Mit Albert Schweitzer unterwegs

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Zwischen Katheder, Kanzel und Spital

Udo Sopp
Eugen-Hertel-Straße 18, 67657 Kaiserslautern

Wann und wie Albert Schweitzer in mein Leben und Denken trat, ist noch taufrisch in meiner Erinnerung: Vor gut 60 Jahren und im Streit zweier Theologen.

Nach der Konfirmation im Frühjahr 1949 im westlichsten Stadtteil von Kaiserslautern, Einsiedlerhof, liefen wir Konfirmanden nicht alle der Kirche davon, sondern blieben zusammen in der Jugendarbeit. Hier wurde immer Interessantes geboten aus den uns noch unbekannten Gefilden der Geschichte, der Gegenwartsprobleme und der Religion. „Bibelarbeit“, wie man das damals nannte, war keine Beschäftigungsandrohung, wenn die Disziplin sich lockerte. Sport, auch im Spezialfall Fußball, kam ebenfalls nicht zu kurz.

Zwei angehende Pfarrer, Vikare noch, inspirierten und moderierten locker und liberal. Als der eine nach einiger Zeit versetzt wurde, machte der Nachfolger in ähnlicher Weise weiter. Der Übergang schien unproblematisch und nahtlos zu sein. Doch der Schein trog. Ausgerechnet an Albert Schweitzer, damals wie heute einsame Größe und Vorbild gelebter Humanität, schieden sich die Geister. Es gab keine persönliche Verstimmung, allerdings harte Auseinandersetzung in der Beurteilung. Für den Vorgänger war Albert Schweitzer zwar auch ein „Genie der Menschlichkeit“, wie Winston Churchill, der englische Staatsmann, formuliert hatte, herausgehobenes Vorbild an energischer, fantasievoller und geistig anspruchsvoller Schaffenskraft und herausgehobenem Edelmut, aber kein Christ nach seinen traditionellen, wohl auch engen theologischen und kirchlichen Maßstäben, eben Christ und Theologe mit „Defiziten“ des „wahren“ Glaubens und der „richtigen“ Erkenntnis.

Der Nachfolger war ein theologischer und philosophischer Schweitzer-Schüler, hatte sich im Studium intensiv mit Schweitzers umfangreichen theologischen und philosophischen Werken beschäftigt und entsprechende Schlüsse gezogen. Für ihn war Schweitzer nicht nur der große Humanist der Gegenwart, sondern auch in seinem theologischen und philosophischen Denken Lehrer und Wegweiser glaubwürdigen Christseins in der Gegenwart.

Annäherung: Erste Spurensuche im Dialog

Als die beiden sich im Beisein der Gruppe über ihre total gegensätzlichen Positionen austauschten, waren wir Konfirmanden gebannt und gespannt, mit offenen Ohren, Augen und Mündern dabei, wundersam diszipliniert und geräuschlos. Es hat Eindruck gemacht, dass die beiden Kontrahenten nicht nach Art der „rabies theologorum“, wie Philipp Melanchthon gesagt hätte („Wut oder Rabaukentum der Theologen“), aufeinander eindroschen, sondern sich im „liebenden Kampf“ (so Karl Jaspers, 1883-1969) auseinandersetzten, der einzig angemessenen Methode, sich um richtige Erkenntnis und die Wahrheit zu streiten. Das Streitgespräch in der kleinen und unscheinbaren Arena der Jugendgruppe war die erste Station und der entscheidende Haltepunkt. Der Nachfolger vor allem hat derart mein Interesse und meine Neugier geweckt, dass ich seit über 60 Jahren ständig mit Albert Schweitzers theologischem und philosophischem Denken unterwegs bin und in Schweitzers „denkendem Glauben“ die – oder zumindest eine – entscheidende christliche Grundhaltung in Moderne und Postmoderne erkenne. Schweitzers Spuren im Denken zu folgen hieß für mich allerdings nie, blindlings und ungeprüft alle seine historischen, theologischen und philosophischen Beurteilungen, Festlegungen und Konsequenzen zu übernehmen, sondern in kritischem Ja und Nein, in ständiger, bohrender Zwiesprache mit ihm zu ringen.

Unverrückbarer Haltepunkt ist: „Das Christentum kann das Denken nicht ersetzen, sondern muss es voraussetzen… Von mir selbst weiß ich, dass ich durch Denken religiös und christlich blieb. Der denkende Mensch steht der überlieferten religiösen Wahrheit freier gegenüber als der nicht denkende, aber das Tiefe und Unvergängliche, das in ihr enthalten ist, erfasst er lebendiger als dieser“ (Albert Schweitzer, Aus meinem Leben und Denken, gesammelte Werke – GW1, S. 204 – auch Fischer TB Nr. 12876)

Entdeckung: Ein Denker, der erzählen kann

Albert Schweitzer in der kleinen Arena der evangelischen Jugend Einsiedlerhof, im Wettstreit der pastoralen Interpreten, im „Kampf ums Christentum“ – das zeigte bei mir Wirkung. Die Neugier war geweckt, nachhaltiges Interesse stellte sich ein. „Zwischen Wasser und Urwald“ fiel mir in die Hände. „Aus meiner Kindheit und Jugendzeit“ verdrängte Karl May. Erst später merkte ich, dass ich auf der richtigen Spur war, hat doch Hermann Hesse, der Literaturnobelpreisträger, geurteilt: „Von allem aber, was der große Kamerad geschrieben hat, liebe ich am meisten seine Kindheits- und Jugenderinnerungen. In diesen unvergesslichen Seiten, in denen Schweitzer schlicht von seinen Herkünften und ersten Lebensjahren erzählt, spürt man konzentriert das ganze Erbe enthalten, das er angetreten und so vorbildlich verwaltet hat. Und es weht da eine Innigkeit und Wärme des Herzens, die einen an die schönsten Kindheitsgeschichten deutscher Sprache, etwa die von Jung-Stilling, erinnert“ (Aus: Albert Schweitzer, Sein Denken und sein Weg, herausgegeben von Hans Walter Bähr, Tübingen 1962, S.107).

Später habe ich übrigens „Aus meiner Kindheit und Jugendzeit“ unzählige Male verschenkt an Menschen ganz verschiedenen Herkommens, Bildungsstandes, Alters und geistigen Zuschnitts, an Universitätsprofessoren und Gymnasiasten, Lehrlinge und Arbeiter, Gemeindeglieder und Pfarrer, Lehrer und Sportler, Alte und Junge, Europäer und Nichteuropäer, Gläubige, Agnostiker und Atheisten. Die vielen Rückmeldungen aus Leseerfahrungen zeigen: Nicht nur der Urwalddoktor, auch der Denker als Erzähler entwickelt einen ungeheuren Sog an Wirkung und Faszination. Harald Steffahn hat das auf den Punkt gebracht: „Der Eindruck vor allem der lebenskundlichen Schriften liegt in der Spannweite seiner Persönlichkeit und Leistung, in seinem erfahrenen Wissen, seiner Selbstgewißheit über Weg und Ziel, erleuchtet von Demut und Dankbarkeit. Mancher Absatz ist gehärtet im Feuer der Ideale, in manchem schwingt das echte Pathos der Ergriffenheit. Ohne jeden Vorbehalt ist zu sagen, daß Albert Schweitzer unter denen im deutschen Sprachraum, die über sich selbst geschrieben haben, in der allerersten Reihe steht. Es gibt manchen Gleichrang, nichts Größeres.

Speziell die Kindheits- und Jugenderinnerungen gehören zum unverlierbaren Bestand unter den Selbstzeugnissen vom Werden und Wachsen, In der Gattung Autobiographie ist diesen sechzig Druckseiten nichts Ebenbürtiges gegenüberzustellen. Lauter kleine Erzähleinheiten, vom Bindegewebe der Datierung nur sparsam durchzogen, zeigen auf unbemühte, weil selbstkritische Weise einen großen moralischen Erzieher. Wenn er Wege des Humanen weist, so ist er selber darin zuerst fehlgegangen und zeigt es freimütig: am Beispiel von Selbstmitleid, Jähzorn oder Verspotten, von umweltquälender Diskutiersucht und Besserwisserei. Aber auch der trotzige Charakter scheint früh auf. In absoluten Überzeugungen ist er kompromißlos und nimmt dafür selbst Drangsal in Kauf. Manche Abschnitte in ihrer schicksalhaften Didaktik behält man fürs Leben: vom Vogelschießen, vom ‚Herrenbüble’, vom Juden Mausche, dem ahnungslosen Lehrmeister des Duldens. Von Mausche habe ich zum ersten Male gelernt, was es heißt, in Verfolgung stille zu schweigen.

Die Schlußgedanken der Jugendrückschau sind ein Brevier in Lebenskunst. Abgelöst von dazugehörigen Begebenheiten, wirken die elf Seiten in ihren konzentrierten Einsichten wie eine Sinnspruch-Sammlung: etwa der vom Jugendidealismus, in welchem der Mensch die Wahrheit (erschaut), oder der von der Kälte … unter den Menschen, weil wir nicht wagen, uns so herzlich zu geben, wie wir sind; dann, dass das Wirken der Kraft … geheimnisvoll sei oder dass, was ein Mensch an Gütigkeit in die Welt hinausgibt, … an den Herzen und an dem Denken der Menschen (arbeitet). Wer könnte gerade dies berechtigter behaupten als einer, der so oft Herzen und Denken anderer bewegt hat …“ (Aus: Harald Steffahn: „Mein Leben ist mir ein Rätsel – Begegnungen mit Albert Schweitzer“, S. 141ff).

Zurück zu den ersten Schritten mit Albert Schweitzer. Je näher es dem Abitur entgegen ging, desto intensiver wurde der literarische Umgang mit ihm. Gründlich gelesen habe ich Teile seiner Kulturphilosophie („Verfall und Wiederaufbau der Kultur“ und „Kultur und Ethik“), auch immer wieder „Aus meinem Leben und Denken“ studiert. Dieser autobiographische Bericht ist eine einzigartige „Werkbesichtigung“, dazu eine meisterhafte Nachzeichnung seiner Lebens- und Denkbewegungen. Hier wird in anspruchsvoller Erzählform deutlich, welches Zusammenspiel, welche großartige Harmonie „Hirn, Herz und Hand“ in diesem Leben gefunden haben.

So wurde die literarische Begegnung zu einer wichtigen Station. Sie wuchs sich zu einem entscheidenden Haltepunkt aus – im doppelten Sinn des Wortes. Albert Schweitzer war letztlich schuld daran, dass ich nach dem Abitur Theologie studieren und Pfarrer werden wollte. Die ursprüngliche Studienabsicht – Hoch- und Tiefbau an der TH – hatte keine Chance mehr.

Ernüchterung: der gefeierte Urwalddoktor – der gemiedene Theologe

Das Studium der evangelischen Theologie absolvierte ich ab Sommersemester 1954 bis einschließlich Wintersemester 1958/59 an den Universitäten Mainz, Heidelberg, Utrecht/ Niederlande (Stipendium Bernadinum) und Basel. In Mainz, Heidelberg und Utrecht – von Albert Schweitzer, dem Theologen, keine Spur. Gemieden, unerwähnt, übergangen. Ach ja: Die Geschichte der „Leben-Jesu-Forschung“ wurde als großartiges, glänzend geschriebenes, historisches Werk gewürdigt, die am Ende vorgetragenen Erkenntnisse und Wertungen jedoch durchweg als „überholt“, „einseitig“, „unhaltbar“ und „voreingenommen“ eingestuft. Kurz: Um die Mitte des Jahrhunderts trug der lebendige, in aller Welt gefeierte Urwaldarzt mit drei glänzend erworbenen Doktorhüten und vielen Doktorhüten honoris causa den großen Ketzerhut, der ihm von den meisten zeitgenössischen Theologen aufgesetzt wurde. Nur wenige in Deutschland fanden das anmaßend, schäbig und eng. In Basel, Bern und Zürich, überhaupt in der Schweiz, hatte Albert Schweitzer eine kleine Gefolgschaft, die auch in seinem Sinne publizierte. Die Professoren Martin Werner und Ulrich Neuenschwander in Bern, Fritz Buri in Basel bekannten sich zu seinem Werk, kämpften und publizierten, setzten neue Akzente. Der Einsatz war nicht vergeblich. Nach mehr als einem halben Jahrhundert ist auch der Theologe Albert Schweitzer wieder in die theologischen Gesprächsrunden zurückgekehrt, hat neue Aufmerksamkeit und Leserschaft gefunden. Die restaurativen Zeiten scheinen, im Protestantismus zumindest, vorbei zu sein.

Was hatte Schweitzer angestellt, gedacht, geforscht und geschrieben, dass ihm in der Theologenzunft eine solche Gegnerschaft erwuchs?

Der junge Privatdozent hatte um das Jahr 1900 in seinen Forschungen zum historischen Jesus entdeckt, dass alle Vorgänger, die seit dem Aufklärungszeitalter mit dieser Frage beschäftigt waren, eine Menge Erkenntnisse zu Tage gefördert hatten, letztlich jedoch den historischen Jesus modern zurechtgemacht hatten, bis er ihren Vorstellungen entsprach. Das hat Albert Schweitzer in seiner groß angelegten Geschichte der „Leben-Jesu-Forschung“ kritisch aufgedeckt. Albert Schweitzers Lösungsangebot zum Verständnis des historischen Jesus war die sogenannte „konsequente Eschatologie“. Das heißt: Jesus von Nazareth lebte und wirkte in seiner Zeit ganz in den Vorstellungen der spätjüdischen Apokalyptik. Er erwartete den Einbruch und Anbruch des Reiches Gottes für seine Zeit in übernatürlicher Weise. Mit ungeheurer ethischer Energie wollte er das Gottesreich herbeizwingen. Um das zu erreichen ging er in den Tod ans Kreuz. 

Aber er irrte, natürlich auch seine Anhängerschaft, ebenfalls das gesamte Urchristentum einschließlich Paulus. Das war damals nicht nur für die konservativ-frommen Kreise, sondern auch für die besonders in Straßburg zahlreich vertretenen liberalen, fortschrittlichen Christen und Theologen eine ungeheure Provokation. Hier einige Auszüge aus den Schlussbemerkungen der „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung “: Es ist der Leben-Jesu-Forschung merkwürdig ergangen. Sie zog aus, um den historischen Jesus zu finden, und meinte, sie könnte ihn dann, wie er ist, als Lehrer und Heiland in unsere Zeit hineinstellen. Sie löste die Bande, mit denen er seit Jahrhunderten an den Felsen der Kirchenlehre gefesselt war, und freute sich, als wieder Leben und Bewegung in die Gestalt kam und sie den historischen Menschen Jesus auf sich zukommen sah. Aber er blieb nicht stehen, sondern ging an unserer Zeit vorüber und kehrte in die seinige zurück. Das eben befremdete und erschreckte die Theologie der letzten Jahrzehnte, daß sie ihn mit allem Deuteln und aller Gewalttat in unserer Zeit nicht festhalten konnte, sondern ihn ziehen lassen musste. Er kehrte in die seine zurück mit derselben Notwendigkeit, mit der das befreite Pendel sich in seine ursprüngliche Lage zurückbewegt.


Das historische Fundament des Christentums, wie es die rationalistische, die liberale und die moderne Theologie aufgeführt haben, existiert nicht mehr, was aber nicht heißen will, dass das Christentum deshalb sein historisches Fundament verloren hat. Die Arbeit, welche die historische Theologie durchführen zu müssen glaubte und die sie in dem Augenblick, wo sie der Vollendung nahe ist, zusammenbrechen sieht, ist nur die Backsteinumkleidung des wahren, unerschütterlichen, historischen Fundaments, das von jeder geschichtlichen Erkenntnis und Rechtfertigung unabhängig ist, weil es eben da ist. Jesus ist unserer Welt etwas, weil eine gewaltige geistige Strömung von ihm ausgegangen ist und auch unsere Zeit durchflutet. Diese Tatsache wird durch eine historische Erkenntnis weder erschüttert noch gefestigt. …

Unser Verhältnis zum historischen Jesus muss zugleich ein wahrhaftiges und ein freies sein. Wir geben der Geschichte ihr Recht und machen uns von seinem Vorstellungsmaterial frei. Aber unter den dahinter stehenden gewaltigen Willen beugen wir uns und suchen ihm in unserer Zeit zu dienen, daß er in dem unsrigen zu neuem Leben und Wirken geboren werde und an unserer und der Welt Vollendung arbeite. Darin finden wir das Eins-Sein mit dem unendlichen sittlichen Weltwillen und werden Kinder des Reiches Gottes. … (Aus: Albert Schweitzer, „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“, GW 3, S. 873f u. 885).

Fremdheit, Ablehnung und gar Feindschaft wurden dem Theologen Albert Schweitzer entgegengebracht, so jedenfalls meine Erfahrung an den Fakultäten in Mainz, Heidelberg und Utrecht. In Basel war es, wie gesagt, anders. Deshalb wechselte ich zum Abschluss des Studiums nach Basel, um bei dem Schweitzer-Schüler Fritz Buri zu hören. Es war die Zeit, da in Basel Karl Barth und Karl Jaspers noch die herausragenden Größen in den Geisteswissenschaften waren. Gerade in Basel, wo der große neokonservative Theologe Karl Barth viele Studenten um die „Kirchliche Dogmatik“ sammelte, war das Denken in den Spuren Albert Schweitzers zwar immer noch in der Minderheit. Aber es war eine starke, qualifizierte Minderheit, die auch die Kirchengemeinden prägte.

In einem Brief vom 17./18. Juli 1955 schreibt Albert Schweitzer an „Herrn Prof. Dr. Fritz Buri“, damals noch a.o. Professor an der Universität und Hauptpfarrer am Basler Münster: „Lieber Freund! Ich weiß, dass meine Werke aus einer Zeit stammen, die vor der jetzigen ist. Sie gehören in manchem, von heute betrachtet, schon der Geschichte an. Aber in der Geschichte stehe ich da als einer, der das Werk des Rationalismus, der Ehrfurcht vor dem sachlichen Denken nach dem romantischen Intermezzo, weiterzuführen und zu vertiefen unternahm, als der, der aus der naturwissenschaftlichen Erkenntnis den Schluss zog, dass wir unsere Lebensanschauung nicht auf eine befriedigende Welterkenntnis gründen können, sondern auf ein Erleben von uns selbst und der Welt in uns. In der Ethik glaube ich durch die Idee der Ehrfurcht vor dem Leben, eine Vertiefung und eine Verlebendigung angeregt zu haben. Und in der Theologie bin ich bestrebt gewesen, auf das Wesen des Evangelischen, der ursprünglichen [lieben], von der Idee des Reiches Gottes beherrschten und von Jesus verlangten Frömmigkeit zurückzugehen und diese den Menschen wieder zugänglich zu machen, weil sie das Grosse Einfache ist, das uns Licht auf unserem Erdenwege ist. Du bist für mich der Jünger, der dies der neuen Zeit in einer ihrer Denkweisen nahe bringen will. Tue es, und diene ihr damit. Es ist eine Aufgabe, die du als die Deine erkannt hast. Möge dir gelingen dabei die tiefe Einfachheit des Evangelischen zu bewahren“ (Aus: Albert Schweitzer /Fritz Buri, „Existenzphilosophie und Christentum“, Briefe 1935-1964, München 2000, S. 153).

„Das Wesen des Evangelischen, die von Jesus verlangte Frömmigkeit den Menschen wieder zugänglich zu machen“, bedeutet, dass bei der Auslegung des Neuen Testaments das geschichtlich Fremde als solches zu verstehen ist, statt es dem eigenen Vorstellen gefügig zu machen. Außerdem darf das Zusammendenken von Eschatologie und Historie als theologische Aufgabe nicht preisgegeben werden, weil sonst das Proprium der biblischen Botschaft verspielt wird.

Von Gegnern und Anhängern des Theologen Albert Schweitzer wird heute anerkannt, dass er nicht nur bedeutende theologische Werke verfasst hat, die von bleibender Aktualität sind, weil darin die Hauptprobleme des Neuen Testaments scharfsinnig und klar dargestellt sind. So hat er mit der „konsequenten Eschatologie“ ein Lösungsangebot unterbreitet zum Verstehen des Verhältnisses Jesus – Paulus. Das heißt: Wie ist der Zusammenhang von der Predigt des Jesus von Nazareth vom Reiche Gottes und der Christusdogmatik des Apostels Paulus (der Christus „dem Fleische nach“ nicht kennt) zu erklären?

Harald Steffahn hat in „Mein Leben ist mir ein Rätsel – Begegnungen mit Albert Schweitzer“ (S. 97) den Grundkonflikt klar beschrieben: „Die Geister scheiden sich nun daran, was vorrangig zu gelten habe: das ethische Wollen Jesu nachzuvollziehen, vorösterlich, ohne Rücksicht auf Lehrinhalte; oder vom nachöstlichen Christus aus christologisch, ‚glaubensgerecht’  zu argumentieren (was sittliches Handeln natürlich einbegreift). Beide Seiten stehen in ihrem Recht, obwohl die erstere Partei die blutvollere, geistig unabhängigere Art des Christseins verkörpert. Zwischen beiden Lagern bestehen selbstverständlich auch Mischformen theologischer Lehranschauung und Predigtweise.

Beim alemannischen Querschädel aus Günsbach kommt etwas Wichtiges hinzu, wenn man nach den Gründen für sein lockeres Verhältnis zu den christlichen Dogmen fragt. Wollte man ihn überzeugen, so musste es intellektuell nachvollziehbar und einzusehen sein. Vor den Glaubensgefilden erhebt sich sperrig die Barriere des Denkens. Wo jemand ein Entweder-Oder verlangt, macht er nicht mit. Er weigert sich zuzustimmen, dass vor dem Glauben das Denken verstummen müsse.

Ich muss gestehen: Wenn es um eine Entscheidung in diesem Grundkonflikt gegangen ist, habe ich mich immer dem „alemannischen Querschädel aus Günsbach“ ganz nahe gewusst und zu ihm bekannt. 

Rückblick: Straßburg 1900 – Albert Schweitzers Stadt

Für den 1875 geborenen Elsässer Albert Schweitzer lag es, auf Grund der Familientradition, nahe, das Theologiestudium an der Straßburger Universität zu beginnen: „Die Straßburger Universität stand damals in voller Blüte. Durch keine Traditionen gehemmt, suchten Lehrer und Studierende miteinander das Ideal einer neuzeitlichen Hochschule zu verwirklichen. Bejahrte Professoren gab es fast keine in dem Lehrkörper. Ein frischer, jugendlicher Zug ging durch das Ganze.

Ich hörte zugleich in der theologischen und in der philosophischen Fakultät …

Wie dankbar empfand ich es, dass die deutsche Universität den Studenten in seinen Studien nicht so bevormundet und ihn nicht durch ständige Examen so in Atem hält, wie es in ändern Staaten der Fall ist, und daß sie ihm die Möglichkeit selbständiger wissenschaftlicher Arbeit bietet!

Die damalige Theologische Fakultät zu Straßburg hatte ausgesprochen freisinnigen Charakter. …“(Albert Schweitzer, „Aus meinem Leben und Denken“, GW1, S. 27 und S. 31).

Schon früh fällt der Student durch seine Vielseitigkeit und Konzentration des Arbeitens auf. Er verliert sich nie im „Unelementaren“, wie er selbst sagt. Das zeichnet ihn aus bei seinen philosophischen und theologischen Abschlussexamina und bei den Dissertationen. Einer seiner Schüler, Willy Bremi, hat dazu ausgeführt: „Zu einem Phänomen erster Ordnung wird er durch den elementaren Charakter seines Lebens und Denkens.“ In einem Brief an den Philosophen Oskar Kraus weist er selber auf diesen Punkt: „’Das, die Qualität der Weltanschauung… das ist die Hauptsache.’ Dass er die wesentlichen Dinge ernst nimmt, zeigt sich methodisch darin, dass er immer auf die Hauptthemen lossteuert. Er ist frei von dem Fehler, den er einmal der Philosophie des 19.Jahrhunderts vorwirft: ‚Sie verlor sich ins Unelementare.’ Auf jedem Gebiet ergreift er ein Zentralproblem und nur dies eine. 

Als Musiker bemüht er sich ausschließlich um J. S. Bach. Als Philosoph geht er aus von Kant. Als Theologe schreibt er über Jesus und Paulus. In der Religionsvergleichung bearbeitet er Indien und China (nicht die Primitiven, unter denen er als Arzt wirkt). In der deutschen Dichtung fesselt ihn Goethe. Als Kulturdenker beschäftigt ihn ausschließlich die Ethik. Als Arzt wendet er sich an den arztlosen Teil der Menschheit. Randfragen läßt er, wo immer es angeht, beiseite. Diesem Drängen zum Zentralen entspricht sein knapper Stil, dessen Bildhaftigkeit oft von großer Schönheit ist. In der Ethik ist der Ausdruck ‚Ehrfurcht vor dem Leben’  durch ihn in Umlauf gekommen, in der Theologie der Terminus ‚konsequente Eschatologie’“ (Willy Bremi, „Der Weg des protestantischen Menschen, von Luther bis Albert Schweitzer“, Zürich 1953, S.442).

Elly Heuss-Knapp, die Gattin des späteren deutschen Bundespräsidenten Theodor Heuss, hat Mentalitätsverfassung und Milieu der akademischen Jugend in jenen erstaunlichen Jahren nach der Jahrhundertwende in ihren Memoiren bemerkenswert festgehalten: „Wenn ich an die jungen Menschen zurückdenke, die damals in Strassburg mit uns Rad fuhren, Vorträge hielten, Musik machten und Probleme wälzten, so ist mir klar, dass wenige Jahre später daraus eine Gruppe der Jugendbewegung geworden wäre. Nur das Wort gab es damals noch nicht, alle ihre Elemente waren vorhanden: die Sehnsucht der in enger Festung lebenden Jugend, in die Natur hinauszukommen, die Absonderung von den überlebten Konventionen der guten Gesellschaft, also ein Stück Kulturkritik, und das stolze Gefühl des Anbruchs einer neuen Zeit. Es waren begabte Menschen in diesem Kreis …

Der bedeutendste, das war uns immer klar, war Albert Schweitzer, der Theologe, Philosoph, Bachbiograph und Orgelspieler. Plötzlich überraschte er uns mit der Mitteilung, er werde umsatteln und Medizin studieren, um im Urwald den Negern zu helfen. Er hat uns seine Gründe wohl gesagt; aber verstanden haben wir ihn nicht ganz. Später schrieb ich ihm einmal, dass ich ihn immer erst zehn Jahre später halbwegs verstehen kann in allem, was er tut und was er schreibt. Wir ahnten indes, dass es Berufung im höchsten Sinne war, gegen die es keine Einwendung gibt. …

Acht Tage nach seinem Physikum traute er uns. Ich lese in seiner Rede die Worte: ‚Das hohe Glück in diesem Augenblick ist nicht, dass zwei Menschen sich innerlich geloben: wir wollen füreinander leben, sondern dass dies in ihren Gedanken zugleich bedeutet: wir wollen miteinander für etwas leben’“ (Elly Heuss-Knapp, „Ausblick vom Münsterturm“, Tübingen 1954).

Wenn es um die Wahrheitssuche geht, ist der Theologe und Philosoph Albert Schweitzer auf Katheder und Kanzel gleichermaßen klar, unerbittlich und kompromisslos. Auf der Kanzel spielt der seelsorgerische Aspekt die entscheidende Rolle. So sind seine Predigten nicht mit dogmatischen Richtigkeiten überfrachtet, keine „Lehrpredigten“, sondern bunt gemischt mit Aussagen persönlicher Frömmigkeitserfahrung, Urteilskraft, Erfordernissen des Alltags und Ratgeberschaft. Was er später über seine Predigtweise im Spital in Lambarene sagt, ist auch – mutatis mutandis – dem Straßburger Prediger in seinen Predigten immer schon wichtig gewesen, und er sagt es in unverwechselbarer schlichter, jedem zugänglicher Sprache mit einfachen Bildern und Vergleichen. Seine Analyse: „Es besteht also eine große natürliche Aufnahmefähigkeit für das Elementare der Religion. Das Historische an dem Christentum liegt dem Eingeborenen naturgemäß fern. Er lebt ja in einer geschichtslosen Weltanschauung. Die Zeit zwischen Jesus und uns kann er nicht ermessen, auch die Glaubenssätze, in denen ausgesprochen ist, auf welche Weise die Erlösung nach dem göttlichen Weltplan vorbereitet und verwirklicht worden sein soll, sind ihm nicht leicht begreiflich zu machen. Dafür aber hat er ein elementares Bewusstsein von der Erlösung als solcher. Das Christentum ist für ihn das Licht, das in die Finsternis der Angst scheint. …

‚Ich lag in schweren Banden Du kommst und machst mich los.’

Dieses Wort aus Paul Gerhardts Adventslied spricht wie kein anderes aus, was das Christentum für den primitiven Menschen ist. Immer und immer wieder muss ich daran denken, wenn ich auf einer Missionsstation am Gottesdienst teilnehme.

Hoffnungen und Befürchtungen für das Jenseits spielen in der Religion der Primitiven bekanntlich keine Rolle, Das Naturkind fürchtet den Tod nicht, sondern sieht ihn als etwas Natürliches an. …

Nie habe ich das Sieghaft-Elementare in den Gedanken Jesu so empfunden, als wenn ich in der großen Schulbaracke zu Lambarene, die als Kirche dient, den Eingeborenen die Bergpredigt und die Gleichnisse des Herrn und die Sprüche des Apostels Paulus von dem neuen Dasein, in dem wir wandeln, auslegen durfte“ (Albert Schweitzer, „Zwischen Wasser und Urwald“, GW 1, S. 456f).

Die Predigten, die in einem Nachlassband („Predigten 1898-1948“) gesammelt sind auf 1375 Seiten, haben allesamt etwas Unverbrauchtes, Unbefangenes und Unverkrampftes. Hier spricht eine Frömmigkeit, die zu Herzen geht und weit davon entfernt ist, in Sachen des Glaubens „Verstandesopfer“ zu fordern. Im Gegenteil: Einem Studenten, der ihm gesteht, dass er mit der Dogmatik Schwierigkeiten habe, sagt er augenzwinkernd: „Wenn der Herrgott in Dogmatik geprüft worden wäre, dann wäre er bestimmt durchgefallen.“

Zusammenhang: Von Kanzel und Katheder ins Spital

In der ständigen Pendelbewegung zwischen Kanzel und Katheder, durch die Verkündigung der Bach’schen Musik und durch die tief empfundene Dankbarkeit für die anvertrauten Gaben und den „Lohn“ der Anstrengungen in Gestalt der akademischen und künstlerischen Karriere reift der Plan: Ausstieg und Neuanfang.

Folter ohne Lärm: Medizinstudium mit 30! Dazu die vielen „Nebenbeschäftigungen“, nicht zuletzt in der Kirche. Hinzu kommt: Ungesicherte Existenz, Kampf um Mittel für das wohlkalkulierte afrikanische Abenteuer. Er, der verketzerte Theologe und freisinnige Christ, hatte lange mit den „rechtgläubigen“ Herrn der „Pariser Missionsgesellschaft“ kämpfen und verhandeln müssen, um überhaupt afrikanischen Boden unter die Füße zu bekommen. Der Preis für den liberalen und rational denkenden Jesusmystiker und theologisch versierten Prediger war hoch: „Stumm wie ein Karpfen“. So wolle er sein. Das hatte er den Herren in Paris versprochen, die ihn eh als Missionar abgelehnt hatten. An Karfreitag 1913 war er von Günsbach aus aufgebrochen, zusammen mit seiner Frau Helene. Nun galt es, am Ufer des Ogowe-Flusses, in Lambarene, umzusetzen, was er als Programm und Bekenntnis am Ende der „Leben-Jesu-Forschung“ ausgesprochen hatte: „Im letzten Grunde ist unser Verhältnis zu Jesus mystischer Art. Keine Persönlichkeit der Vergangenheit kann durch geschichtliche Betrachtung oder durch Erwägungen über ihre autoritative Bedeutung lebendig in die Gegenwart hineingestellt werden. Eine Beziehung zu ihr gewinnen wir erst, wenn wir in der Erkenntnis eines gemeinsamen Wollens mit ihr zusammengeführt werden, eine Klärung, Bereicherung und Belebung unseres Willens in dem ihrigen erfahren und uns selbst in ihr wiederfinden. In diesem Sinne ist überhaupt jedes tiefere Verhältnis zwischen Menschen mystischer Art. Unsere Religion, insoweit sie sich als spezifisch christlich erweist, ist also nicht so sehr Jesuskult als Jesusmystik. ….

Als ein Unbekannter und Namenloser kommt er zu uns, wie er am Gestade des Sees an jene Männer, die nicht wußten, wer er war, herantrat. Er sagt dasselbe Wort: Du aber folge mir nach! und stellt uns vor die Aufgaben, die er in unserer Zeit lösen muß. Er gebietet. Und denjenigen, welche ihm gehorchen, Weisen und Unweisen, wird er sich offenbaren in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an Frieden, Wirken, Kämpfen und Leiden erleben dürfen, und als ein unaussprechliches Geheimnis werden sie erfahren, wer er ist …“ (Albert Schweitzer, „Geschichte der Leben.Jesu-Forschung“, GW 3, S. 886f).

Der erste Afrikaaufenthalt steht unter keinem guten Stern. Der Erste Weltkrieg bricht aus. Schweitzer wird mit Verbot ärztlicher Tätigkeit unter Hausarrest gestellt. Die erzwungene Unterbrechung seiner ärztlichen Tätigkeit wird der Anfang seiner Kulturphilosophie. Auf einer Flussfahrt auf dem Ogowe 1915 steht er plötzlich vor seinem geistigen Auge, der Begriff, nach dem er lange gesucht hatte: „Langsam krochen wir den Strom hinauf, uns mühsam zwischen den Sandbänken – es war trockene Jahreszeit – hindurchtastend. Geistesabwesend saß ich auf dem Deck des Schleppkahnes, um den elementaren und universellen Begriff des Ethischen ringend, den ich in keiner Philosophie gefunden hatte. Blatt um Blatt beschrieb ich mit unzusammenhängenden Sätzen, nur um auf das Problem konzentriert zu bleiben. Am Abend des dritten Tages, als wir bei Sonnenuntergang gerade durch eine Herde Nilpferde hindurchfuhren, stand urplötzlich, von mir nicht geahnt und nicht gesucht, das Wort ‚Ehrfurcht vor dem Leben’  vor mir. Das eiserne Tor hatte nachgegeben; der Pfad im Dickicht war sichtbar geworden. Nun war ich zu der Idee vorgedrungen, in der Welt- und Lebensbejahung und Ethik miteinander enthalten sind! Nun wusste ich, dass die Weltanschauung ethischer Welt- und Lebensbejahung samt ihren Kulturidealen im Denken begründet ist“ Albert Schweitzer, „Aus meinem Leben und Denken“, GW 1, S. 269).

Zwei Schlüsseltexte eröffnen den Zugang zu Schweitzers Philosophieren und zu seiner Ethik.

Erstens: „Die unmittelbarste Tatsache des Bewusstseins des Menschen lautet: ‚Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.’ Als Wille zum Leben inmitten von Willen zum Leben erfasst sich der Mensch in jedem Augenblick, in dem er über sich selbst und über die Welt um sich herum nachdenkt. Wie in meinem Willen zum Leben Sehnsucht ist nach dem Weiterleben und nach der geheimnisvollen Gehobenheit des Willens zum Leben, die man Lust nennt, und Angst vor der Vernichtung und der geheimnisvollen Beeinträchtigung des Willens zum Leben, die man Schmerz nennt: also auch in dem Willen zum Leben um mich herum, ob er sich mir gegenüber äußern kann oder stumm bleibt.

Zugleich erlebt der denkend gewordene Mensch die Nötigung, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. Er erlebt das andere Leben in dem seinen. Als gut gilt ihm: Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert bringen; als böse: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten. Dies ist das denknotwendige, absolute Grundprinzip des Sittlichen“ (Albert Schweitzer, „Aus meinem Leben und Denken“, GW 1, S. 169ff).

Zweitens: „Alle Probleme der Religion gehen zuletzt auf eines zurück: dass ich Gott in mir anders erlebe, als ich ihn in der Welt erkenne. In der Welt tritt er mir als rätselhafte, wunderbare Schöpferkraft entgegen; in mir offenbart er sich als ethischer Wille. In der Welt ist er unpersönliche Kraft, in mir offenbart er sich als Persönlichkeit. Der Gott, der in dem Denken über die Welt erkannt wird, und der, den ich als ethischen Willen erlebe, lassen sich nicht zusammenbringen. Beide sind eins; aber wie sie es sind, verstehe ich nicht. Welches aber ist die entscheidende Erkenntnis Gottes? Die, die ich als ethischen Willen erfahre. …

Lassen Sie mich ein Gleichnis gebrauchen. Es gibt einen Ozean. Kaltes Wasser, unbewegt. In dem Ozean aber ist der Golfstrom, heißes Wasser, das vom Äquator zum Pole fließt. Fragen Sie alle Gelehrten, wie es physikalisch vorstellbar ist, dass zwischen den Wassern des Ozeans, wie zwischen zwei Ufern, ein Strom heißen Wassers fließt, bewegt in dem Unbewegten, heiß in dem Kalten. Sie können es nicht erklären. So ist der Gott der Liebe in dem Gott der Weltkräfte eins mit ihm und doch so ganz anders als er. Von diesem Strome lassen wir uns ergreifen und dahintragen“ (Albert Schweitzer, „Die Weltanschauung der indischen Denker“, GW 2, S. 710ff).

In den vorstehenden beiden Textblöcken zeigen sich die entscheidenden Linien Schweitzer’schen Denkens. In der universalen Formel „Ehrfurcht vor dem Leben“ „treffen sich die Ströme der christlichen Überlieferung und des rationalen Denkens“, so Ulrich Neuenschwander, einer seiner theologischen und philosophischen Mitstreiter. Deutlich auch: Die reale Elementarerfahrung der „Sinnzwiespältigkeit“ des Daseins und der „grausigen Selbstentzweiung“ des Willens zum Leben führen ihn nicht in den resignativen Agnostizismus. Nein, die „Ehrfurcht vor dem Leben“ ist vielmehr philosophische Interpretation des christlichen Erlösungsweges. Schweitzer sieht hier das tiefste Anliegen des christlichen Glaubens durch das Denken begründet und formuliert. Heilsgeschehen ist eben nicht dogmatische Heilsgeschichte, sondern bleibt konkretes Fragment inmitten eines nicht deutbaren Universums. 

Von der so verstandenen „Ehrfurcht vor dem Leben“ kann er sagen: „Sie ist mir das Licht, das in der Finsternis scheint. Die Unwissenheit, unter die die Welt getan ist, ist von mir genommen. Ich bin aus der Welt erlöst. In Unruhe, wie sie die Welt nicht kennt, bin ich durch die Ehrfurcht vor dem Leben geworfen. Seligkeit, die die Welt nicht geben kann, empfange ich aus ihr. Wenn in der Sanftmut des Andersseins als die Welt ein anderer und ich uns in Verstehen und Verzeihen helfen, wo sonst Wille andern Willen quälen würde, ist die Selbstentzweiung des Willens zum Leben aufgehoben. Wenn ich ein Insekt aus dem Tümpel rette, so hat sich Leben an Leben hingegeben, und die Selbstentzweiung des Lebens ist aufgehoben. Wo in irgendeiner Weise mein Leben sich an Leben hingibt, erlebt mein endlicher Wille zum Leben das Eins-werden mit dem unendlichen, in dem alles Leben eins ist. Labung wird mir zuteil, die mich vor dem Verschmachten in der Wüste des Lebens bewahrt“ (Albert Schweitzer, „Kultur und Ethik“, GW 2, S. 382).

Natürlich muss Schweitzer zugestehen, dass es für das denkende Individuum verschiedene Wege gibt, auf das Bewusstsein des „Leben[s] inmitten von Leben“ zu reagieren. „Ehrfurcht vor dem Leben“ als Hingabe in aufbauendem Dienst am Leben ist eine Konsequenz, doch nicht die alleinige.

Hier ist die Wespentaille seines ethischen Philosophierens erkennbar. In diese Schwachstelle stoßen seine Kritiker mit unterschiedlichen Graden von Vehemenz, Souveränität und auch Bosheit. So zum Beispiel: Wie kann man nur auf einer rationalistischen Letztbegründung beharren! Oder: Zu appellativ, ohne Normen zu begründen! Der Ethiker Schweitzer – zu viel Prediger, Mahner und Ermunterer! Oder: Bei allem Respekt vor intuitiv-religiösen Denken – das Ehrfurchtsmotiv ist zu sehr religiös und paränetisch imprägniert! Außerdem: Sehr schillernde und unscharfe Begrifflichkeiten! Soweit einige Einwände in Kurzform.

Die Schulphilosophie in Gestalt der Phänomenologie, der Wertphilosophie und des Existenzialismus sind – mit Ausnahmen – an Schweitzer nicht ernstlich interessiert gewesen, sondern überheblich an ihm vorbei gegangen. Das gilt auch und vor allem von der sogenannten Kritischen Theorie, der Frankfurter Schule von Horkheimer über Adorno bis Habermas. Schweitzer selbst war auch nicht immer sanft und verletzungsfrei im Sinne von rücksichtsvoll beim Austeilen – aus Sorge um die „Ehrfurcht vor dem Leben“. So sprach er von „Cocktail- und Ratlosigkeitsphilosophien“. Er nannte neueste Philosophie „Denkakrobatik an den Geräten der Begriffe“. Oder im Bildvergleich: „Das ist, wie wenn man das Steuer eines Ozeandampfers einem, der einen Einbaum lenkte, anvertrauen sollte, einem, der seinen mit einem kleinen Segel ausgestatteten Einbaum lenkte“ (Albert Schweitzer, „Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben“, Kulturphilosophie III, 3. und 4. Teil, Werke aus dem Nachlass, S. 299).

Im Übrigen findet sich eine sehr freundschaftliche und klare Auseinandersetzung über einiges Grundlegendes in Schweitzers Denken im Nachlassband des theologischen und philosophischen Briefwechsels 1900-1965 mit dem Prager Philosophen Oskar Kraus (a.a.O., S. 429ff).

Auf die unterschiedlichen Diskussionslagen rund um die Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ kann hier nicht ausführlich eingegangen werden. Die Gesprächsbereitschaft von Anhängern und Gegnern hat mittlerweile zugenommen. Manche Veröffentlichungen, Fachtagungen und Symposien setzen sich mit dem Erbe des Schweitzer’schen Denkens auseinander. Selbst die entschiedensten Gegner des freisinnigen Elsässers müssen einräumen, dass selten eine solche Übereinstimmung von Leben, Denken und Handeln auf diesem Niveau in der jüngeren Menschheitsgeschichte zu konstatieren war.

Begegnung: November 1959 in Günsbach

Es war an einem Novembersonntagmorgen 1959. Fritz Buri, Theologieprofessor und Schweitzerschüler in Basel, hatte mir den Termin vermittelt. Mit dem Bus fuhr ich ins Münstertal nach Günsbach. Der Hausherr empfing mich persönlich an der Haustür. Eine knappe Stunde stand fürs Gespräch zur Verfügung. Ich merkte sogleich: Albert Schweitzer war schon im Aufbruch – zu seiner letzten Reise von Europa nach Afrika, wie er sofort bei der Begrüßung bemerkte. Ich hatte viele Fragen mitgebracht: Zum Jesusbild der konsequenten Eschatologie, zum Paulusverständnis, zur „Ehrfurcht vor dem Leben“ und zur Kulturphilosophie etc.. Aber ich konnte sie zunächst nicht loswerden. Denn Schweitzer fragte mich, z.B. nach meinen Erfahrungen im Studium, zur Theologie und Philosophie (schon im Fragen zeigte er sich bestens informiert), auch nach meinen ersten Erfahrungen im kirchlichen Dienst als Religionslehrer in der Berufsschule in Kaiserslautern. Ich erfuhr zu meinen Fragen nichts überraschend Neues, war jedoch verblüfft über die genaue Kenntnis gegenüber der Gesprächssituation in Theologie und Philosophie, dazu die Gelassenheit und Sicherheit im Blick auf eigene Positionen und künftige Diskurse. Er war überzeugt, dass die Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ auch in kommenden Zeiten Terrain gewinne, Herzen und Denken der Menschen besetze, weil sie fürs Überleben der Menschheit alternativlos sei. Es war eine beeindruckende „Audienz“.

Ausblick: Die „Ehrfurcht vor dem Leben“ und die Herausforderungen des Neoprimitivismus

Offenbar kurz vor seinem Tod schrieb Schweitzer den Text „Humanität“: „Die Ehrfurcht vor allem Leben wird als selbstverständlich und völlig dem Wesen der Menschen entsprechend anerkannt. In den Schulen lernen die Kinder sich mit der Kreatur befreunden. Dass wir damit von der unvollständigen zur vollständigen Humanitätsgesinnung fortschreiten und der naiven Unmenschlichkeit, in der wir noch befangen waren, entsagen, ist ein bedeutungsvolles Ereignis in der Geistesgeschichte der Menschheit. …

Nun heißt es für einen jeden von uns, die vollständige Gütigkeit, die unserem Wesen entspricht, zu betätigen, daß sie als eine sich in der Geschichte auswirkende Kraft offenbar werde und das Zeitalter der Humanität heraufführe.

In der Menschheitsgeschichte von heute handelt es sich darum, ob die Gesinnung der Humanität oder die Inhumanität zur Herrschaft gelangt.  Wenn es die der Inhumanität ist, die nicht darauf verzichten will, unter Umständen von den grausigen Atomwaffen, die heute zur Verfügung stehen, Gebrauch zu machen, ist die Menschheit verloren. Nur wenn die Humanitätsgesinnung, für die solche Waffen nicht in Betracht kommen, die Gesinnung der Inhumanität verdrängt, dürfen wir hoffend in die Zukunft blicken.

Die   Gesinnung   der   Humanität   hat   heute   weltgeschichtliche Bedeutung“ (Albert Schweitzer, „Humanität“, GW 5, S. 170f).

Albert Schweitzer ist am 4. September 1965 nach einem begnadeten, aufopferungsvollen Leben gestorben in der Gewissheit, dass seine Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ „als selbstverständlich und völlig dem Wesen der Menschheit entsprechend anerkannt“ werde, wie es in dem vorstehenden Text heißt. Schwer zu sagen, ob man diese Überzeugung völlig teilen kann. Zweifel müssen erlaubt sein.

Auf jeden Fall hat er mit seinen kulturphilosophischen Analysen und Erhebungen sowie mit seiner Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ eine tiefe Spur getreten, aus der die Menschheit nicht so leicht heraus kommt. So hat er dafür gesorgt, dass die anthropozentrische Beschränkung der traditionellen Ethik weitgehend aufgehoben worden ist. Ethisches Denken ist heute universell geweitet. Von planetarischer Verantwortung ist die Rede und von einer universalen ökologischen Aufmerksamkeit. Albert Schweitzer hat sich früh vernetzt mir herausragenden Gelehrten (z.B. Albert Einstein), um mit ganzem Einsatz vor den grausigen Gefahren des Atomtodes zu warnen und das Friedensdenken auf breiter Front zu bewegen. Außerdem hat er in seinem Nachlasswerk „Kulturphilosophie III“ dem „Neoprimitivismus“ entschieden den „Kampf“ angesagt, jener Haltung, die den wissenschaftlich-technischen Fortschritt rigoros nutzt, ohne mit ethischer Verantwortung für die Menschheit die Folgen zu berücksichtigen. In vielen Variationen mahnte er an, dass es ohne Selbstbegrenzung der Freiheit, ohne Verzicht und ohne Askese nicht weitergehen kann. Vom Schutz der Ozeane vor den Menschen bis hin zu den Gefahren der Genmanipulation muss alles der Treuhänderrolle der „Ehrfurcht vor dem Leben“ und dem „Prinzip Verantwortung“ (Hans Jonas) unterliegen. Albert Schweitzer und Hans Jonas laufen in der gleichen Staffel, wenn es im Rennen um die Zukunft der Menschheit um Sieg gehen soll.

Der Mythos Albert Schweitzer ist Gott sei Dank noch nicht verblasst. Doch kennen seine Bewunderer auch die harte denkerische Arbeit, die dahinter steht?

Die UNO hat späte Anerkennung geleistet – im Welthorizont. Sie hat einen Kongress im Rahmen der „University for Peace“ 1990 – zum 25. Todestag – Albert Schweitzer gewidmet, um seine Bedeutung für das 21. Jahrhundert in Erinnerung zu rufen: Den Mann, sein Leben, sein Denken und seine Tat. Unter den vielen Laudatoren, die Albert Schweitzer zu Lebzeiten und in den Jahren danach gewürdigt haben, ist mir eine Stimme ganz besonders wichtig, nämlich die des Heidelberger Philosophieprofessors Karl Löwith, den ich in meiner Heidelberger Studienzeit noch gehört und gehörig geschätzt habe. Karl Löwith (1897-1973), Soldat im Ersten Weltkrieg, musste nach 1933 Deutschland verlassen, kam über Italien nach Japan, später in die USA. Dort verfasste er mit Datum vom 14.1.1940 (übrigens dem Geburtstag Albert Schweitzers und seiner Tochter Rhena) für eine universitäre Anstellung den Bericht „Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933“. 

Im Rückblick auf seine Münchener Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg hält er fest die zeitlich unterschiedliche Begegnung mit dem großen Soziologen und Philosophen Max Weber (1864-1920) und Albert Schweitzer: „Außer Max Weber wüsste ich nur noch einen überragenden Deutschen zu nennen, der mir einen fürs Leben dauernden Eindruck gab: Albert Schweitzer. Dieser unvergleichliche Mensch, Christ, Arzt, Musiker und Gelehrte hielt an der Münchner Universität drei Vorträge, deren Sprache und Inhalt so effektlos wie eindringlich war. Ich habe nie wieder einen Redner gehört, der bloß durch die stille Macht seiner schlichten Persönlichkeit schon nach einigen wenigen, leise gesprochenen Sätzen eine mehr als tausendköpfige Zuhörerschaft so völlig zum Hörer gewann. Was von ihm ausging, war nicht wie bei Weber eine dämonische Macht, sondern der Ernst des Friedens und der Zauber der Mäßigkeit. Es ist ein Trost zu wissen, daß dieser Mann noch lebt und wirkt und das wahre Gesicht des Deutschen durch Krampf und Lüge hindurchträgt“ (Karl Löwith, „Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933“, Stuttgart 1986, S. 18).

Ich bin stolz darauf und dankbar, dass dieser Mann, geboren als Deutscher im Kaiserreich, durch neue Grenzziehung im Versailler Vertrag völkerrechtlich seit 1920 Franzose, in Selbstbezeichnung Elsässer, schon immer wahrgenommen als Europäer und überall angesiedelt als Weltbürger, Station und Aufenthalt im Namen und auch im Geist „meines“ jetzt 200 Jahre alten Gymnasiums gefunden hat, hoffentlich auch auf dem Katheder bekannt gemacht und in seinem Geist gelehrt wird. Nur so finden freies Denken und „Ehrfurcht vor dem Leben“, eben der Geist der Humanität, ihren Weg in Gegenwart und Zukunft.

Albert Schweitzer hat sein Vermächtnis jedenfalls in dem Satz auf den Punkt gebracht: „Das bleibende Haus, so hoffe ich, wird mein Denken sein.“

Wann und wie Albert Schweitzer in mein Leben und Denken trat, ist noch taufrisch in meiner Erinnerung: Vor gut 60 Jahren und im Streit zweier Theologen.

Nach der Konfirmation im Frühjahr 1949 im westlichsten Stadtteil von Kaiserslautern, Einsiedlerhof, liefen wir Konfirmanden nicht alle der Kirche davon, sondern blieben zusammen in der Jugendarbeit. Hier wurde immer Interessantes geboten aus den uns noch unbekannten Gefilden der Geschichte, der Gegenwartsprobleme und der Religion. „Bibelarbeit“, wie man das damals nannte, war keine Beschäftigungsandrohung, wenn die Disziplin sich lockerte. Sport, auch im Spezialfall Fußball, kam ebenfalls nicht zu kurz.

Zwei angehende Pfarrer, Vikare noch, inspirierten und moderierten locker und liberal. Als der eine nach einiger Zeit versetzt wurde, machte der Nachfolger in ähnlicher Weise weiter. Der Übergang schien unproblematisch und nahtlos zu sein. Doch der Schein trog. Ausgerechnet an Albert Schweitzer, damals wie heute einsame Größe und Vorbild gelebter Humanität, schieden sich die Geister. Es gab keine persönliche Verstimmung, allerdings harte Auseinandersetzung in der Beurteilung. Für den Vorgänger war Albert Schweitzer zwar auch ein „Genie der Menschlichkeit“, wie Winston Churchill, der englische Staatsmann, formuliert hatte, herausgehobenes Vorbild an energischer, fantasievoller und geistig anspruchsvoller Schaffenskraft und herausgehobenem Edelmut, aber kein Christ nach seinen traditionellen, wohl auch engen theologischen und kirchlichen Maßstäben, eben Christ und Theologe mit „Defiziten“ des „wahren“ Glaubens und der „richtigen“ Erkenntnis.

Der Nachfolger war ein theologischer und philosophischer Schweitzer-Schüler, hatte sich im Studium intensiv mit Schweitzers umfangreichen theologischen und philosophischen Werken beschäftigt und entsprechende Schlüsse gezogen. Für ihn war Schweitzer nicht nur der große Humanist der Gegenwart, sondern auch in seinem theologischen und philosophischen Denken Lehrer und Wegweiser glaubwürdigen Christseins in der Gegenwart.

Annäherung: Erste Spurensuche im Dialog

Als die beiden sich im Beisein der Gruppe über ihre total gegensätzlichen Positionen austauschten, waren wir Konfirmanden gebannt und gespannt, mit offenen Ohren, Augen und Mündern dabei, wundersam diszipliniert und geräuschlos. Es hat Eindruck gemacht, dass die beiden Kontrahenten nicht nach Art der „rabies theologorum“, wie Philipp Melanchthon gesagt hätte („Wut oder Rabaukentum der Theologen“), aufeinander eindroschen, sondern sich im „liebenden Kampf“ (so Karl Jaspers, 1883-1969) auseinandersetzten, der einzig angemessenen Methode, sich um richtige Erkenntnis und die Wahrheit zu streiten. Das Streitgespräch in der kleinen und unscheinbaren Arena der Jugendgruppe war die erste Station und der entscheidende Haltepunkt. Der Nachfolger vor allem hat derart mein Interesse und meine Neugier geweckt, dass ich seit über 60 Jahren ständig mit Albert Schweitzers theologischem und philosophischem Denken unterwegs bin und in Schweitzers „denkendem Glauben“ die – oder zumindest eine – entscheidende christliche Grundhaltung in Moderne und Postmoderne erkenne. Schweitzers Spuren im Denken zu folgen hieß für mich allerdings nie, blindlings und ungeprüft alle seine historischen, theologischen und philosophischen Beurteilungen, Festlegungen und Konsequenzen zu übernehmen, sondern in kritischem Ja und Nein, in ständiger, bohrender Zwiesprache mit ihm zu ringen.

Unverrückbarer Haltepunkt ist: „Das Christentum kann das Denken nicht ersetzen, sondern muss es voraussetzen… Von mir selbst weiß ich, dass ich durch Denken religiös und christlich blieb. Der denkende Mensch steht der überlieferten religiösen Wahrheit freier gegenüber als der nicht denkende, aber das Tiefe und Unvergängliche, das in ihr enthalten ist, erfasst er lebendiger als dieser“ (Albert Schweitzer, Aus meinem Leben und Denken, gesammelte Werke – GW1, S. 204 – auch Fischer TB Nr. 12876)

Entdeckung: Ein Denker, der erzählen kann

Albert Schweitzer in der kleinen Arena der evangelischen Jugend Einsiedlerhof, im Wettstreit der pastoralen Interpreten, im „Kampf ums Christentum“ – das zeigte bei mir Wirkung. Die Neugier war geweckt, nachhaltiges Interesse stellte sich ein. „Zwischen Wasser und Urwald“ fiel mir in die Hände. „Aus meiner Kindheit und Jugendzeit“ verdrängte Karl May. Erst später merkte ich, dass ich auf der richtigen Spur war, hat doch Hermann Hesse, der Literaturnobelpreisträger, geurteilt: „Von allem aber, was der große Kamerad geschrieben hat, liebe ich am meisten seine Kindheits- und Jugenderinnerungen. In diesen unvergesslichen Seiten, in denen Schweitzer schlicht von seinen Herkünften und ersten Lebensjahren erzählt, spürt man konzentriert das ganze Erbe enthalten, das er angetreten und so vorbildlich verwaltet hat. Und es weht da eine Innigkeit und Wärme des Herzens, die einen an die schönsten Kindheitsgeschichten deutscher Sprache, etwa die von Jung-Stilling, erinnert“ (Aus: Albert Schweitzer, Sein Denken und sein Weg, herausgegeben von Hans Walter Bähr, Tübingen 1962, S.107).

Später habe ich übrigens „Aus meiner Kindheit und Jugendzeit“ unzählige Male verschenkt an Menschen ganz verschiedenen Herkommens, Bildungsstandes, Alters und geistigen Zuschnitts, an Universitätsprofessoren und Gymnasiasten, Lehrlinge und Arbeiter, Gemeindeglieder und Pfarrer, Lehrer und Sportler, Alte und Junge, Europäer und Nichteuropäer, Gläubige, Agnostiker und Atheisten. Die vielen Rückmeldungen aus Leseerfahrungen zeigen: Nicht nur der Urwalddoktor, auch der Denker als Erzähler entwickelt einen ungeheuren Sog an Wirkung und Faszination. Harald Steffahn hat das auf den Punkt gebracht: „Der Eindruck vor allem der lebenskundlichen Schriften liegt in der Spannweite seiner Persönlichkeit und Leistung, in seinem erfahrenen Wissen, seiner Selbstgewißheit über Weg und Ziel, erleuchtet von Demut und Dankbarkeit. Mancher Absatz ist gehärtet im Feuer der Ideale, in manchem schwingt das echte Pathos der Ergriffenheit. Ohne jeden Vorbehalt ist zu sagen, daß Albert Schweitzer unter denen im deutschen Sprachraum, die über sich selbst geschrieben haben, in der allerersten Reihe steht. Es gibt manchen Gleichrang, nichts Größeres.

Speziell die Kindheits- und Jugenderinnerungen gehören zum unverlierbaren Bestand unter den Selbstzeugnissen vom Werden und Wachsen, In der Gattung Autobiographie ist diesen sechzig Druckseiten nichts Ebenbürtiges gegenüberzustellen. Lauter kleine Erzähleinheiten, vom Bindegewebe der Datierung nur sparsam durchzogen, zeigen auf unbemühte, weil selbstkritische Weise einen großen moralischen Erzieher. Wenn er Wege des Humanen weist, so ist er selber darin zuerst fehlgegangen und zeigt es freimütig: am Beispiel von Selbstmitleid, Jähzorn oder Verspotten, von umweltquälender Diskutiersucht und Besserwisserei. Aber auch der trotzige Charakter scheint früh auf. In absoluten Überzeugungen ist er kompromißlos und nimmt dafür selbst Drangsal in Kauf. Manche Abschnitte in ihrer schicksalhaften Didaktik behält man fürs Leben: vom Vogelschießen, vom ‚Herrenbüble’, vom Juden Mausche, dem ahnungslosen Lehrmeister des Duldens. Von Mausche habe ich zum ersten Male gelernt, was es heißt, in Verfolgung stille zu schweigen.

Die Schlußgedanken der Jugendrückschau sind ein Brevier in Lebenskunst. Abgelöst von dazugehörigen Begebenheiten, wirken die elf Seiten in ihren konzentrierten Einsichten wie eine Sinnspruch-Sammlung: etwa der vom Jugendidealismus, in welchem der Mensch die Wahrheit (erschaut), oder der von der Kälte … unter den Menschen, weil wir nicht wagen, uns so herzlich zu geben, wie wir sind; dann, dass das Wirken der Kraft … geheimnisvoll sei oder dass, was ein Mensch an Gütigkeit in die Welt hinausgibt, … an den Herzen und an dem Denken der Menschen (arbeitet). Wer könnte gerade dies berechtigter behaupten als einer, der so oft Herzen und Denken anderer bewegt hat …“ (Aus: Harald Steffahn: „Mein Leben ist mir ein Rätsel – Begegnungen mit Albert Schweitzer“, S. 141ff).

Zurück zu den ersten Schritten mit Albert Schweitzer. Je näher es dem Abitur entgegen ging, desto intensiver wurde der literarische Umgang mit ihm. Gründlich gelesen habe ich Teile seiner Kulturphilosophie („Verfall und Wiederaufbau der Kultur“ und „Kultur und Ethik“), auch immer wieder „Aus meinem Leben und Denken“ studiert. Dieser autobiographische Bericht ist eine einzigartige „Werkbesichtigung“, dazu eine meisterhafte Nachzeichnung seiner Lebens- und Denkbewegungen. Hier wird in anspruchsvoller Erzählform deutlich, welches Zusammenspiel, welche großartige Harmonie „Hirn, Herz und Hand“ in diesem Leben gefunden haben.

So wurde die literarische Begegnung zu einer wichtigen Station. Sie wuchs sich zu einem entscheidenden Haltepunkt aus – im doppelten Sinn des Wortes. Albert Schweitzer war letztlich schuld daran, dass ich nach dem Abitur Theologie studieren und Pfarrer werden wollte. Die ursprüngliche Studienabsicht – Hoch- und Tiefbau an der TH – hatte keine Chance mehr.

Ernüchterung: der gefeierte Urwalddoktor – der gemiedene Theologe

Das Studium der evangelischen Theologie absolvierte ich ab Sommersemester 1954 bis einschließlich Wintersemester 1958/59 an den Universitäten Mainz, Heidelberg, Utrecht/ Niederlande (Stipendium Bernadinum) und Basel. In Mainz, Heidelberg und Utrecht – von Albert Schweitzer, dem Theologen, keine Spur. Gemieden, unerwähnt, übergangen. Ach ja: Die Geschichte der „Leben-Jesu-Forschung“ wurde als großartiges, glänzend geschriebenes, historisches Werk gewürdigt, die am Ende vorgetragenen Erkenntnisse und Wertungen jedoch durchweg als „überholt“, „einseitig“, „unhaltbar“ und „voreingenommen“ eingestuft. Kurz: Um die Mitte des Jahrhunderts trug der lebendige, in aller Welt gefeierte Urwaldarzt mit drei glänzend erworbenen Doktorhüten und vielen Doktorhüten honoris causa den großen Ketzerhut, der ihm von den meisten zeitgenössischen Theologen aufgesetzt wurde. Nur wenige in Deutschland fanden das anmaßend, schäbig und eng. In Basel, Bern und Zürich, überhaupt in der Schweiz, hatte Albert Schweitzer eine kleine Gefolgschaft, die auch in seinem Sinne publizierte. Die Professoren Martin Werner und Ulrich Neuenschwander in Bern, Fritz Buri in Basel bekannten sich zu seinem Werk, kämpften und publizierten, setzten neue Akzente. Der Einsatz war nicht vergeblich. Nach mehr als einem halben Jahrhundert ist auch der Theologe Albert Schweitzer wieder in die theologischen Gesprächsrunden zurückgekehrt, hat neue Aufmerksamkeit und Leserschaft gefunden. Die restaurativen Zeiten scheinen, im Protestantismus zumindest, vorbei zu sein.

Was hatte Schweitzer angestellt, gedacht, geforscht und geschrieben, dass ihm in der Theologenzunft eine solche Gegnerschaft erwuchs?

Der junge Privatdozent hatte um das Jahr 1900 in seinen Forschungen zum historischen Jesus entdeckt, dass alle Vorgänger, die seit dem Aufklärungszeitalter mit dieser Frage beschäftigt waren, eine Menge Erkenntnisse zu Tage gefördert hatten, letztlich jedoch den historischen Jesus modern zurechtgemacht hatten, bis er ihren Vorstellungen entsprach. Das hat Albert Schweitzer in seiner groß angelegten Geschichte der „Leben-Jesu-Forschung“ kritisch aufgedeckt. Albert Schweitzers Lösungsangebot zum Verständnis des historischen Jesus war die sogenannte „konsequente Eschatologie“. Das heißt: Jesus von Nazareth lebte und wirkte in seiner Zeit ganz in den Vorstellungen der spätjüdischen Apokalyptik. Er erwartete den Einbruch und Anbruch des Reiches Gottes für seine Zeit in übernatürlicher Weise. Mit ungeheurer ethischer Energie wollte er das Gottesreich herbeizwingen. Um das zu erreichen ging er in den Tod ans Kreuz. 

Aber er irrte, natürlich auch seine Anhängerschaft, ebenfalls das gesamte Urchristentum einschließlich Paulus. Das war damals nicht nur für die konservativ-frommen Kreise, sondern auch für die besonders in Straßburg zahlreich vertretenen liberalen, fortschrittlichen Christen und Theologen eine ungeheure Provokation. Hier einige Auszüge aus den Schlussbemerkungen der „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung “: Es ist der Leben-Jesu-Forschung merkwürdig ergangen. Sie zog aus, um den historischen Jesus zu finden, und meinte, sie könnte ihn dann, wie er ist, als Lehrer und Heiland in unsere Zeit hineinstellen. Sie löste die Bande, mit denen er seit Jahrhunderten an den Felsen der Kirchenlehre gefesselt war, und freute sich, als wieder Leben und Bewegung in die Gestalt kam und sie den historischen Menschen Jesus auf sich zukommen sah. Aber er blieb nicht stehen, sondern ging an unserer Zeit vorüber und kehrte in die seinige zurück. Das eben befremdete und erschreckte die Theologie der letzten Jahrzehnte, daß sie ihn mit allem Deuteln und aller Gewalttat in unserer Zeit nicht festhalten konnte, sondern ihn ziehen lassen musste. Er kehrte in die seine zurück mit derselben Notwendigkeit, mit der das befreite Pendel sich in seine ursprüngliche Lage zurückbewegt.


Das historische Fundament des Christentums, wie es die rationalistische, die liberale und die moderne Theologie aufgeführt haben, existiert nicht mehr, was aber nicht heißen will, dass das Christentum deshalb sein historisches Fundament verloren hat. Die Arbeit, welche die historische Theologie durchführen zu müssen glaubte und die sie in dem Augenblick, wo sie der Vollendung nahe ist, zusammenbrechen sieht, ist nur die Backsteinumkleidung des wahren, unerschütterlichen, historischen Fundaments, das von jeder geschichtlichen Erkenntnis und Rechtfertigung unabhängig ist, weil es eben da ist. Jesus ist unserer Welt etwas, weil eine gewaltige geistige Strömung von ihm ausgegangen ist und auch unsere Zeit durchflutet. Diese Tatsache wird durch eine historische Erkenntnis weder erschüttert noch gefestigt. …

Unser Verhältnis zum historischen Jesus muss zugleich ein wahrhaftiges und ein freies sein. Wir geben der Geschichte ihr Recht und machen uns von seinem Vorstellungsmaterial frei. Aber unter den dahinter stehenden gewaltigen Willen beugen wir uns und suchen ihm in unserer Zeit zu dienen, daß er in dem unsrigen zu neuem Leben und Wirken geboren werde und an unserer und der Welt Vollendung arbeite. Darin finden wir das Eins-Sein mit dem unendlichen sittlichen Weltwillen und werden Kinder des Reiches Gottes. … (Aus: Albert Schweitzer, „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“, GW 3, S. 873f u. 885).

Fremdheit, Ablehnung und gar Feindschaft wurden dem Theologen Albert Schweitzer entgegengebracht, so jedenfalls meine Erfahrung an den Fakultäten in Mainz, Heidelberg und Utrecht. In Basel war es, wie gesagt, anders. Deshalb wechselte ich zum Abschluss des Studiums nach Basel, um bei dem Schweitzer-Schüler Fritz Buri zu hören. Es war die Zeit, da in Basel Karl Barth und Karl Jaspers noch die herausragenden Größen in den Geisteswissenschaften waren. Gerade in Basel, wo der große neokonservative Theologe Karl Barth viele Studenten um die „Kirchliche Dogmatik“ sammelte, war das Denken in den Spuren Albert Schweitzers zwar immer noch in der Minderheit. Aber es war eine starke, qualifizierte Minderheit, die auch die Kirchengemeinden prägte.

In einem Brief vom 17./18. Juli 1955 schreibt Albert Schweitzer an „Herrn Prof. Dr. Fritz Buri“, damals noch a.o. Professor an der Universität und Hauptpfarrer am Basler Münster: „Lieber Freund! Ich weiß, dass meine Werke aus einer Zeit stammen, die vor der jetzigen ist. Sie gehören in manchem, von heute betrachtet, schon der Geschichte an. Aber in der Geschichte stehe ich da als einer, der das Werk des Rationalismus, der Ehrfurcht vor dem sachlichen Denken nach dem romantischen Intermezzo, weiterzuführen und zu vertiefen unternahm, als der, der aus der naturwissenschaftlichen Erkenntnis den Schluss zog, dass wir unsere Lebensanschauung nicht auf eine befriedigende Welterkenntnis gründen können, sondern auf ein Erleben von uns selbst und der Welt in uns. In der Ethik glaube ich durch die Idee der Ehrfurcht vor dem Leben, eine Vertiefung und eine Verlebendigung angeregt zu haben. Und in der Theologie bin ich bestrebt gewesen, auf das Wesen des Evangelischen, der ursprünglichen [lieben], von der Idee des Reiches Gottes beherrschten und von Jesus verlangten Frömmigkeit zurückzugehen und diese den Menschen wieder zugänglich zu machen, weil sie das Grosse Einfache ist, das uns Licht auf unserem Erdenwege ist. Du bist für mich der Jünger, der dies der neuen Zeit in einer ihrer Denkweisen nahe bringen will. Tue es, und diene ihr damit. Es ist eine Aufgabe, die du als die Deine erkannt hast. Möge dir gelingen dabei die tiefe Einfachheit des Evangelischen zu bewahren“ (Aus: Albert Schweitzer /Fritz Buri, „Existenzphilosophie und Christentum“, Briefe 1935-1964, München 2000, S. 153).

„Das Wesen des Evangelischen, die von Jesus verlangte Frömmigkeit den Menschen wieder zugänglich zu machen“, bedeutet, dass bei der Auslegung des Neuen Testaments das geschichtlich Fremde als solches zu verstehen ist, statt es dem eigenen Vorstellen gefügig zu machen. Außerdem darf das Zusammendenken von Eschatologie und Historie als theologische Aufgabe nicht preisgegeben werden, weil sonst das Proprium der biblischen Botschaft verspielt wird.

Von Gegnern und Anhängern des Theologen Albert Schweitzer wird heute anerkannt, dass er nicht nur bedeutende theologische Werke verfasst hat, die von bleibender Aktualität sind, weil darin die Hauptprobleme des Neuen Testaments scharfsinnig und klar dargestellt sind. So hat er mit der „konsequenten Eschatologie“ ein Lösungsangebot unterbreitet zum Verstehen des Verhältnisses Jesus – Paulus. Das heißt: Wie ist der Zusammenhang von der Predigt des Jesus von Nazareth vom Reiche Gottes und der Christusdogmatik des Apostels Paulus (der Christus „dem Fleische nach“ nicht kennt) zu erklären?

Harald Steffahn hat in „Mein Leben ist mir ein Rätsel – Begegnungen mit Albert Schweitzer“ (S. 97) den Grundkonflikt klar beschrieben: „Die Geister scheiden sich nun daran, was vorrangig zu gelten habe: das ethische Wollen Jesu nachzuvollziehen, vorösterlich, ohne Rücksicht auf Lehrinhalte; oder vom nachöstlichen Christus aus christologisch, ‚glaubensgerecht’  zu argumentieren (was sittliches Handeln natürlich einbegreift). Beide Seiten stehen in ihrem Recht, obwohl die erstere Partei die blutvollere, geistig unabhängigere Art des Christseins verkörpert. Zwischen beiden Lagern bestehen selbstverständlich auch Mischformen theologischer Lehranschauung und Predigtweise.

Beim alemannischen Querschädel aus Günsbach kommt etwas Wichtiges hinzu, wenn man nach den Gründen für sein lockeres Verhältnis zu den christlichen Dogmen fragt. Wollte man ihn überzeugen, so musste es intellektuell nachvollziehbar und einzusehen sein. Vor den Glaubensgefilden erhebt sich sperrig die Barriere des Denkens. Wo jemand ein Entweder-Oder verlangt, macht er nicht mit. Er weigert sich zuzustimmen, dass vor dem Glauben das Denken verstummen müsse.

Ich muss gestehen: Wenn es um eine Entscheidung in diesem Grundkonflikt gegangen ist, habe ich mich immer dem „alemannischen Querschädel aus Günsbach“ ganz nahe gewusst und zu ihm bekannt. 

Rückblick: Straßburg 1900 – Albert Schweitzers Stadt

Für den 1875 geborenen Elsässer Albert Schweitzer lag es, auf Grund der Familientradition, nahe, das Theologiestudium an der Straßburger Universität zu beginnen: „Die Straßburger Universität stand damals in voller Blüte. Durch keine Traditionen gehemmt, suchten Lehrer und Studierende miteinander das Ideal einer neuzeitlichen Hochschule zu verwirklichen. Bejahrte Professoren gab es fast keine in dem Lehrkörper. Ein frischer, jugendlicher Zug ging durch das Ganze.

Ich hörte zugleich in der theologischen und in der philosophischen Fakultät …

Wie dankbar empfand ich es, dass die deutsche Universität den Studenten in seinen Studien nicht so bevormundet und ihn nicht durch ständige Examen so in Atem hält, wie es in ändern Staaten der Fall ist, und daß sie ihm die Möglichkeit selbständiger wissenschaftlicher Arbeit bietet!

Die damalige Theologische Fakultät zu Straßburg hatte ausgesprochen freisinnigen Charakter. …“(Albert Schweitzer, „Aus meinem Leben und Denken“, GW1, S. 27 und S. 31).

Schon früh fällt der Student durch seine Vielseitigkeit und Konzentration des Arbeitens auf. Er verliert sich nie im „Unelementaren“, wie er selbst sagt. Das zeichnet ihn aus bei seinen philosophischen und theologischen Abschlussexamina und bei den Dissertationen. Einer seiner Schüler, Willy Bremi, hat dazu ausgeführt: „Zu einem Phänomen erster Ordnung wird er durch den elementaren Charakter seines Lebens und Denkens.“ In einem Brief an den Philosophen Oskar Kraus weist er selber auf diesen Punkt: „’Das, die Qualität der Weltanschauung… das ist die Hauptsache.’ Dass er die wesentlichen Dinge ernst nimmt, zeigt sich methodisch darin, dass er immer auf die Hauptthemen lossteuert. Er ist frei von dem Fehler, den er einmal der Philosophie des 19.Jahrhunderts vorwirft: ‚Sie verlor sich ins Unelementare.’ Auf jedem Gebiet ergreift er ein Zentralproblem und nur dies eine. 

Als Musiker bemüht er sich ausschließlich um J. S. Bach. Als Philosoph geht er aus von Kant. Als Theologe schreibt er über Jesus und Paulus. In der Religionsvergleichung bearbeitet er Indien und China (nicht die Primitiven, unter denen er als Arzt wirkt). In der deutschen Dichtung fesselt ihn Goethe. Als Kulturdenker beschäftigt ihn ausschließlich die Ethik. Als Arzt wendet er sich an den arztlosen Teil der Menschheit. Randfragen läßt er, wo immer es angeht, beiseite. Diesem Drängen zum Zentralen entspricht sein knapper Stil, dessen Bildhaftigkeit oft von großer Schönheit ist. In der Ethik ist der Ausdruck ‚Ehrfurcht vor dem Leben’  durch ihn in Umlauf gekommen, in der Theologie der Terminus ‚konsequente Eschatologie’“ (Willy Bremi, „Der Weg des protestantischen Menschen, von Luther bis Albert Schweitzer“, Zürich 1953, S.442).

Elly Heuss-Knapp, die Gattin des späteren deutschen Bundespräsidenten Theodor Heuss, hat Mentalitätsverfassung und Milieu der akademischen Jugend in jenen erstaunlichen Jahren nach der Jahrhundertwende in ihren Memoiren bemerkenswert festgehalten: „Wenn ich an die jungen Menschen zurückdenke, die damals in Strassburg mit uns Rad fuhren, Vorträge hielten, Musik machten und Probleme wälzten, so ist mir klar, dass wenige Jahre später daraus eine Gruppe der Jugendbewegung geworden wäre. Nur das Wort gab es damals noch nicht, alle ihre Elemente waren vorhanden: die Sehnsucht der in enger Festung lebenden Jugend, in die Natur hinauszukommen, die Absonderung von den überlebten Konventionen der guten Gesellschaft, also ein Stück Kulturkritik, und das stolze Gefühl des Anbruchs einer neuen Zeit. Es waren begabte Menschen in diesem Kreis …

Der bedeutendste, das war uns immer klar, war Albert Schweitzer, der Theologe, Philosoph, Bachbiograph und Orgelspieler. Plötzlich überraschte er uns mit der Mitteilung, er werde umsatteln und Medizin studieren, um im Urwald den Negern zu helfen. Er hat uns seine Gründe wohl gesagt; aber verstanden haben wir ihn nicht ganz. Später schrieb ich ihm einmal, dass ich ihn immer erst zehn Jahre später halbwegs verstehen kann in allem, was er tut und was er schreibt. Wir ahnten indes, dass es Berufung im höchsten Sinne war, gegen die es keine Einwendung gibt. …

Acht Tage nach seinem Physikum traute er uns. Ich lese in seiner Rede die Worte: ‚Das hohe Glück in diesem Augenblick ist nicht, dass zwei Menschen sich innerlich geloben: wir wollen füreinander leben, sondern dass dies in ihren Gedanken zugleich bedeutet: wir wollen miteinander für etwas leben’“ (Elly Heuss-Knapp, „Ausblick vom Münsterturm“, Tübingen 1954).

Wenn es um die Wahrheitssuche geht, ist der Theologe und Philosoph Albert Schweitzer auf Katheder und Kanzel gleichermaßen klar, unerbittlich und kompromisslos. Auf der Kanzel spielt der seelsorgerische Aspekt die entscheidende Rolle. So sind seine Predigten nicht mit dogmatischen Richtigkeiten überfrachtet, keine „Lehrpredigten“, sondern bunt gemischt mit Aussagen persönlicher Frömmigkeitserfahrung, Urteilskraft, Erfordernissen des Alltags und Ratgeberschaft. Was er später über seine Predigtweise im Spital in Lambarene sagt, ist auch – mutatis mutandis – dem Straßburger Prediger in seinen Predigten immer schon wichtig gewesen, und er sagt es in unverwechselbarer schlichter, jedem zugänglicher Sprache mit einfachen Bildern und Vergleichen. Seine Analyse: „Es besteht also eine große natürliche Aufnahmefähigkeit für das Elementare der Religion. Das Historische an dem Christentum liegt dem Eingeborenen naturgemäß fern. Er lebt ja in einer geschichtslosen Weltanschauung. Die Zeit zwischen Jesus und uns kann er nicht ermessen, auch die Glaubenssätze, in denen ausgesprochen ist, auf welche Weise die Erlösung nach dem göttlichen Weltplan vorbereitet und verwirklicht worden sein soll, sind ihm nicht leicht begreiflich zu machen. Dafür aber hat er ein elementares Bewusstsein von der Erlösung als solcher. Das Christentum ist für ihn das Licht, das in die Finsternis der Angst scheint. …

‚Ich lag in schweren Banden Du kommst und machst mich los.’

Dieses Wort aus Paul Gerhardts Adventslied spricht wie kein anderes aus, was das Christentum für den primitiven Menschen ist. Immer und immer wieder muss ich daran denken, wenn ich auf einer Missionsstation am Gottesdienst teilnehme.

Hoffnungen und Befürchtungen für das Jenseits spielen in der Religion der Primitiven bekanntlich keine Rolle, Das Naturkind fürchtet den Tod nicht, sondern sieht ihn als etwas Natürliches an. …

Nie habe ich das Sieghaft-Elementare in den Gedanken Jesu so empfunden, als wenn ich in der großen Schulbaracke zu Lambarene, die als Kirche dient, den Eingeborenen die Bergpredigt und die Gleichnisse des Herrn und die Sprüche des Apostels Paulus von dem neuen Dasein, in dem wir wandeln, auslegen durfte“ (Albert Schweitzer, „Zwischen Wasser und Urwald“, GW 1, S. 456f).

Die Predigten, die in einem Nachlassband („Predigten 1898-1948“) gesammelt sind auf 1375 Seiten, haben allesamt etwas Unverbrauchtes, Unbefangenes und Unverkrampftes. Hier spricht eine Frömmigkeit, die zu Herzen geht und weit davon entfernt ist, in Sachen des Glaubens „Verstandesopfer“ zu fordern. Im Gegenteil: Einem Studenten, der ihm gesteht, dass er mit der Dogmatik Schwierigkeiten habe, sagt er augenzwinkernd: „Wenn der Herrgott in Dogmatik geprüft worden wäre, dann wäre er bestimmt durchgefallen.“

Zusammenhang: Von Kanzel und Katheder ins Spital

In der ständigen Pendelbewegung zwischen Kanzel und Katheder, durch die Verkündigung der Bach’schen Musik und durch die tief empfundene Dankbarkeit für die anvertrauten Gaben und den „Lohn“ der Anstrengungen in Gestalt der akademischen und künstlerischen Karriere reift der Plan: Ausstieg und Neuanfang.

Folter ohne Lärm: Medizinstudium mit 30! Dazu die vielen „Nebenbeschäftigungen“, nicht zuletzt in der Kirche. Hinzu kommt: Ungesicherte Existenz, Kampf um Mittel für das wohlkalkulierte afrikanische Abenteuer. Er, der verketzerte Theologe und freisinnige Christ, hatte lange mit den „rechtgläubigen“ Herrn der „Pariser Missionsgesellschaft“ kämpfen und verhandeln müssen, um überhaupt afrikanischen Boden unter die Füße zu bekommen. Der Preis für den liberalen und rational denkenden Jesusmystiker und theologisch versierten Prediger war hoch: „Stumm wie ein Karpfen“. So wolle er sein. Das hatte er den Herren in Paris versprochen, die ihn eh als Missionar abgelehnt hatten. An Karfreitag 1913 war er von Günsbach aus aufgebrochen, zusammen mit seiner Frau Helene. Nun galt es, am Ufer des Ogowe-Flusses, in Lambarene, umzusetzen, was er als Programm und Bekenntnis am Ende der „Leben-Jesu-Forschung“ ausgesprochen hatte: „Im letzten Grunde ist unser Verhältnis zu Jesus mystischer Art. Keine Persönlichkeit der Vergangenheit kann durch geschichtliche Betrachtung oder durch Erwägungen über ihre autoritative Bedeutung lebendig in die Gegenwart hineingestellt werden. Eine Beziehung zu ihr gewinnen wir erst, wenn wir in der Erkenntnis eines gemeinsamen Wollens mit ihr zusammengeführt werden, eine Klärung, Bereicherung und Belebung unseres Willens in dem ihrigen erfahren und uns selbst in ihr wiederfinden. In diesem Sinne ist überhaupt jedes tiefere Verhältnis zwischen Menschen mystischer Art. Unsere Religion, insoweit sie sich als spezifisch christlich erweist, ist also nicht so sehr Jesuskult als Jesusmystik. ….

Als ein Unbekannter und Namenloser kommt er zu uns, wie er am Gestade des Sees an jene Männer, die nicht wußten, wer er war, herantrat. Er sagt dasselbe Wort: Du aber folge mir nach! und stellt uns vor die Aufgaben, die er in unserer Zeit lösen muß. Er gebietet. Und denjenigen, welche ihm gehorchen, Weisen und Unweisen, wird er sich offenbaren in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an Frieden, Wirken, Kämpfen und Leiden erleben dürfen, und als ein unaussprechliches Geheimnis werden sie erfahren, wer er ist …“ (Albert Schweitzer, „Geschichte der Leben.Jesu-Forschung“, GW 3, S. 886f).

Der erste Afrikaaufenthalt steht unter keinem guten Stern. Der Erste Weltkrieg bricht aus. Schweitzer wird mit Verbot ärztlicher Tätigkeit unter Hausarrest gestellt. Die erzwungene Unterbrechung seiner ärztlichen Tätigkeit wird der Anfang seiner Kulturphilosophie. Auf einer Flussfahrt auf dem Ogowe 1915 steht er plötzlich vor seinem geistigen Auge, der Begriff, nach dem er lange gesucht hatte: „Langsam krochen wir den Strom hinauf, uns mühsam zwischen den Sandbänken – es war trockene Jahreszeit – hindurchtastend. Geistesabwesend saß ich auf dem Deck des Schleppkahnes, um den elementaren und universellen Begriff des Ethischen ringend, den ich in keiner Philosophie gefunden hatte. Blatt um Blatt beschrieb ich mit unzusammenhängenden Sätzen, nur um auf das Problem konzentriert zu bleiben. Am Abend des dritten Tages, als wir bei Sonnenuntergang gerade durch eine Herde Nilpferde hindurchfuhren, stand urplötzlich, von mir nicht geahnt und nicht gesucht, das Wort ‚Ehrfurcht vor dem Leben’  vor mir. Das eiserne Tor hatte nachgegeben; der Pfad im Dickicht war sichtbar geworden. Nun war ich zu der Idee vorgedrungen, in der Welt- und Lebensbejahung und Ethik miteinander enthalten sind! Nun wusste ich, dass die Weltanschauung ethischer Welt- und Lebensbejahung samt ihren Kulturidealen im Denken begründet ist“ Albert Schweitzer, „Aus meinem Leben und Denken“, GW 1, S. 269).

Zwei Schlüsseltexte eröffnen den Zugang zu Schweitzers Philosophieren und zu seiner Ethik.

Erstens: „Die unmittelbarste Tatsache des Bewusstseins des Menschen lautet: ‚Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.’ Als Wille zum Leben inmitten von Willen zum Leben erfasst sich der Mensch in jedem Augenblick, in dem er über sich selbst und über die Welt um sich herum nachdenkt. Wie in meinem Willen zum Leben Sehnsucht ist nach dem Weiterleben und nach der geheimnisvollen Gehobenheit des Willens zum Leben, die man Lust nennt, und Angst vor der Vernichtung und der geheimnisvollen Beeinträchtigung des Willens zum Leben, die man Schmerz nennt: also auch in dem Willen zum Leben um mich herum, ob er sich mir gegenüber äußern kann oder stumm bleibt.

Zugleich erlebt der denkend gewordene Mensch die Nötigung, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. Er erlebt das andere Leben in dem seinen. Als gut gilt ihm: Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert bringen; als böse: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten. Dies ist das denknotwendige, absolute Grundprinzip des Sittlichen“ (Albert Schweitzer, „Aus meinem Leben und Denken“, GW 1, S. 169ff).

Zweitens: „Alle Probleme der Religion gehen zuletzt auf eines zurück: dass ich Gott in mir anders erlebe, als ich ihn in der Welt erkenne. In der Welt tritt er mir als rätselhafte, wunderbare Schöpferkraft entgegen; in mir offenbart er sich als ethischer Wille. In der Welt ist er unpersönliche Kraft, in mir offenbart er sich als Persönlichkeit. Der Gott, der in dem Denken über die Welt erkannt wird, und der, den ich als ethischen Willen erlebe, lassen sich nicht zusammenbringen. Beide sind eins; aber wie sie es sind, verstehe ich nicht. Welches aber ist die entscheidende Erkenntnis Gottes? Die, die ich als ethischen Willen erfahre. …

Lassen Sie mich ein Gleichnis gebrauchen. Es gibt einen Ozean. Kaltes Wasser, unbewegt. In dem Ozean aber ist der Golfstrom, heißes Wasser, das vom Äquator zum Pole fließt. Fragen Sie alle Gelehrten, wie es physikalisch vorstellbar ist, dass zwischen den Wassern des Ozeans, wie zwischen zwei Ufern, ein Strom heißen Wassers fließt, bewegt in dem Unbewegten, heiß in dem Kalten. Sie können es nicht erklären. So ist der Gott der Liebe in dem Gott der Weltkräfte eins mit ihm und doch so ganz anders als er. Von diesem Strome lassen wir uns ergreifen und dahintragen“ (Albert Schweitzer, „Die Weltanschauung der indischen Denker“, GW 2, S. 710ff).

In den vorstehenden beiden Textblöcken zeigen sich die entscheidenden Linien Schweitzer’schen Denkens. In der universalen Formel „Ehrfurcht vor dem Leben“ „treffen sich die Ströme der christlichen Überlieferung und des rationalen Denkens“, so Ulrich Neuenschwander, einer seiner theologischen und philosophischen Mitstreiter. Deutlich auch: Die reale Elementarerfahrung der „Sinnzwiespältigkeit“ des Daseins und der „grausigen Selbstentzweiung“ des Willens zum Leben führen ihn nicht in den resignativen Agnostizismus. Nein, die „Ehrfurcht vor dem Leben“ ist vielmehr philosophische Interpretation des christlichen Erlösungsweges. Schweitzer sieht hier das tiefste Anliegen des christlichen Glaubens durch das Denken begründet und formuliert. Heilsgeschehen ist eben nicht dogmatische Heilsgeschichte, sondern bleibt konkretes Fragment inmitten eines nicht deutbaren Universums. 

Von der so verstandenen „Ehrfurcht vor dem Leben“ kann er sagen: „Sie ist mir das Licht, das in der Finsternis scheint. Die Unwissenheit, unter die die Welt getan ist, ist von mir genommen. Ich bin aus der Welt erlöst. In Unruhe, wie sie die Welt nicht kennt, bin ich durch die Ehrfurcht vor dem Leben geworfen. Seligkeit, die die Welt nicht geben kann, empfange ich aus ihr. Wenn in der Sanftmut des Andersseins als die Welt ein anderer und ich uns in Verstehen und Verzeihen helfen, wo sonst Wille andern Willen quälen würde, ist die Selbstentzweiung des Willens zum Leben aufgehoben. Wenn ich ein Insekt aus dem Tümpel rette, so hat sich Leben an Leben hingegeben, und die Selbstentzweiung des Lebens ist aufgehoben. Wo in irgendeiner Weise mein Leben sich an Leben hingibt, erlebt mein endlicher Wille zum Leben das Eins-werden mit dem unendlichen, in dem alles Leben eins ist. Labung wird mir zuteil, die mich vor dem Verschmachten in der Wüste des Lebens bewahrt“ (Albert Schweitzer, „Kultur und Ethik“, GW 2, S. 382).

Natürlich muss Schweitzer zugestehen, dass es für das denkende Individuum verschiedene Wege gibt, auf das Bewusstsein des „Leben[s] inmitten von Leben“ zu reagieren. „Ehrfurcht vor dem Leben“ als Hingabe in aufbauendem Dienst am Leben ist eine Konsequenz, doch nicht die alleinige.

Hier ist die Wespentaille seines ethischen Philosophierens erkennbar. In diese Schwachstelle stoßen seine Kritiker mit unterschiedlichen Graden von Vehemenz, Souveränität und auch Bosheit. So zum Beispiel: Wie kann man nur auf einer rationalistischen Letztbegründung beharren! Oder: Zu appellativ, ohne Normen zu begründen! Der Ethiker Schweitzer – zu viel Prediger, Mahner und Ermunterer! Oder: Bei allem Respekt vor intuitiv-religiösen Denken – das Ehrfurchtsmotiv ist zu sehr religiös und paränetisch imprägniert! Außerdem: Sehr schillernde und unscharfe Begrifflichkeiten! Soweit einige Einwände in Kurzform.

Die Schulphilosophie in Gestalt der Phänomenologie, der Wertphilosophie und des Existenzialismus sind – mit Ausnahmen – an Schweitzer nicht ernstlich interessiert gewesen, sondern überheblich an ihm vorbei gegangen. Das gilt auch und vor allem von der sogenannten Kritischen Theorie, der Frankfurter Schule von Horkheimer über Adorno bis Habermas. Schweitzer selbst war auch nicht immer sanft und verletzungsfrei im Sinne von rücksichtsvoll beim Austeilen – aus Sorge um die „Ehrfurcht vor dem Leben“. So sprach er von „Cocktail- und Ratlosigkeitsphilosophien“. Er nannte neueste Philosophie „Denkakrobatik an den Geräten der Begriffe“. Oder im Bildvergleich: „Das ist, wie wenn man das Steuer eines Ozeandampfers einem, der einen Einbaum lenkte, anvertrauen sollte, einem, der seinen mit einem kleinen Segel ausgestatteten Einbaum lenkte“ (Albert Schweitzer, „Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben“, Kulturphilosophie III, 3. und 4. Teil, Werke aus dem Nachlass, S. 299).

Im Übrigen findet sich eine sehr freundschaftliche und klare Auseinandersetzung über einiges Grundlegendes in Schweitzers Denken im Nachlassband des theologischen und philosophischen Briefwechsels 1900-1965 mit dem Prager Philosophen Oskar Kraus (a.a.O., S. 429ff).

Auf die unterschiedlichen Diskussionslagen rund um die Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ kann hier nicht ausführlich eingegangen werden. Die Gesprächsbereitschaft von Anhängern und Gegnern hat mittlerweile zugenommen. Manche Veröffentlichungen, Fachtagungen und Symposien setzen sich mit dem Erbe des Schweitzer’schen Denkens auseinander. Selbst die entschiedensten Gegner des freisinnigen Elsässers müssen einräumen, dass selten eine solche Übereinstimmung von Leben, Denken und Handeln auf diesem Niveau in der jüngeren Menschheitsgeschichte zu konstatieren war.

Begegnung: November 1959 in Günsbach

Es war an einem Novembersonntagmorgen 1959. Fritz Buri, Theologieprofessor und Schweitzerschüler in Basel, hatte mir den Termin vermittelt. Mit dem Bus fuhr ich ins Münstertal nach Günsbach. Der Hausherr empfing mich persönlich an der Haustür. Eine knappe Stunde stand fürs Gespräch zur Verfügung. Ich merkte sogleich: Albert Schweitzer war schon im Aufbruch – zu seiner letzten Reise von Europa nach Afrika, wie er sofort bei der Begrüßung bemerkte. Ich hatte viele Fragen mitgebracht: Zum Jesusbild der konsequenten Eschatologie, zum Paulusverständnis, zur „Ehrfurcht vor dem Leben“ und zur Kulturphilosophie etc.. Aber ich konnte sie zunächst nicht loswerden. Denn Schweitzer fragte mich, z.B. nach meinen Erfahrungen im Studium, zur Theologie und Philosophie (schon im Fragen zeigte er sich bestens informiert), auch nach meinen ersten Erfahrungen im kirchlichen Dienst als Religionslehrer in der Berufsschule in Kaiserslautern. Ich erfuhr zu meinen Fragen nichts überraschend Neues, war jedoch verblüfft über die genaue Kenntnis gegenüber der Gesprächssituation in Theologie und Philosophie, dazu die Gelassenheit und Sicherheit im Blick auf eigene Positionen und künftige Diskurse. Er war überzeugt, dass die Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ auch in kommenden Zeiten Terrain gewinne, Herzen und Denken der Menschen besetze, weil sie fürs Überleben der Menschheit alternativlos sei. Es war eine beeindruckende „Audienz“.

Ausblick: Die „Ehrfurcht vor dem Leben“ und die Herausforderungen des Neoprimitivismus

Offenbar kurz vor seinem Tod schrieb Schweitzer den Text „Humanität“: „Die Ehrfurcht vor allem Leben wird als selbstverständlich und völlig dem Wesen der Menschen entsprechend anerkannt. In den Schulen lernen die Kinder sich mit der Kreatur befreunden. Dass wir damit von der unvollständigen zur vollständigen Humanitätsgesinnung fortschreiten und der naiven Unmenschlichkeit, in der wir noch befangen waren, entsagen, ist ein bedeutungsvolles Ereignis in der Geistesgeschichte der Menschheit. …

Nun heißt es für einen jeden von uns, die vollständige Gütigkeit, die unserem Wesen entspricht, zu betätigen, daß sie als eine sich in der Geschichte auswirkende Kraft offenbar werde und das Zeitalter der Humanität heraufführe.

In der Menschheitsgeschichte von heute handelt es sich darum, ob die Gesinnung der Humanität oder die Inhumanität zur Herrschaft gelangt.  Wenn es die der Inhumanität ist, die nicht darauf verzichten will, unter Umständen von den grausigen Atomwaffen, die heute zur Verfügung stehen, Gebrauch zu machen, ist die Menschheit verloren. Nur wenn die Humanitätsgesinnung, für die solche Waffen nicht in Betracht kommen, die Gesinnung der Inhumanität verdrängt, dürfen wir hoffend in die Zukunft blicken.

Die   Gesinnung   der   Humanität   hat   heute   weltgeschichtliche Bedeutung“ (Albert Schweitzer, „Humanität“, GW 5, S. 170f).

Albert Schweitzer ist am 4. September 1965 nach einem begnadeten, aufopferungsvollen Leben gestorben in der Gewissheit, dass seine Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ „als selbstverständlich und völlig dem Wesen der Menschheit entsprechend anerkannt“ werde, wie es in dem vorstehenden Text heißt. Schwer zu sagen, ob man diese Überzeugung völlig teilen kann. Zweifel müssen erlaubt sein.

Auf jeden Fall hat er mit seinen kulturphilosophischen Analysen und Erhebungen sowie mit seiner Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ eine tiefe Spur getreten, aus der die Menschheit nicht so leicht heraus kommt. So hat er dafür gesorgt, dass die anthropozentrische Beschränkung der traditionellen Ethik weitgehend aufgehoben worden ist. Ethisches Denken ist heute universell geweitet. Von planetarischer Verantwortung ist die Rede und von einer universalen ökologischen Aufmerksamkeit. Albert Schweitzer hat sich früh vernetzt mir herausragenden Gelehrten (z.B. Albert Einstein), um mit ganzem Einsatz vor den grausigen Gefahren des Atomtodes zu warnen und das Friedensdenken auf breiter Front zu bewegen. Außerdem hat er in seinem Nachlasswerk „Kulturphilosophie III“ dem „Neoprimitivismus“ entschieden den „Kampf“ angesagt, jener Haltung, die den wissenschaftlich-technischen Fortschritt rigoros nutzt, ohne mit ethischer Verantwortung für die Menschheit die Folgen zu berücksichtigen. In vielen Variationen mahnte er an, dass es ohne Selbstbegrenzung der Freiheit, ohne Verzicht und ohne Askese nicht weitergehen kann. Vom Schutz der Ozeane vor den Menschen bis hin zu den Gefahren der Genmanipulation muss alles der Treuhänderrolle der „Ehrfurcht vor dem Leben“ und dem „Prinzip Verantwortung“ (Hans Jonas) unterliegen. Albert Schweitzer und Hans Jonas laufen in der gleichen Staffel, wenn es im Rennen um die Zukunft der Menschheit um Sieg gehen soll.

Der Mythos Albert Schweitzer ist Gott sei Dank noch nicht verblasst. Doch kennen seine Bewunderer auch die harte denkerische Arbeit, die dahinter steht?

Die UNO hat späte Anerkennung geleistet – im Welthorizont. Sie hat einen Kongress im Rahmen der „University for Peace“ 1990 – zum 25. Todestag – Albert Schweitzer gewidmet, um seine Bedeutung für das 21. Jahrhundert in Erinnerung zu rufen: Den Mann, sein Leben, sein Denken und seine Tat. Unter den vielen Laudatoren, die Albert Schweitzer zu Lebzeiten und in den Jahren danach gewürdigt haben, ist mir eine Stimme ganz besonders wichtig, nämlich die des Heidelberger Philosophieprofessors Karl Löwith, den ich in meiner Heidelberger Studienzeit noch gehört und gehörig geschätzt habe. Karl Löwith (1897-1973), Soldat im Ersten Weltkrieg, musste nach 1933 Deutschland verlassen, kam über Italien nach Japan, später in die USA. Dort verfasste er mit Datum vom 14.1.1940 (übrigens dem Geburtstag Albert Schweitzers und seiner Tochter Rhena) für eine universitäre Anstellung den Bericht „Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933“. 

Im Rückblick auf seine Münchener Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg hält er fest die zeitlich unterschiedliche Begegnung mit dem großen Soziologen und Philosophen Max Weber (1864-1920) und Albert Schweitzer: „Außer Max Weber wüsste ich nur noch einen überragenden Deutschen zu nennen, der mir einen fürs Leben dauernden Eindruck gab: Albert Schweitzer. Dieser unvergleichliche Mensch, Christ, Arzt, Musiker und Gelehrte hielt an der Münchner Universität drei Vorträge, deren Sprache und Inhalt so effektlos wie eindringlich war. Ich habe nie wieder einen Redner gehört, der bloß durch die stille Macht seiner schlichten Persönlichkeit schon nach einigen wenigen, leise gesprochenen Sätzen eine mehr als tausendköpfige Zuhörerschaft so völlig zum Hörer gewann. Was von ihm ausging, war nicht wie bei Weber eine dämonische Macht, sondern der Ernst des Friedens und der Zauber der Mäßigkeit. Es ist ein Trost zu wissen, daß dieser Mann noch lebt und wirkt und das wahre Gesicht des Deutschen durch Krampf und Lüge hindurchträgt“ (Karl Löwith, „Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933“, Stuttgart 1986, S. 18).

Ich bin stolz darauf und dankbar, dass dieser Mann, geboren als Deutscher im Kaiserreich, durch neue Grenzziehung im Versailler Vertrag völkerrechtlich seit 1920 Franzose, in Selbstbezeichnung Elsässer, schon immer wahrgenommen als Europäer und überall angesiedelt als Weltbürger, Station und Aufenthalt im Namen und auch im Geist „meines“ jetzt 200 Jahre alten Gymnasiums gefunden hat, hoffentlich auch auf dem Katheder bekannt gemacht und in seinem Geist gelehrt wird. Nur so finden freies Denken und „Ehrfurcht vor dem Leben“, eben der Geist der Humanität, ihren Weg in Gegenwart und Zukunft.

Albert Schweitzer hat sein Vermächtnis jedenfalls in dem Satz auf den Punkt gebracht: „Das bleibende Haus, so hoffe ich, wird mein Denken sein.“

Der Beitrag wurde erstveröffentlicht in der Festschrift zur 200-Jahr-Feier des Albert-Schweitzer-Gymnasiums in Kaiserslautern 2011.

Der Beitrag wurde erstveröffentlicht in der Festschrift zur 200-Jahr-Feier des Albert-Schweitzer-Gymnasiums in Kaiserslautern 2011.

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Udo Sopp
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