Prof. Dr. Uwe Becker
Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe,
Lenaustraße 41, 40470 Düsseldorf
Diakonie im gesellschaftlichen Wandel
- Eine kleine Geschichte der Diakonie
1.1 „Allein das Wort tut´s“ – eine reformierte Anekdote
In meinem Gemeindepraktikum zu Beginn der 80er Jahre erzählte mir mein damaliger Mentor folgende Anekdote. Ein junger, engagierter Vikar beabsichtigte in einer reformierten Gemeinde eine didaktisch innovative Neuerung einzuführen. Er wollte das Tafelbild durch Einsatz bunter Kreide ansprechend auflockern und stellte daher den Antrag im Presbyterium auf Kostenübernahme zwecks Anschaffung eines solchen Kreidepäckchens. Nach intensiver Beratung fasste das Presbyterium aus theologischen Gründen den Beschluss, diesem Ansinnen nicht nachzugeben. Um die Frustration des jungen Vikars in Grenzen zu halten, ging der Presbyteriumsvorsitzende nach der Sitzung zum Vikar, um ihm die Beschlusslage mitzuteilen. Er legte seinen Arm freundschaftlich auf dessen Schulter und erläuterte dem jungen Mann das Beratungsergebnis mit den Worten: „Junger Freund, Sie müssen wissen, wir sind der Überzeugung, allein das Wort genügt.“
1.2 Anmerkungen zur Diakonievergessenheit der Kirche
Nun gut, das ist nur eine Anekdote. Aber auch wenn viele Abstriche mit Blick auf die Realität zu machen sind, bringt sie doch Wahres zum Ausdruck. Es gibt im deutschen Protestantismus eine theologische Abstufung, die der Verkündigung des Wortes eine unverzichtbare Vorrangstellung gegenüber der Tat einräumt. In einer der reformatorischen Hauptschriften, der Augsburger Konfession von 1530, heißt es mit Blick auf das, was Kirche ausmacht, in CA VII folgendermaßen: „Es wird auch gelehrt, dass allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muss, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden. Denn das genügt zur wahren Einheit der christlichen Kirche, dass das Evangelium einträchtig im reinen Verständnis gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden.“[1]Kein Wort von der christlich motivierten Tat gegenüber dem Nächsten oder Fremden, kein Wort von der diakonischen Dimension des Glaubens. Kirche, das ist Verkündigung und Sakramentsverwaltung, mehr offenbar nicht.
Das erstaunt zunächst mit Blick auf die biblische Tradition. So wird beispielsweise in Apostelgeschichte 6,1-6 berichtet, wie es in der Jerusalemer Gemeinde zur Beauftragung des wichtigen und angesehenen Dienstes, der Diakonie, kam, zu dessen Organisation täglicher Versorgung mit Mahlzeiten sieben Männer, die „einen guten Ruf haben und voll heiligen Geistes und Weisheit sind“ (Apg 6,3) berufen wurden. Die Schweizer Theologen Heinz Rüegger und Christoph Sigrist resümieren dazu: Die soziale Tätigkeit „bezeichnet nicht ein niedriges oder gar dem Wortdienst untergeordnetes Amt“[2], aber das diakonische Amt – so erklären sie weiter – verlor seit dem 3. Jahrhundert „im Gefolge einer zunehmenden Hierarchisierung der Ämterstruktur immer mehr seine klare, eigenständige soziale Ausrichtung und verkam zu einer untergeordneten Vorstufe auf dem Weg zum Priesteramt. Das Sakrale nahm im Verhältnis zum Sozialen überhand, das Kultische dominierte zunehmend das Karitative im Tätigkeitsbereich des kirchlichen Diakonats.“[3]
In den folgenden Jahrhunderten entwickelte sich zwar ein ausgeprägtes kirchliches Armenwesen, das aber insbesondere von Laien und von Bettelorden, wie den Franziskanern und Dominikanern organisiert war. Sie mussten gelegentlich selbst die Bischöfe ermahnen, ihrem diakonischen, karitativen Auftrag gerecht zu werden, denn selbstverständlich war dieser nicht.[4] Almosen, die Einrichtung von Spitälern und Armentafeln waren überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich innerhalb oder auch außerhalb der Klöster von den Orden organisiert. Dann kam diese ungeheure Pestwelle des 14. Jahrhunderts, ein Drittel der europäischen Bevölkerung war binnen weniger Jahrzehnte ausgelöscht, eine massenhafte Landflucht in die Städte setze ein, die Verelendung der Flüchtigen war die Folge und das kirchlich gebundene Armenwesen war zunehmend völlig überfordert. Es wurde sukzessive um eine kommunal organisierte Versorgung ergänzt, teilweise völlig durch diese ersetzt.
Die Armenfürsorge wurde nun rationell, bürokratisch und standardisiert reorganisiert: Einrichtung von Listen, in denen die Bedürftigen erfasst wurden, Prüfung der Bedürftigkeit zum Teil unter Beibringung von Zeugen, Ausstellung von Bettellizenzen in Form von Bettelzeichen, Überwachung der Bedürftigkeitslage, aber eben auch Verbringung außerhalb der Städte, sogenannte Bettelschübe und Ausweisung von „faulen Armen“ oder ortsfremden, sogenannten Vagabunden waren an der Tagesordnung, ohne dass die namhaften Vertreter der bischöflichen Kirche sich mit Herzblut gegen diese Praxis gewandt hätten.[5] Im 16. Jahrhundert begann dann die Errichtung von Arbeits- und Zuchthäusern, in denen die Insassen massiven Disziplinierungsmaßnahmen ausgesetzt wurden. Zur Aufrechterhaltung der Arbeitsmoral waren die täglichen Morgenandachten und der erzwungene Gesang von Kirchenliedern Instrumente dieser sittlichen Hebung des „Abschaums“, ein Ausdruck einer erschreckend harmonischen Kooperation von Staat und Kirche.[6]
Das Versagen bezüglich der Wahrnehmung der sozialen Verantwortung der Kirchen im Kontext der Industrialisierung im 19. Jahrhundert und der massenhaften Verelendung des Proletariats ist vielfältig beschrieben. Nicht von ungefähr fanden die Bewegung des sozialen Protestantismus, das kirchliche Arbeitsvereinswesen und die vielen vor Ort tätigen karitativen Assoziationen außerhalb der verfassten Kirchen statt. Die Bildung des Centralvereins der Inneren Mission 1849 durch Wichern – wenn man so will eine konterrevolutionäre Bewegung angesichts der Revolutionswogen von 1848 – bedeutete eben die Gründung eines privatrechtlichen Vereins außerhalb oder zumindest neben der offiziellen Amtskirche. Wichern hatte jedenfalls große Mühen, seine sozialen Anliegen kirchlich salonfähig zu machen. Allerdings muss man auch ergänzen: Es ging ihm mit der Inneren Mission wesentlich um die sittliche Erneuerung der Armen. Das innere und äußere Verderben der Massen war zu beheben, damit eine solche missionarische Erneuerung gelingen kann.
Machen wir einen zeitlich Sprung: Liest man gegenwärtig den Artikel 16 der Grundordnung der EKD wie auch gleich- oder ähnlich lautende Artikel in den Kirchenordnungen der evangelischen Landeskichen, so stößt man auf eine interessante Formulierung bezüglich der Verhältnisbestimmung von Kirche und Diakonie. In Artikel 16 der EKD Grundordnung heißt es: „Die Evangelische Kirche in Deutschland und die Gliedkirchen sind gerufen, Christi Liebe in Wort und Tat zu verkündigen. Diese Liebe verpflichtet alle Glieder der Kirche zum Dienst und gewinnt in besonderer Weise Gestalt im Diakonat der Kirche, demgemäß sind die diakonisch-missionarischen Werke Wesens- und Lebensäußerung der Kirche.“ Dass die Innere Mission, mithin also die Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche beschrieben wird, ist historisch auf die Zeit des Nationalsozialismus zurückzuführen. Die privatrechtlichen Träger der Inneren Mission waren erheblich von der Gleichschaltungspolitik des NS-Regimes bedroht. „In der Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) von 1933 war bereits eine ‚fördernde Obhut’ für die freie kirchliche Arbeit vorgesehen.“[7]
Durch den Erlass des Leiters der Kirchenkanzlei vom Sommer 1940 wurde klargestellt, dass die Innere Mission explizit als „Wesens- und Lebensäußerung der Evangelischen Kirche“ zu verstehen sei, was nichts an ihrer rechtlichen Selbständigkeit änderte. Die Formulierung beschreibt die erklärte Inobhutnahme der Inneren Mission durch die Evangelische Kirche, um sie vor den massiven Einflussnahmen und Bedrängnissen des nationalsozialistischen Regimes zu schützen und die Diakonie näher an die verfasste Kirche zu rücken. Mit anderen Worten: Es war keine theologisch begründete Liebeserklärung, die diesem Näherrücken der Diakonie an die verfasste Kirche zugrunde liegt, sondern eine gewisse kirchenpolitische Pragmatik, der Diakonie einen, wenn auch nicht ganz festen, Schutzwall vor der nationalsozialistischen Indoktrination zu bieten.
Nach Kriegsende 1945 gründete die Evangelische Kirche ein eigenes „Hilfswerk“, das sich unter anderem der Hungersnot in Deutschland und der Ansiedlung und Versorgung von Flüchtlingen und Vertriebenen widmete. Dieses Hilfswerk wurde erst 1975 mit der Inneren Mission zu einem gemeinsamen privatrechtlichen Verein, dem Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland, fusioniert, eine Entwicklung, die landeskirchlich bereits seit den späten 50er Jahren eingesetzt hatte. Einzig in der Evangelischen Kirche der Pfalz ist die Diakonie im Sinne eines Spitzenverbandes Teil der verfassten Kirche, also einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, unbeschadet der privatrechtlichen Organisation vieler diakonischer Träger vor Ort. In diesem Jahr steht nun auf Bundesebene die Fusion mit dem Evangelischen Entwicklungsdienst zum neuen Werk Diakonie und Entwicklung an, dessen erste Konferenz im Oktober in Düsseldorf stattfinden wird.
- Bedrängnisse
2.1 Der aktivierende Sozialstaat
Die Idee des nationalen Sozialstaats kam in den 1950er und 1960er Jahren des Nachkriegsdeutschlands zur vollen Entfaltung. Zwei Dekaden des satten wirtschaftlichen Wachstums gingen einher mit allgemeiner Wohlstandsmehrung und steigender sozialer Absicherung. Es vermittelte sich ein Bild dauerhaft gestaltbarer Harmonie von ökonomischer Logik und sozialpolitischen Ansprüchen und der Kapitalismus westlicher Prägung schien nun sein eigentliches, humanes Gesicht zu zeigen. Die Sozialausgaben stiegen absolut wie relativ beständig an, immer mehr soziale Risiken wurden abgesichert. Die Wachstumsrate der sozialen Handlungsfelder und die Ausdifferenzierung der sozialen Berufsträger hat in den 60er bis 80er Jahren im Nachkriegsdeutschland ein starkes Ausmaß genommen. Wir verzeichnen gegenwärtig zwar nicht mehr diese hohen Zuwachsraten, aber immer noch wächst die Zahl der Mitarbeitenden in der Diakonie und sie liegt gegenwärtig bei ca. 450.000, während die der kirchlichen Mitarbeiterschaft abnimmt. Allein im Verbandsgebiet der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe arbeiten rund 140.000 Beschäftigte, in knapp 5000 Einrichtungen. Das sind Krankenhäuser, Einrichtungen der Alten-, der Behinderten- und der Erziehungshilfe, Kindertagestätten und Familienzentren, Beratungsstellen unterschiedlichster Art, Beschäftigungs- und Qualifizierungsträger, Projekte der Gefährdeten- und der Suchthilfe, Bahnhofsmission und Migrationsfachdienste, um nur einige zu nennen.
Angesichts dieser quantitativen Dimensionen, so müsste man meinen, ist der Sozialstaat in voller Blüte begriffen und die Diakonie partizipiert als korporatistischer Partner prächtig an dieser Blütenvielfalt. Dem aber ist nicht so! Das hat vielfältige Gründe.
Seit Mitte der 1970er Jahre, vollends aber nach dem Fall der Mauer und dem Ende der Systemkonkurrenzen zwischen Ost und West, entfaltete sich eine sozialstaatskritische Diskussion unter Stichworten wie „Anspruchsinflation“ und „Überregulation“. Der Sozialstaat erschien zunehmend als Hemmnis und Belastung ökonomischen Fortschritts, eine Diskussion, die sich gegenwärtig im Zuge der internationalen Krise der Finanzmärkte nochmals verschärft. Der Marktgedanke hielt dabei auf drei Ebenen Einzug:[8]
- Auf der Ebene derexternen, internationalen Vermarktlichung. Damit ist gemeint, dass im Kontext globaler Standortkonkurrenz auch die Sozialstaatssysteme in die Vergleichsberechnung aufgenommen wurden und die Frage aufgeworfen wurde, wie viel Sozialstaat eigentlich noch leistbar ist, um sich im internationalen Konkurrenzdruck nachhaltig aufstellen zu können. Wir kennen diese Diskussion bis heute mit Blick auf die Problematisierung angeblich zu hoher Lohnnebenkosten und dem daraus resultierenden Erfordernis durch Absenkung der Ausgaben- und Stärkung der Einnahmenseite Nachbesserungen in den Sozialkassen zu justieren. Bespiele dafür sind die Verschiebung des Renteneintrittsalters und Kürzungen der Leistungen der Arbeitslosenversicherung durch Einführung der Hartz-IV-Gesetze.
- Auf der Ebene der„internen Vermarktlichung“.Dies bezieht sich auf die Regulierung des Sozialsektors durch Etablierung eines Wohlfahrtsmarktes. Neue Steuerungsmechanismen, wie die Abkehr vom Selbstkostendeckungsprinzip, die Einrichtung von Budgetierungen, der Übergang zu Kosten- und Fallpauschalen, der Verlust der bedingten Vorrangstellung der Träger der Freien Wohlfahrtspflege und die Zulassung freigewerblicher Anbieter – das sind kurz umrissen Eckpunkte der neuen Steuerung wie sie mit der Einführung der Pflegegesetzes zum 1. Januar 1995 initial Einzug gehalten haben.
- Auf der Ebene der„subjektbezogenen Vermarktlichung“.Es geht dabei um marktkonforme Einübung individueller Handlungskompetenz. Die Aktivierung von Eigenverantwortung, private Vorsorge und die Definition von Unterstützungsbedürftigen als „Koproduzenten wohlfahrtsstaatlicher Leistungen“ gehen eng einher mit der Reetablierung von moralischen Kategorisierungen bezüglich dessen, wer Anspruch auf Unterstützung hat und wer nicht. Begriffe wie „Soziale Hängematte“, „Schmarotzertum“, „Spätrömische Dekadenz“, „Mangelhafte Anstrengungsbereitschaft“ zeigen an, dass sich der Trend populistisch verschärft, prekäre Lebenslagen als Ausdruck mangelnder Selbstaktivierung zu erklären. Nach dieser Logik kann der Staat eben nicht länger Ersatzleistung übernehmen für ein selbstverschuldetes, individuelles Marktversagen. Wie hat Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung im März 2003 mit Blick auf die Agenda 2010 formuliert: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von den Einzelnen fordern müssen.“ Das fast alles zusammen!
Für die Leistungsanbieter sozialer Dienstleitung, also auch für Diakonie und Caritas, hat diese Entwicklung insgesamt zur Folge, dass der soziale Sektor einem wachsenden Kostensenkungsdruck ausgesetzt ist. Der damit verbundene Druck auf die Lohnkosten ist umso gravierender, weil er sich insbesondere in der Konkurrenz zu privaten Anbietern abspielt, deren Entgeltregelungen oft deutlich niedriger sind als die kirchlichen Arbeitsentgelte. Diese aber werden nicht unbedingt von der Kostenträgerseite finanziert. Wir erleben das gegenwärtig paradox genug: Während Verdi sicher aus gutem Grund für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst für zwei Jahre 6,3 Prozent mehr Lohn erzielt hat, haben uns die Landschaftsverbände in NRW gerade einmal 0,9 Prozent Vergütungssteigerung im Bereich der Eingliederungshilfe angeboten, also für die soziale Arbeit für Menschen mit Behinderung im Rechtskreis des SGB XII. In der Altenhilfe ist die Grundlohnsumme in den vergangenen drei bis vier Jahren um mehr als elf Prozent gestiegen, während die Pflegesätze um nur gut sechs Prozent erhöht wurden.
Diese sich immer mehr weitende Differenz zwischen der Lohnsteigerung und der schleppenden Steigerung des Refinanzierungsanteils durch die öffentliche Hand erhöht den Druck auf die Träger, dieser Situation durch Abbau von Personal, durch Senkung der Fachkraftquote oder aber durch Ausgründung von bestimmten Betriebsanteilen wie Reinigung oder Catering in gewerbliche GmbHs zu begegnen. Für diese Mitarbeitenden der gewerblichen Betriebsgesellschaften greift dann in der Regel der wesentlich günstigere Tarif der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten. Die Einrichtungen haben nur eine begrenzte Zahl von Instrumenten zur Verfügung, um auf diese Form der Ökonomisierung des Sozialen zu reagieren. Dazu zählen großflächige Fusionen, die bestimmte Verwaltungs- und Overheadkosten einsparen, Verbreiterung des Leistungsspektrums, wie es sogenannten Komplexeinrichtungen bereits vorweisen oder aber Expansion in andere Kommunen oder Bundesländer, in denen sich die Refinanzierungssituation günstiger darstellt. Mit anderen Worten: Für eine örtliche Kirchengemeinde, ja selbst für einen Kirchenkreis wird die diakonische Geschäftsfeldpolitik teilweise unübersichtlich und der betriebswirtschaftlich raue Wind steht im gefühlten Widerspruch zum gepflegten Hauch des Heiligen Geistes. Die Sache insgesamt führt zu einem doppelten Konflikt, einem binnenkirchlichen und einem gegenüber der Gewerkschaft Verdi.
2.2 Misstrauen unter Geschwistern
Schmerzhaft genug, dass Medienanalytiker offenbar zutreffend anzeigen, welchen enormen Imageverlust die Diakonie gegenwärtig erleidet. Statt dass uns das Profil zugeschrieben wird, öffentlich den politischen Raum mit Aufklärung über die Ursache der sozialen Misere und mit dem Einsatz für die von Arbeitslosigkeit, von Armut, Ausgrenzung, Obdachlosigkeit und unzureichender Pflege Betroffenen zu füllen, finden wir uns selber wieder in der Rolle der öffentlich Angeklagten. Die Dienstleitungsgewerkschaft Verdi hatte am Vorabend der letztjährigen 4. Tagung der 11. EKD-Synode zur Demonstration aufgerufen. Etwa 500 Demonstranten waren aus diesem Anlass nach Magdeburg gekommen und hatten die anreisenden Synodalen nicht unerheblich irritiert. Wer mag sich schon gerne zum synodalen Auftakt durch ein schrilles Pfeifkonzert begeben, begleitet von Kampfrufen und hochgehaltenen Plakate, wie etwa jenen: „Was würde Luther dazu sagen? Streikrecht ist Grundrecht.“ Oder: „Lieber streiken als betteln.“ Und Verdi-Chef Frank Bsirske ließ nicht ab, lautstark zu betonen, dass die Kirche ihren Mitarbeitern ein Menschenrecht entziehe.
Das Schwerpunktthema „Mission“ war in den folgenden Tagen zur Zweitrangigkeit verurteilt. Die Diskussion um den Dritten Weg nahm den eigentlichen Raum ein und führte zu hitzigen innersynodalen Debatten, wie ich sie noch nicht erlebt hatte. Verletzt die Diakonie die Menschenrechte? Warum sollen wir unseren Mitarbeitenden das Streikrecht entziehen? Werden wir jetzt zu Kombattanten diakonisch unfairer Machenschaften? Gehört diese Diakonie überhaupt noch zu uns oder werden wir hier als Kirche durch die Diakonie öffentlich diskreditiert? Wo ist denn noch das Besondere der Diakonie, das sogenannte „kirchliche Proprium“, wodurch sich Diakonie gegenüber allen anderen Dienstleitern des Sozialen profiliert abgrenzt?
Das diakoniewissenschaftliche Pendant dieser Fragestellungen ist in der Tat ein seit Jahren zu verzeichnendes Bemühen, ein solches kirchliches Proprium der Diakonie nachzuweisen, um nicht zu sagen zu behaupten. Da ist vom „diakonischen Mehrwert“ im Geschehen von „Zuspruch und Anspruch“ die Rede, oder davon, wie der frühere Ratsvorsitzende Wolfgang Huber betont, dass das „Markenzeichen der Diakonie“ darin bestehe, Menschen ganzheitlich wahrzunehmen. Oder aber die Besonderheit diakonischen Handelns wird im Festhalten an der unbedingten, normativen Menschenwürde gesehen, in einer spirituellen Sinndeutungskompetenz sowie in der Verwurzelung in kirchlich-gemeindlichen Strukturen, oder aber in der „Vermittlung einer Atmosphäre bedingungsloser Zuwendung und Akzeptanz“, in der „Erschließung der Gottesbeziehung und Spiritualität als existentieller Erfüllung“. Schließlich wird gar alarmierend gewarnt, dass es eine Überlebensfrage für die Diakonie ist, ob sie von Mitarbeitern und erst recht von den Hilfebedürftigen als Ausprägung christlicher Religion erfahren wird, denn Diakonie ohne Verbindung zur christlichen Verkündigung verkomme „zum sinnlosen Betrieb“.[9]
Richtig an all diesen Äußerungen ist, dass es durchaus vorkommt, dass Kunden, Patienten oder Ratsuchende in diakonischen Einrichtungen die Entdeckung von Spiritualität, einem ganzheitlichen Angenommensein, gelebtem Glauben oder kirchlicher Anbindung machen können. Aber die Frage ist, inwieweit der gelebte Glaube, die Spiritualität oder kirchlich aktive Rückbindung sich in den Strukturen der Arbeit so widerspiegeln kann, dass hier tatsächlich von einer besseren, qualitativ die anderen Sozialleister überbietenden Dienstleitung die Rede sein kann. Die maßgeblichen, betriebswirtschaftlichen Kernprozesse oder die Refinanzierungsbedingungen, innerhalb derer sich die Arbeit vollzieht, kann eine solche Kultur der Spiritualität nicht ändern. Konkret gesagt: Wenn eine Nachtschwester auch in einem diakonischen Krankenhaus alleine zwei Stationen zu betreuen hat, unterliegt sie demselben Stress und knappen Zeitmanagement wie eine Nachtschwester in einem kommunalen oder gewerblichen Krankenhaus. Wenn das Zeitmodul für eine Insulinspritze auf fünf oder sieben Minuten der häuslichen Pflege kalkuliert ist und danach schon der nächste Patient wartet, ist das dem für alle Anbieter gleichen Rahmenbedingungen der Refinanzierung geschuldet und alternativlos.
Wenn einem Ein-Euro-Jobber nach einem halben Jahr keine Verlängerung mehr gewährt wird, muss sich auch der diakonische Beschäftigungsträger an diese Vorgabe halten, auch wenn die betreffende Person noch keine sozialversicherungspflichtige Arbeit gefunden hat. Mit anderen Worten: Die betriebswirtschaftlichen Kernprozesse, die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen setzen in der Regel für alle Anbieter gleiche Grenzen, innerhalb derer sie teilweise nur sehr engen Gestaltungsspielraum haben. Diese Kernprozesse entscheiden aber wesentlich darüber, ob Pflege, Heilung, Beratung oder Integration in den Arbeitsmarkt gelingt oder nicht. Die christliche Motivation der Mitarbeitenden, die gelebte Spiritualität der Einrichtung, die kirchliche Rückbindung oder das Leitbild, das eine ganzheitliche Wahrnehmung der Betroffenen ansagt, dient sicher der diakonischen Identität, aber sie bieten keine belastbare Grundlage für die Behauptung, die Diakonie halte durchweg die bessere Dienstleistung vor.
Anders und positiv gesagt: Es gibt gute Gründe, die soziale Arbeit, insbesondere wenn sie Menschen in sozialen Notlagen oder in Armut betrifft, auch theologisch zu reflektieren. Hier bietet die biblische Tradition eine hilfreiche Fülle, wenn beispielsweise immer wieder zur Sprache kommt, dass Gott aus Gefangenschaft befreit, die Gebeugten aufrichtet und umgekehrt die, die Ungerechtigkeit und Gewalt gegenüber der großen Menge der Besitzlosen betreiben, anklagt und zur Rechenschaft zieht. Für die Diakonie ist das eine Grundlage, ihre Arbeit im Licht und unter Bezugnahme dieser besonderen Parteinahme Gottes verstehen und auch glauben zu lernen, auch wenn andere ihre soziale Arbeit so nicht deuten wollen. Insofern ist das Spezifische der Diakonie, dass sie ihre Arbeit immer wieder auch kritisch reflektiert im Horizont dieser biblischen Wegweisung, aber nicht mit der Tendenz, ihre Arbeit als eine besondere oder bessere gegenüber Dritten abzugrenzen.[10]
Die gegenwärtig in der Diskussion befindliche Konsultationsschrift „Perspektiven der Diakonie im gesellschaftlichen Wandel“ formuliert dazu: „Nicht die Differenz gegenüber Dritten ist das diakonisch maßgebliche Kriterium, sondern die Möglichkeit zur Umsetzung und Organisation der Arbeit nach eigenen ethischen Kriterien.“[11]
Dies bedeutet aber wesentlich radikaler im Umkehrschluss, dass die Diakonie auf der Grundlage der biblisch-theologischen Rückbindung auch diskutieren und entscheiden muss, welche Dienstleistung sie unter welchen Bedingungen bereit ist vorzuhalten und welche gegebenenfalls auch nicht, wenn sie keine Möglichkeiten sieht, diese mit ihren ethischen Kriterien in Einklang zu bringen. Das eingeforderte Differenzkriterium „anders als andere“ sagt nichts darüber, ob trotz der beispielsweise vorgehaltenen Spiritualität oder kirchlichen Rückbindung es schon gerechtfertigt ist, bestimmte soziale Dienstleitungen zu erbringen. Wir hatten diese Diskussion beispielweise bei der Einführung der sogenannten Ein-Euro-Jobs angesichts der Tatsache, dass die Übernahme dieser Tätigkeiten für die Betroffenen erzwungen werden kann und nicht kooperatives Verhalten vom Träger an die Argen gemeldet werden muss, was u. U. Sanktionen für die Betroffenen zur Folge hat. Die christliche Motivation der Mitarbeitenden als Differenzpunkt zu anderen Anbietern richtet in diesem Fall wenig aus. Die damals aufgeworfene Diskussion konzentrierte sich auf die Frage, wie wir diese Art des Entzugs der Freiwilligkeit für die Betroffenen ebenso wie die damit kolportierte These, dass das Hauptproblem der Arbeitsmarktkrise die mangelnde Anstrengungsbereitschaft der Betroffenen ist, in Deckung bringen können mit den biblisch-theologischen Grundlagen unserer sozialen Arbeit. Denn biblisch-theologisch werden die von Armut Betroffenen nicht diffamiert oder als Schmarotzer moralisiert, sondern da wird durchgängig an die Wurzeln der sozialen Misere gepackt, da wird die gesellschafts- und verteilungspolitische Ursache der Armut öffentlich angeprangert und zu politischer Gegensteuerung vielfältig aufgerufen! [12]
- Perspektiven
3.1 Aufklärung statt Moralisierung – Zur Kurskorrektur politischer Fronten
Es ist schon schwer erträglich, angesichts der zuvor genannten Pressionen der Kostenträger zu erleben, auf welchen Nebenschauplätzen wir uns abkämpfen müssen. Ich meine damit die Tatsache, dass die gerichtlich anhängige Auseinandersetzung über die Recht- oder Unrechtmäßigkeit des Streikaufrufs innerhalb der Diakonie keinerlei Lösungsansatz für die Misere des Kostenträgerdrucks bedeutet. Statt dass Verdi gemeinsam mit uns über den Kern der Problematik einer fehl gesteuerten Ressourcenausstattung im Sozialsektor aufklärt und die Verhältnisse skandalisiert, konzentriert sie sich kampagnenstrategisch auf eine Diffamierung diakonischer Träger, als sei die Diakonie ein Sammelbecken von Lohndumpingbetreibern und gewinnsüchtigen Konzernchefs. Die Verzerrung, die hier betrieben wird, nimmt einige wenige Einzelfälle von Leih- und Zeitarbeit, Ausgründungen oder Unterlassung der vollumfänglichen Anwendung des kirchlichen Arbeitsrechts zum Anlass pauschaler und undifferenzierter Verurteilung.
Wir haben nichts zu verbergen! Unsere Tarife sind nicht nur denen des öffentlichen Dienstes gleichwertig, sondern sie liegen in Teilen sogar darüber, das gilt sowieso und besonders gegenüber den gewerblichen Anbietern. Wir stellen durch die gegenwärtige Auswertung der bundesweiten Abfrage bezüglich der Zeitarbeit, der Ausgründungen oder der Nichtanwendung kirchlichen Arbeitsrechts ein Höchstmaß an Transparenz her und ich bin sicher, dass diese Fälle bei weitem unter dem liegen, was da öffentlich kolportiert wird. Wir gehen dialogisch, aber auch unmissverständlich und konsequent den Fällen nach, bei denen wir die arbeitsrechtlichen Aspekte der Einhaltung der Mitgliedschaftspflichten verletzt sehen. Und die Arbeitsrechtlichen Kommissionen sind arbeits-, verhandlungs- und streitfähig.
Die Paradoxien der Kampagne, die Verdi betreibt, sind schon erschreckend eindeutig. Verdi selber schließt mit anderen Anbietern im Sozialsektor Tarife ab, die teilweise in der Entgeltsumme 20 Prozent unter unseren Eingruppierungen liegen. Ich erwarte nicht, dass Herr Bsirske Verständnis für unsere theologische Argumentation hat, die für uns Kampf- und Aussperrungsmaßnahmen nicht zum Mittel des streitbaren Umgangs zählen lässt. Dazu nur angemerkt: Es wäre eine theologisch fatale Preisgabe der lebensweltlichen Dimension unseres Glaubens, wenn wir den Anspruch an Gemeinschaft und Geschwisterlichkeit im Umgang miteinander auf den liturgischen Raum reduzieren würden. Diakonie steht theologisch betrachtet unter dem Zuspruch und Anspruch der ekklesia, die sich leiten lässt von den biblisch gelegten Grundlagen unseres Glaubens. Das umfasst eine ganzheitliche Dimension, und hier kann nichts separiert werden und verlangt daher in allen Lebensbezügen nach eigenen Wegen des konfliktfähigen Miteinanders.
Ich erwarte auch nicht, dass Verdi zur Kenntnis nimmt, dass der überwiegende Teil der Mitarbeitenden und der in den Kommissionen Mitwirkenden kein Streikrecht wünscht. Aber die Auswirkungen, die die Einführung von Tarifverträgen und Streikrecht in der Diakonie hätten, sind abzusehen und die muss auch Verdi kalkulieren. Es wäre das Ende der bisherigen kollektiven Regelungen mit hoher Bindekraft des kirchlichen Arbeitsrechts. Es würde zur tariflichen Zersplitterung in der Landschaft der diakonischen Träger und letztlich zu einer Lohnspirale nach unten führen, weil der Konkurrenz durch zerfasernde Haustarifverträge einseitig und ungebunden Tor und Tür geöffnet würde. Dann besteht gesichert Grund zur Klage, aber die sollte sich zwingend an Verdi richten!
Wann begreifen die schlecht beratenen Verdikollegen, dass der Kampfplatz völlig falsch gewählt ist. Statt gegen die Diakonie Front zu machen, geht es darum, mit der Diakonie die Front gegen die zu eröffnen, die systematisch den Abbau soziastaatlicher Leistungen betreiben. Wenn die Mitarbeitenden in der Diakonie diese Solidarität von Verdi erkennen könnten, dann würde vermutlich auch die Zahl der gewerkschaftlichen Mitglieder innerhalb der diakonischen Dienstnehmerseite steigen.
3.2 Die Errichtung des öffentlichen Raums – Diakonische Profilierung der Kirche
Haben wir bislang eher den Blick auf das theologisch legitime und sachgemäße Profil der Diakonie gerichtet, so ist die abschließende Perspektive einzunehmen und nach dem diakonischen Profil der Kirche vor Ort, den Gemeinden und Kirchenkreisen zu fragen. Das soll nicht davon ablenken, dass wir innerhalb der privatrechtlich organisierten Diakonie eine mindestens doppelte Aufgabe haben, nämlich einerseits die eindeutige Identifikation von Missständen beispielweise bezüglich der satzungsgemäßen Pflichterfüllung aller Mitglieder und andererseits die Skandalisierung von Kostensenkungsdruck im sozialen Sektor. Aber es gibt auch eine Ebene der diakonischen Arbeit, die sich nicht im Dilemma dieses Konfliktes befindet und daher zumindest davon unbelastet gestaltbar ist. Dazu ein Zwischengedanke:
Menschen in Armut, in Langzeitarbeitslosigkeit, Menschen in Altersarmut oder prekären Lebenslagen beklagen nicht nur die materielle Not ihrer Existenz. Hinzu kommt der Rückzug ins Private, der isolieren, anonymisieren und ausgrenzen kann. Das gilt natürlich weniger auffällig für die, die dieses Terrain des Privaten mit Besitz, Prestige und Eigentum bestücken können. Hier wird das Private gerne genutzt, um sich zu zeigen und gesehen zu werden, eine Bastion gehegter und gepflegter Lebensbilanz, die ausstellt, was man erreicht hat, was man geworden ist und wozu man gehört. Das „Privateigentum“ ist vor allem in möglichst gesteigerter Form der Seismograph, der anzeigt wie gelungen das Private ist, wie gut das, was ich mein Eigen nenne, Gestalt gefunden hat. Gleichwohl gilt auch in diesem Fall, was schon Hannah Arendt in ihrem Buch „Vita activa“ beklagt hat: Der Rückzug ins Private ist eine Situation der Beraubung. Beraubt ist der politische Bezug. Das wird nun umso fataler, ja schlägt in eine vollends negative Privatheit um, wenn das, was im Kern Privatheit ausmacht, nämlich das Privateigentum, verzehrt und die Quelle des Privateigentums, nämlich die Arbeit, versiegt ist. Langzeitarbeitslose und von Armut und Altersarmut betroffene Menschen sind von daher mehrfach auf sich zurückgeworfen: Sie haben keine Arbeit, sie besitzen tendenziell nichts mehr, was sie „ihr Eigen“ nennen können. Sie sind nicht nur ökonomisch nutzlos, sie können sich auch im ökonomisch regierten öffentlichen Raum des Kaufens und Erkaufens von Erlebnissen nicht aufhalten. Das gilt übrigens vielfach auch für Menschen im hohen Alter, für Pflegebedürftige und nicht selten auch für Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen. Sie verlieren nicht nur Kaufkraft, sondern auch Mobilität, soziale Beziehungen, Lebenszugänge und die Möglichkeit „mithalten zu können“. Oft reagieren sie mental mit Scham, Selbstvorwürfen und Rückzug und sie tragen diese Erfahrungen mehrfacher Beraubung am öffentlichen Leben im privaten Bereich enger Wohnverhältnisse aus.[13]
Deshalb zurück: Könnte es nicht sein, dass das eine ungemein diakonische Vision wäre, wenn Gemeinden den Raum des Öffentlichen so gestalten, dass die der Öffentlichkeit Entflohenen sich hier ganz und gar und völlig unbehandelt aufhalten könnten? Unbehandelt, nicht deformiert als Objekte einer Gemeindekonzeption von Gebildeten, die die Wiederentdeckung der Barmherzigkeit nun in eine Strategie der Fürsorge gießen. So wie es in der EKD-Denkschrift „Gerechte Teilhabe“ heißt: „Entscheidend ist es, dass Kirchengemeinden Möglichkeiten der Aktivierung Armer entwickeln und in der Lage sind, nicht die Schwächen von Armen zu kompensieren, sondern an deren Stärken anzuknüpfen. Diese Stärken bestehen z.B. in der Spontaneität, der Fähigkeit zu überleben, im Humor und in durchaus lustbetonten Gemeinschaftsformen. Erfahrungen gemeinsamen Feierns sind ganz wesentliche Punkte des Kontakts zu Armen und ihrer Anerkennung und Aktivierung.“[14]Solche Formulierungen meinen Richtiges, aber ihr Duktus entspringt doch einem bildungsbürgerlichen Fürsorgepaternalismus, der sich kirchlich verbietet.
Ich meine: Im Kontrast zu jener Situation vieler Menschen in desolater, geradezu deprimierender Privatheit, verfügt jede Kirchengemeinde über öffentliche Räume und die grundsätzliche Fähigkeit, eine eigen geprägte Gegen-Öffentlichkeit herzustellen, denn auch das sind unsere Kirchen und Gemeindezentren: Räume, die sich wirklich und im umfassenden, radikalen Sinne öffnen könnten. Räume, die alternativ zum sonstigen Charakter und zur Verschlossenheit des öffentlichen Raums eine erlebbare Eigenart der gleichberechtigten Zugänglichkeit bieten können. Und zudem haben wir mit dem Sonntag ergänzt zum Raum auch die Möglichkeit, herausgehoben Zeit zu gestalten und zwar mit dem ganzen Sonntag, nicht nur eine Stunde, übrigens zur frühen Unzeit für viele, sondern ganztägig und dann mit wahrnehmbaren, erlebbaren biblisch-diakonischen und geistlichen Dimensionen von Geborgenheit, von Erkenntnis und Befreiung, wie das der niederländische Pastoraltheologe van der Geest einmal beschrieben hat,[15] also: Mit Geborgenheit von der Gestaltung des Gottesdienstes bis zur offenen Begegnung mit Essen und Trinken, mit Erkenntnis, also sowohl was die Predigt anbelangt, indem die biblische Traditionen überraschend Gegenwart erschließt, als eben auch durch Beratung, Aufklärung über den Stadtteil für Neuzugezogene, ganzheitlich für Familien, für Menschen im Alter, für politisch Interessierte und künstlerisch Ambitionierte, für Fragen der Pflege und der anstehenden Einschulung des Jüngsten. Schließlich durch die Dimension der Befreiung – indem die Eingeladenen an diesem Tag Sprachräume und Entlastung finden von dem, was sie gefangen und bedrängt hält – Kirche also diakonisch ganzheitlich, lebenshilfreich, alternativ.[16]
Damit lägen wir in der Tradition der alttestamentlichen Klagepsalmen. Denn in den Klagepsalmen geht es nicht um das stille und verschämte Verbalgeschehen im Verbogenen, als nähmen wir lediglich diskret Anteil an dem in der kleinen Kammer des Privaten ausgehandelten Hadern mit Gott.[17] Ganz im Gegenteil vermeiden die Klagerufe den Rückzug ins Private. Ausgerufen auf den Dächern, auf dem Tempelplatz oder Vorhof sucht die Not in der Klage den öffentlichen, politischen Raum. Es ringen die von Not Betroffenen um Skandalisierung ihrer Lage. Sie suchen trotzig die politische Offensive, klagen die Verursacher ihrer Not an und geben ihrer Not den weiten Raum der öffentlichen Rede, umgeben von anderen, die hören, einstimmen und auch damit der Klage eine gesellschaftliche Kraft verleihen. Und am Ende der Klage steht immer wieder das Lob. Könnte das nicht diakonische Impulse für das kirchliche Gemeinwesen geben, für das zivilgesellschaftliche, das politische Engagement der Kirche vor Ort?
Denn wenn Menschen mit Klage im Herzen und zurückgezogenem Leben, mit verschämter Selbstwahrnehmung und gebrochenem Geist das erleben, auf- und angenommen zu sein auf Augenhöhe und ohne Diskriminierung, dann kann es doch sein, dass sie wieder neuen Atem gewinnen und die Klage sich zum Lob wandelt, wie es in Psalm 13 heißt: „Mein Herz freut sich, dass du so gerne hilfst./ Ich will dem Herren singen, dass er so wohl an mir tut.“
Das wäre doch was, eine diakonische Vision kirchlichen Lebens auch und gerade für die Diakoniekritischen unter unseren Brüdern und Schwestern.
Vortrag vor der Landessynode der Evangelischen Kirche der Pfalz am 31. Mai 2012 in Bad Herrenalb. Der Autor ist Vorstand der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe: Zur Veröffentlichung vorgeschlagen von Frank-Matthias Hofmann, Johanna-Wendel-Straße 15, 66119 Saarbrücken.
[1] Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburger Konfession 1930, Göttingen 1979, S. 61.
[2] Rüegger, Heinz; Sigrist, Christoph: Diakonie – eine Einführung. Zur theologischen Begründung helfenden Handelns, Zürich 2011, S. 83.
[3] A.a.O., S.89f.
[4] So etwa schreibt der Prediger Petrus von Blois angesichts der großen Hungersnot von 1194 in einem Brief an Raoul von Wanneville, Bischof von Lisieux und Kanzler des Königreichs England: „Der Herr hat dich eingesetzt, damit du das Salz der Erde seist; hüte dich davor, zum verdorbenen Salz zu werden, das man auf die Schwelle wirft, wo es zertreten wird … Bereits sind Tausende von Armen an Hunger und Not gestorben, und noch nicht auf einen einzigen hast du deine wohltätige Hand gelegt … Die Erde verdirbt bereits auf den Feldern und du, du hast noch nicht einen einzigen Armen getröstet…“. Zitiert in: Mollat, Michel: Die Armen im Mittelalter, München 1987, S. 101.
[5] Vgl. Sachße, Christoph; Tennstedt, Florian: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Band 1: Vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg, Stuttgart 1980, S. 30ff.
[6] Stekl, Hannes: „Labore et fame“ – Sozialdisziplinierung in Zucht- und Arbeitshäusern des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Sachße, Christoph; Tennstedt, Florian (Hrsg.): Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung, Frankfurt am Main 1986, S. 119-147.
[7] Becker, Uwe (Hrsg.): Perspektiven der Diakonie im gesellschaftlichen Wandel, Neukirchen-Vluyn 2011, S. 110.
[8] Vgl. a.a.O, S. 79f.
[9] Zitiert nach Rüegger, Heinz; Sigrist Christoph, Anm. 2, S. 132ff.
[10] Vgl. Haslinger, Herbert: Die Frage nach dem Proprium kirchlicher Diakonie, in: Herrmann, Volker; Horstmann, Martin (Hrsg.): Studienbuch Diakonik, Band 2: Diakonisches Handeln, diakonisches Profil, diakonische Kirche, Neukirchen-Vluyn 2008, S. 160-174.
[11] Becker, Uwe (Hrsg.), Anm. 7, S.22f.
[12] Selbstkritisch muss sich die Diakonie allerdings grundsätzlich fragen, ob sie sich nicht viel intensiver um die Aufklärung über Ursachen und Mechanismen sozialer Miseren bemühen sollte, statt sich immer wieder moralischer Appelle an die „Gerechtigkeitsempfindungen“ staatlicher Organe zu bedienen. Vgl. zur Problematik: Dahme, Heinz-Jürgen; Wohlfahrt, Norbert: Ungleich gerecht? Kritik moderner Gerechtigkeitsdiskurse und ihrer theoretischen Grundlagen, Hamburg 2012
[13] Vgl. Becker, Jens; Gulyas, Jennifer: Armut und Scham – über die emotionale Verarbeitung sozialer Ungleichheit, in: Zeitschrift für Sozialreform, Jahrgang 58 (2012) Heft 1, S. 83-99.
[14] Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität. Eine Denkschrift des Rates der EKD zur Armut in Deutschland, Gütersloh 2006, S.77.
[15] Vgl. Van der Geest, Hans: Du hast mich angesprochen. Die Wirkung von Gottesdienst und Predigt, Zürich 1983
[16] Vgl. Becker, Uwe; Rinderspacher, Jürgen P.: Die Sonntagskirche, in: Roth, Ursula; Schöttler, Heinz-Günther; Ulrich, Gerhard (Hrsg.): Sonntäglich. Zugang zum Verständnis von Sonntag, Sonntagskultur und Sonntagspredigt. Festgabe für Luwig Mödl zum 65. Geburtstag, München 2003, S.134 -147.
[17] Vgl. Crüsemann, Hans: Das Alte Testament als Grundlage der Diakonie, in: Herrmann, Volker; Horstmann, Martin (Hrsg.): Studienbuch Diakonik, Band 1: Biblische, historische und theologische Zugänge zur Diakonie, Neukirchen-Vluyn 2008, S. 58-87.
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