Gedenkrede zum Volkstrauertag 2011

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Prof. Dr. Roland Rixecker

Präsident des Saarländischen Oberlandesgerichts

Franz-Josef-Röder-Straße 15, 66119 Saarbrücken

Als ich ein kleiner Junge war, stöberte ich, wie kleine Jungen das zuweilen tun, in den auf einem Dachboden verstauten meist leeren Zigarrenkisten meines Vaters. Und einmal entdeckte ich dort einen, aus Sicht eines Kindes, kleinen Schatz, ein Behältnis mit Abzeichen, Sternen und Kreuzen. Rotes Emaille, geschnitten von goldenen Schwertern, die den Namen eines rätselhaften Königs Mihai trugen. Ein schwarzes, silberumrandetes geschwungenes Kreuz, das die Zahl 1939 und eine merkwürdige Verhakung in seiner Mitte trug. Und neben ihm ruhte ein düsteres grau-blechernes Oval, von einem schwarzen Helm gekrönt, das eine Insel mit dem mir damals unbekannten Namen Krim abbildete. Mein Vater, 1948 aus den Steinbrüchen des Ural zurückgekehrt, mochte die Fragen nicht, was und woher das stamme. Und so vergaß ich diese Objekte kindlicher Neugier bald.

Vor dem Tag heute habe ich mich an dieses Erlebnis erinnert und erneut gestöbert. Und fand, diesmal in einem kleinen vergessenen Schmuckbeutel genau diese Zeichen mit einem Zettel und einer Nachricht meiner Mutter an mich: Wirf das nicht weg, Dein Vater wollte sie wegwerfen, tu es nicht, sie sind Teil seines Lebens gewesen.

Sehr geehrter Frau Vizepräsidentin des Landtags des Saarlandes, sehr geehrter Herr Minister, sehr geehrter Herr Generalkonsul der Republik Frankreich, sehr geehrter Herr Vorsitzender des Saarländischen Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge, meine sehr verehrten Damen und Herren!

Der Volkstrauertag als Tag des Gedenkens an das Leid der in Kriegen Gefallenen hat eine bewegte Geschichte. Geboren wurde er aus der Erinnerung an die Toten des 1. Weltkriegs, an die Gräberfelder in Flandern und vor Verdun. Misstrauisch haben ihn die schwachen Verteidiger der Weimarer Republik betrachtet, als verkörpere er den Satz „Deutschland muss leben, auch wenn wir sterben müssen“. Er wurde missbraucht als „Heldengedenktag“ von den Kriegspropagandisten des III. Reichs, die keine seelische Erhebung sondern seelische Mobilmachung wollten. Die „aus Ruinen Auferstandenen“ haben ihn zum Kampftag gegen Faschismus und Imperialismus nominiert, der er nie war. Nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland verwandelte er sich in einen Tag der Trauer um die von allen Nationen beweinten Opfer aller Kriege und aller Gewaltherrschaften, die das junge Deutschland nie mehr erleben wollte.

Und Jahr für Jahr des Friedens, der glücklichen Jahre der Verdrängung von Leid und Elend, von Hunger und Not und Vertreibung, von Vergewaltigung und Folter in aller Welt, wurde der Volkstrauertag zum Tag der Gedenkminuten „leerer Stille, pflichtbewussten Schweigens und gesenkter Häupter“. Meinrad Walter hat es in seinem großen Feature zu der Frage: „Wozu brauchen wir den Volkstrauertag“ auf den Punkt gebracht: „Noch heikler wäre es, wenn solche Gedenkminuten wirklich ganze Minuten dauern würden.“

Aber die Tage des Apeasement, der wirklichkeitsfreien Staatssymbolik, sind vorbei. Deutschland steht wieder in Kriegen. Wir geben der kindlichen Kaiserin Fantasiens, die nur das Gute will, aber nicht weiß, wo es sich befindet, zuweilen einen anderen Namen, um sie zu gesunden, einen blauen oder grünen, für den Gebrauch auf dem Amselfeld, am Hindukusch oder vor den Gestaden Somalias. Wir erleben, dass die verfallenden Gräber in Rumänien, an der Wolga oder auf der fernen Insel Krim, über denen einst bunte Abzeichen an Überlebende und Tote verliehen wurden, andernorts neu gegraben werden. Anders als früher sind es heute naturgemäß „gerechte“ Kriege, wenn man sie denn überhaupt Kriege nennen darf.

Aber was ist schon ein gerechter Krieg? In einem gerechten Krieg gefallene Frauen und Männer sind zunächst gefallene Frauen und Männer. Zu Hause wegen des Todes eines Liebsten weinende Kinder und Eltern sind zunächst, aller Gerechtigkeit zum Trotz, weinende Kinder und Eltern.

Tausende von Jahren sozialphilosophischer Debatten um den gerechten Krieg lassen uns ratlos. Augustinus, einer der Kirchenväter, schreibt: „Was in der Tat ist denn so falsch am Krieg? Dass Menschen sterben, die ohnehin irgendwann sterben werden, damit jene, die überleben, Frieden finden können?“ Und Thomas von Aquin ergänzt: „Viel mehr als das Heil eines einzelnen Menschen ist das Heil des Gemeinwesens zu wahren, denn dadurch werden die Tötung Vieler und zahllose geistliche Übel verhindert.“ Lassen Sie uns also fragen: Trocknen unsere Tränen um unsere Toten leichter, wenn sie um einer guten Sachen willen gestorben sind, um einer Sache willen, deren Güte sich quantitativ bestimmen lässt: Die Rettung der größeren Zahl um des Opfers der geringeren willen?

Was sagen die dazu, die sich auf der für leichter befundenen Schale der Waage finden? Und sammeln sich hinter solchen Rechtfertigungen nicht zuweilen völlig disparate Mannschaften von Unterstützern, deren Teil wir nun wirklich auch nicht sein wollten? Ist „das Heil des Gemeinwesens“ nicht ein sehr zwielichtiges Unterfangen? Betrachten wir bloß die Verfassung des Saarlandes: Sie verspricht in ihrem Artikel 1, anders als das Grundgesetz: Die Würde des Menschen ist unverletzlich in den Grenzen des Gemeinwohls. Unverletzlich. Aber in Grenzen. Was für ein Sinn für eine schreckliche Realität! Sollten wir daher nicht alles tun, auch gerechte Kriege, Kriege zur Verteidigung des wie immer bestimmten Gemeinwohls zu verhindern?

Gewiss: Wer würde heute schon dagegen streiten, dass bewaffnete Interventionen gegen grausamste Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht nur verständlich, sondern sogar geboten sind? Wer würde nicht billigen, wenn Luftwaffen gegen Massenvergewaltigungen und Massenfolterungen eingesetzt werden? Wer würde sich nicht wünschen, dass Soldaten des Friedens die Tötung von Kindern, Frauen und Männern im Verlauf ethnischer Säuberungen verhinderten? Gewiss.

Aber uns erschüttern doch gleichzeitig die berühmten Kollateralschäden solcher Interventionen, das, was die Wirklichkeit hinter den computeranimierten Bildern der Kampfeinsätze ist. Würden wir – ganz privat – unsere Mädchen und unsere Jungs, die wir doch lieben, wirklich voller Überzeugung zur Verteidigung einer zuweilen abstrakten Idee von Menschenrechten und zur Beendigung ihrer zwar konkreten aber doch örtlich und persönlich fernen Verletzung in die Gefahr der Opferung bringen? Würden wir unsere Tochter, unseren Sohn freiwillig und gerne auf dem Hangar oder am Pier zum Kampfeinsatz, überzeugt von dessen Sinn und Notwendigkeit,  verabschieden, bis ein mit einer Fahne bedeckter Sarg zurückkehrt? Und müssen wir nicht redlicherweise dabei immer ein wenig im Blick haben, dass es den Mächtigen und Wohlhabenden dieser Welt in aller Regel gelingt, die Frage nicht beantworten zu müssen: Die Opfer des Vietnam-Krieges fanden sich selten unter den weißen, angelsächsischen Protestanten der Ostküste, sie waren arm und schwarz.

Das Dilemma beschreiben heißt nicht es zu lösen. Aber die Geschichte des Volkstrauertages lehrt uns, einen Weg zu beschreiten: Trauern heißt erinnern. Und Erinnern heißt mehr als die schönen Bilder, die Orden und Ehrenzeichen der Vergangenheit zu betrachten und zu bewundern und sich klammheimlich zufrieden abzufinden, dass sie vergilben und eigentlich auch weggeworfen werden könnten. Richard von Weizsäcker hat in seiner berühmten Rede zum 8.Mai formuliert: „Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Innern wird. Das stellt große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit.“

In den jungen Jahren Deutschlands – und nach dem Glück seiner Einheit –  ist zu unterschiedlichen Kriegen und unterschiedlichen Gewaltherrschaften lange geschwiegen worden. Unsägliches Leid und verbrecherisches Unrecht, das Kriege, die von Deutschland ausgingen, verursacht haben, verbarg sich in Teilen unseres Volkes unter Stille. Mit den Erniedrigungen und Verfolgungen Andersdenkender, die von Deutschland ausgingen, war es in Teilen unseres Volkes nicht anders. Es ist lange geschwiegen worden über Verantwortung und auch über Scham. Das war gewiss furchtbar falsch.

Und es war und ist gewiss auch furchtbar falsch, ungerade oder unwahrhaftig, auch von meiner Generation, wenn über Schuld und Verantwortung in einer Haltung von Überheblichkeit und eitler Anmaßung geredet wurde, über „gut“ oder „besser“ oder „anständiger“, als wären wir dabei gewesen und hätten uns ganz bestimmt anders verhalten. Es war gewiss furchtbar falsch, ungerade und unwahrhaftig, dass auch Kriege des beredten Aneinandervorbeischweigens entbrannten, Generationenkriege, in denen, wie immer in Kriegen, das erste Opfer die Wahrheit war: Die redliche Antwort auf die Frage: Warum eigentlich ist das alles geschehen?

Das zeigt: Gräber und Gräben, die draußen auf den Feldern wie jene in unserem Innern, entstehen auch dadurch, dass wir schweigen. Das heißt: Dass wir unser Gegenüber nicht sehen, dass wir nicht hören, dass wir nicht verstehen, was seine Sorgen und sein Leid sind, welche Erinnerungen Andere verteidigen und welche Zukunft ihnen wichtig ist. Dass wir Andere eben als Andere und nicht als Gleiche betrachten.

Heute verteidigen wir in gerechten Kriegen Menschenrechte. Der amerikanische Sozialphilosoph Richard Rorty hat schon früh auf ein Problem der Universalität der Menschenrechte aufmerksam gemacht. Sie hat, so sieht er es, damit zu kämpfen, dass nicht jedermann überall in der Welt unter einem Menschen das Gleiche versteht. Zur Veranschaulichung schreibt er, der Gründer seiner Universität, Thomas Jefferson, einer der Väter der Verfassung Amerikas, konnte formulieren und als Versprechen der Verfassung garantieren: Alle Menschen sind von ihrem Schöpfer mit bestimmten unveräußerlichen Rechten ausgestattet.

Thomas Jefferson, einer der Väter dieser Worte, habe aber keinerlei Schwierigkeiten damit gehabt, Sklaven zu besitzen, die von ihrem Schöpfer gerade nicht mit unveräußerlichen Menschenrechten ausgestattet gewesen seien, weil Sklaven so etwas waren wie – unvergleichbar an entsetzlicher Grausamkeit – Juden für Nationalsozialisten oder zu anderen Zeiten Hottentotten für Buren, Muslime für Serben oder ungläubige amerikanische Angestellte in den Twin Towers für Al Quaida. Wenn unter Menschen immer nur „Menschen wie wir“ verstanden werden, ist es mit Menschenrechten schlecht bestellt.

Was lernen wir daraus für den Volkstrauertag: Dass es ein Volkserinnerungstag sein muss, der die Erinnerung an Krieg und Leid veranschaulichen und aus ihr Schlüsse ziehen muss, der die Erinnerung nicht begreift als Teil einer Bibliothek alter Bücher, sondern als Grundlage eines Konstruktionsplans der Zukunft, der Gräber pflegt um Gräben zuzuschütten, der Teil eines großen Projekts der Bewahrung, der Verständigung und der Versöhnung ist, so wie sie so beispielhaft hier an den Grenzen Frankreichs und Deutschlands wirklich geworden ist, als Teil eines großen Projekts, Kriege, auch gerechte, in Geschichte zu verbannen.

Ein solches Projekt wird nur gelingen, wenn wir einander zuhören, wenn wir aufeinander hören und wenn wir stets den Zweifel in uns tragen, der Andere könne auch Recht haben, der Andere könne auch als Mensch das Menschenrecht auf das haben, was die Verfassung der Vereinigten Staaten so mitreißend verspricht: pursuit of happiness, Verfolgung von Glück. Ein solches Projekt wird nur gelingen, wenn wir miteinander darüber sprechen, dass es Teile unseres Lebens gibt, die wir nicht wegwerfen dürfen, nur weil wir uns nicht an Schreckliches erinnern wollen, von denen wir erzählen müssen, damit wir verstanden werden, damit die Globalisierung der Grabstätten, die wir erleben, ein Ende findet.

Die große deutsche Schriftstellerin der jüdischen und, faszinierenderweise, der weiblichen Emanzipation, Rahel Varnhagen, hat einmal geschrieben: Wir müssen dort, wo wir stehen, beginnen nach Wasser zu graben. Wir müssen Inseln des Lebens bauen.“

Der Tag des Gedenkens an die Toten der Kriege und Gewaltherrschaften muss immer wieder ein Tag sein, an dem wir beginnen, solche Inseln des Lebens zu bauen.

Rede am Volkstrauertag bei der Zentralen Gedenkfeier des Saarländischen Landtags, der Landesregierung und des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge (Landesverband Saarland) in der Ludwigskirche am 13. November 2011. Professor Rixecker ist Protestant und Mitglied der Evangelischen Kirchengemeinde Altsaarbrücken.

Zur Veröffentlichung vorgeschlagen von Frank-Matthias Hofmann, Johanna-Wendel-Straße 15, 66119 Saarbrücken.

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