat in „De servo arbitrio“ [10] sehr deutlich herausgearbeitet, dass christliche Lehre klar und einfach sein muss, wenn sie als solche erkennbar sein soll. Wir kennen doch alle die Flucht in irgendwelche gelehrt klingenden Phrasen, die uns als gebildet ausweisen, jedoch oft nur ein intellektuell getarntes Feigenblättchen für Unsicherheit, Ratlosigkeit und Standpunktlosigkeit sind.

Mir erscheint deshalb die Besinnung auf die Wurzeln unseres Glaubens das kirchliche und theologische Gebot der Stunde zu sein. Das, was viele Generationen vor uns getragen und gehalten hat in allen Stürmen des Lebens und dieser Welt, ist uns oft heute verloren gegangen. Man hat mit Recht gesagt, dass die Alten früher weniger wussten als wir heute und nicht so viel besaßen wie wir. Aber ich habe den subjektiven Eindruck, dass ihre Wurzeln oft tiefer gingen als bei uns modernen Flachwurzlern, die leicht dem ersten Sturm zum Opfer fallen, wenn die Stürme wehen. Pegida und die jüngsten IS-Gräueltaten in Frankreich lassen erahnen, dass die Winde da noch weiter wehen werden und wir aus so manchem geliebten kirchlichen Wohlstandstraum schmerzlich erwachen werden. Der Gedanke der theologia et ecclesia militans, der im Kirchenkampf sehr dezidiert vorhanden war, als man sich mit der Irrlehre des Nationalsozialismus auseinandersetzen musste [11], wird zunehmend wichtiger, denn der falsche Friede (1 Thess 5,3; Jer 6,14) ist m.E. an seine Grenzen gelangt.

Wohlgemerkt: Wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen. Wir sind nicht die Verteidiger des sog. christlichen Abendlandes, aber die Zeugen des Gottes, der unser Herz ganz für sich will – und zwar exklusiv. In einer wunderbaren Predigt über Ps 19,2 [12] zeigt Luther 1516 die Unterscheidung von Evangelium und Kakangelium auf. Luther zeigt, wie das Evangelium zum Kakangelium verkommt, wenn die geistliche Grunderkrankung der Kirche nicht klar erkannt und dann entsprechend therapiert wird: Unter Berufung auf Jes 28,21 spricht Luther vom Berg der Trennung – oder Unterscheidung – und von der fremden Stimme des Evangeliums, die notwendig ist, um die eigentliche evangelische Botschaft wieder klar zu hören. Luther nennt dies das „zwiefältige Amt des Evangeliums“. Er unterscheidet den fremden und den eigentlichen Klang des Evangeliums.

Ecclesia et theologia militans kann nur den Kampf um die Wiederentdeckung der Bibel und ihrer Botschaft im Sinne von Suzanne de Dietrich [13] bedeuten. Pegida rüttelt Jeschurun unsanft wach aus dem geistlichen Wohlstandsschlummer. Es befremdet uns als Christen, wenn wir jetzt oft harte, verletzende und ausgrenzende Worte gegen Fremde in unserem Land hören, aber es hinterfragt uns auch, ob wir das Wort des in Barmherzigkeit rufenden Gottes in allem Ernst recht ausgerichtet haben und alles getan haben, dessen wir schuldig sind (Lk 17,10) oder unnütze Knechte geworden sind. Dies ist keine  weltanschauliche Frage sondern eine zutiefst theologische Anfrage. Der „fremde Klang“ des Evangeliums (alienum sonum Euangelii) muss uns genau hinhören lassen und uns von aller ideologisierten Moralisiererei frei machen, dass wir den „eigentlichen Klang“ neu hören und verkündigen können.

[1]               Die entscheidenden Verben schman (fett sein, 210-mal in BHS), abah (dick sein, 3-mal in BHS), kasah (fett werden, 1-mal in BHS) und natsch (aufgeben, 40-mal in BHS) verdienten eine eigene exegetische Untersuchung, die an dieser Stelle zu weit führen würde.

[2]                 BESLK 912,1 – 924,2.

[3]               http://www.welt.de/politik/article6524983/Margot-Kaessmanns-verlorene-Glaubwuerdigkeit.html. Der Artikel hebt die beschämende Diskrepanz der hehren episkopalen Worte zu „Sieben-Wochen-ohne“ und der Alkoholfahrt Käßmanns heraus.

[4]               http://www.welt.de/politik/deutschland/article130232996/EKD-Chef-provoziert-Kirche-bei-Sterbehilfe.html. Die Äußerungen Schneiders hatten eine fatale öffentliche Glaubwürdigkeitsdebatte zur Folge.

[5]               Judith Gärtner. Die Geschichtspsalmen. Eine Studie zu den Psalmen 78, 105, 106, 135 und 136 als hermeneutische Schlüsseltexte im Psalter. (FAT, 84). 2012.

[6]               [6] -Vom Kriege wider die Türken, WA 30,2 107-148. – Eine Heerpredigt wider den Türken, 1530, WA 30,2 160-197-Vermahnung zum Gebet wider den Türken.  WA 51, 585-625. Vgl. Ehmann, Johannes: Luther, Türken und Islam. Eine Untersuchung zum Türken- und Islambild Martin Luthers 1515-1546. QFRG 80. Gütersloh 2008.

[7]                 Es ist der Zustand, den der 137. Psalm beschreibt: „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten“.

[8]               Matthias Claudius: es gibt was Besseres in der Welt, Gütersloh 1952, S. 265. An meinen Sohn Johannes, 1799.

[9]               Sasse, Hermann: Zeugnisse. Erlanger Predigten und Vorträge vor Gemeinden. Erlangen 1979. Reformationsfest – Bußtag der Kirche. S. 167-181.

[10]              WA 18, 600-787.

[11]              Wunderbar fasst Karl Heim im Vorwort der von  Karl Kampffmeyer herausgegebenen Predigtsammlung „Dein Wort ist Deiner Kirche Schutz. Predigten von der Kirche“ aus dem Jahr 1934 zusammen, welche Kraft das Wort Gottes erhielt angesichts der damals aktuellen theologischen Herausforderung bzw. Anfechtung (Göttingen 1934). Von der Ernsthaftigkeit und Notwendigkeit dieses theologischen Ringens zeugt auch die von Martin Doerne initiierte Schriftenreihe „Theologia militans“, die ab 1935 bei Deichert in Leipzig erschien.

[12]              WA 1, 111-115. Gute Übersetzung bei: Erwin Mülhaupt, Luthers Psalmenauslegung Göttingen 1959, Bd. 1, S. 272-276.

[13]              Suzanne de Dietrich: Ecclesia militans: Die Wiederentdeckung der Bibel: Grundlegung, methodische Fragen, praktische Anwendung, Zürich 1948.

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