Warum kirchliche Bildung immer auch theologische und spirituelle Bildung sein muss

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Prof. Dr. Martin Leiner

Lehrstuhl für Systematische Theologie und Ethik, Leutragraben 1, 07743 Jena

In der Coronakrise haben die großen Kirchen in Deutschland versagt. Dieses Urteil liest man in den letzten Monaten immer häufiger. Die massivste und tiefgreifendste Kritik bezieht sich dabei auf die Unfähigkeit beider großer Kirchen, die christliche Botschaft mit Tiefgang und auf eigene Weise auf die Pandemie zu beziehen. Um nur ein Beispiel für zahlreiche Kritiker zu zitieren: Joachim Negel, Professor für katholische Fundamentaltheologie an der Universität Fribourg in der Schweiz schreibt:

„Wie soll man noch von Gott reden, wenn Natur und Geschichte längst entzaubert sind und Mystik allenfalls etwas für eine Handvoll Religionsvirtuosen ist? In dieser Situation verwundert es nicht, dass Bischöfe und Kirchenpräsidentinnen […] sich allenthalben beeilten, einer nicht sonderlich interessierten Öffentlichkeit zu versichern, dass Covid 19 natürlich `keine Strafe Gottes` sei. Das Gebot der Stunde sei vielmehr das Einhalten der allgemeinen Hygieneregeln sowie Solidarität mit den Risikogruppen, den Infizierten und den sie Pflegenden. Ist das alles, was wir zu sagen haben? Für solche Trivialitäten, die selbstverständlich vernünftig sind und überhaupt nicht in Frage gestellt werden sollen, braucht es kein Christentum. Wenn die Kirchen nur wiederholen, was ohnehin common sense ist, brauchen sie sich nicht zu wundern, wenn sie als ´nicht systemrelevant` eingestuft werden“ (Negel 2022: 19f). Christen und Kirchen hätten tiefer aus dem Brunnen christlicher Weisheit schöpfen und für mehr Menschen relevante, Hoffnung stiftende Worte finden können in einer Zeit, in der weltweit über 6,6 Millionen Menschen an oder mit Coviderkrankung verstorben sind und in der auch so vieles erschüttert wurde, vom Zutrauen in die eigene Gesundheit, über wirtschaftliche Perspektiven für den kleinen Betrieb, der vom Konkurs bedroht ist, bis hin zu Freundschaften, die auseinandergingen, weil einzelne sich krausen Verschwörungstheorien zugewandt haben und die anderen in ihnen nicht mehr ihre Freunde zu erkennen vermochten. Ein Psychologe an der Universitätsklinik des Saarlandes in Homburg teilte mir mit, dass die Zahl der Suizidversuche unter Jugendlichen sich in der Coronazeit im Einzugsbereich ihrer Klinik um 400% erhöht habe. Ich muss nicht an die Überforderung von Eltern und Schülern mit Homeschooling und an die Einsamkeit in Altenheimen erinnern, auch nicht an viele einfallsreiche und schöne Aktivitäten in Kirchengemeinden und von einzelnen Menschen. Was weitgehend fehlte waren existentiell relevante, Herz und Verstand berührende und Menschen zusammenführende, theologisch-geistliche Umgangsweisen mit der Situation. 

In gewisser Hinsicht war die Coronakrise ein Weckruf, dass es so nicht weitergehen kann. Die Kirche muss, was auch schon in anderen Zusammenhängen gesagt wurde, Relevantes zu sagen haben. Ob sich dies ins System einfügt und als systemrelevant anerkannt wird oder nicht – es gibt auch gute theologische Gründe, die ich allerdings nicht teile, lieber nicht systemrelevant sein zu wollen: die Menschen müssen den relevanten Eigenbeitrag der Kirche zu unserem Leben und unseren Krisen, unseren letzten Fragen und unseren Grenzen erkennen. Durch die Säkularisierung, die in uns allen steckt, ist es nicht einfacher geworden, von Gott, von Glaube, Liebe und Hoffnung im christlichen Sinne zu reden. Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe, sich von dem weit verbreiteten Gefühl, dass Gott und christlicher Glaube keine wirklich wichtigen Themen sind, zu befreien. Diese Aufgabe ist eine Bildungsaufgabe. Es geht um theologische und geistliche Bildung. Wer soll sich ihrer annehmen, wenn nicht wir? Geistlich ist diese Bildung, weil Christen der Heilige Geist gegeben ist, er aber nur im Austausch mit anderen zu seinem vollen Ausdruck gelangen kann. Ich nenne diese Bildung bewusst theologisch, weil Theologie nicht nur eine Aufgabe von Professoren und Pfarrern ist, sondern weil jeder Theologin oder Theologe ist, der nachdenkt über die Fragen, die Gott betreffen. Ich meine damit nicht, dass jeder Christ ein Theologiestudium absolvieren soll, wohl aber schon, dass das denkerisch Überzeugende und Interessante des christlichen Glaubens und die Freude an einer gebildeten Lektüre der Bibel möglichst vielen Christinnen und Christen vermittelt wird. Mit einem Stichwort von Michael Welker: Es geht um kultivierte Religion. Mit dem 1. Petrusbrief 3,15 geht es darum, dass Christen gesagt ist: „Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist“. Intellektuelle Probleme müssen dabei unter den Bedingungen der Säkularisierung und Religionskritik geklärt werden und es müssen Räume angeboten werden, in denen man über das, was uns unbedingt angeht, über Angst, Zweifel und Hoffnung, über Veränderung des eigenen Glaubens im Laufe der Lebensgeschichte und über die Konsequenzen des Glaubens für das Handeln gebildet und gut informiert, diskursiv werden und sich austauschen kann. Ein paar Anregungen dazu, die mir persönlich geholfen haben, will ich nicht schuldig bleiben. Auch wenn sie philosophisches Allgemeingut sind, weiß ich nicht, ob sie in der Bildungsarbeit vermittelt werden. Es geht um so etwas wie „Weltbildarbeit“, eine Aufgabe, über die Thomas Niederberger mir vor vielen Jahren die ersten wichtigen Anregungen geben hat. Hier ein paar Ideen dazu:

1. Es gibt nicht die eine richtige, vielleicht wissenschaftlich abgesicherte Interpretation der Welt. Schon Kant unterschied verschiedene Formen von Vernunft (praktische und theoretische Vernunft und ästhetische und teleologische Urteilskraft). William James hat dies weitergetrieben, indem er von einem „pluralistischen Universum“ und von „pluralistischer Mystik“ sprach (William James 1987a und b). Die Welt scheint in der Tat so zu sein, dass sie mehrere legitime Interpretationen zulässt. Die Dinge und die Ereignisse lassen sich auf die unterschiedlichste Weise und mit den unterschiedlichsten Grundbegriffen erklären und verknüpfen. Überprüft werden solche Interpretationen weitgehend pragmatisch. Kann man mit der Interpretation handeln und wünschenswerte Ergebnisse erzielen? Damit ist eine Mehrzahl religiöser Interpretationen der Welt für vernünftige Menschen akzeptabel. Widerlegen kann man „religiöse“ Aussagen der Art: „Die Welt geht an einem bestimmten Termin unter“. Sobald der Termin verstrichen ist, und die Welt weiter besteht, ist diese Aussage als falsch anzusehen. Nicht widerlegen kann man Weltbilder, die von einem Weiterleben nach dem Tod ausgehen, oder die darauf vertrauen, dass Gebete Effekte in der Wirklichkeit haben. Hier könnten manche intellektuellen Milieus und Bildungskulturen toleranter und pluralismusfreudiger werden.

2. Selbst die scheinbar ursprünglichste Zugangsweise zur Wirklichkeit, die sinnliche Wahrnehmung, ist ein hochgradig poetischer Akt. Die Schönheit der Farben und die Formen zeigen uns dies. Naturwissenschaftlich hätten wir es bloß mit Wellen und weitgehend leeren Körpern zu tun. Wenn wir den poetischen Akt der jeder Wahrnehmung zugrunde liegt erkannt haben, sind weitere poetische Bildungen nicht abzuweisen, wie etwa auch Metaphern und Symbole für den ungreifbaren Sinngrund, das Seinsgeheimnis, die letzte Wahrheit, das Unbedingte, das Umgreifende oder wie auch immer man Gott nennen will. Auch die Wissenschaft arbeitet mit Modellvorstellungen wie dem Bohrschen Atommodell und mit Metaphern aus der sinnlichen Welt für Unsinnliches. Physiker sprechen sogar von quasi metaphysischen „Hinterwelten“ wie Paralleluniversen, dunkler Materie und dunkler Energie. Die „Entzauberung“ der Welt ist längst einer Wiederverzauberung gewichen. Sie ist bloß noch nicht im Allgemeinbewusstsein angekommen. 

3. Die Menschheit lebt offensichtlich in einer schwierigen Zeit des Übergangs alter Formen der Religion zu neuen. In dieser Übergangszeit kann alles auftreten, von unglaubwürdigen Religionsunternehmern, über Fundamentalismus und Fanatismus als Abwehrreaktion gegen den Wandel, bis hin zu neuer ökumenischer Zusammenarbeit zwischen Konfessionen und Religionen und neuen Fragen und tiefgründigen Antworten. In dieser Situation wäre nichts falscher als die Bildungsanstrengungen zu verringern. Religiöse und spirituelle Bildung wird uns allen helfen durch diese schwierige Zeit des Übergangs besser hindurchzukommen. Da das Modell einer lebenslangen Mitgliedschaft in einer Kirche bei zahlreichen Zeitgenossen an Attraktivität verliert, müssen andere Wege gefunden werden, um diese Bildung zugänglich zu machen und zu finanzieren. Manche Angebote werden die Nutzer selbst zahlen, bei manchen anderen scheint es mir begründet, staatliche Stellen um größere Unterstützung zu bitten.

Das vorgestellte Bildungskonzept schließt ausdrücklich die Freiheit ein, sich dem Atheismus, dem Fundamentalismus oder anderen Religionen zuzuwenden, wenn man dies für überzeugender hält. Aber diese Abwendungen von kultivierter evangelischer Religion sollen nicht geschehen, weil keine Argumente, es anders zu sehen, zur Verfügung stehen. Es soll vermieden werden, dass Christinnen und Christen sich ohne Gegenargumente hören zu können, im Laufe ihres Lebens den Glauben immer mehr absurd finden und ihn schließlich ohne Entscheidung einfach mit den Jahren verlieren. Es soll auch vermieden werden, dass Christinnen und Christen ohne Gegenargumente zu hören die Chance haben, sich literalistischen Auslegungen der Bibel zuwenden. Es soll vermieden werden, dass Christinnen und Christen andere Religionen aggressiv und kenntnislos abwerten, wie auch vermieden werden soll, dass Menschen sich anderen Religionen zuwenden, weil sie im Christentum gar keine Spiritualität finden konnten. 

Wenn wir unter dem Eindruck der abklingenden Coronakrise ein Bildungskonzept entwerfen, dann sollte dieses Konzept nach meiner Auffassung die theologische und spirituelle Bildung besonders herausstellen. Dabei gehe ich davon aus, dass die theologischen und spirituellen Herausforderungen mit dem Ende der Pandemie nicht abnehmen. Die nächsten theologischen Herausforderungen stehen schon vor unserer Tür: der Ukrainekrieg, die Klimakatastrophe und die Zunahme neurechter, nationalistisch-autoritärer Politik weltweit. 

Um zusammenzufassen: kirchliche Bildung muss immer auch theologische und spirituelle Bildung sein, weil das Nachdenken über den Glauben und das Handeln zum Glauben und auch zum Menschsein gehört. Der Mensch lebt immer in einem Glauben, in einer Ausrichtung auf seinen letztgültigen Sinn, sei dieser säkular oder religiös, christlich oder nicht. Hier liegt die anthropologische Begründung für eine enorme Bildungsaufgabe. Theologische und spirituelle Bildung sind heute deshalb besonders wichtig, weil

a. Andere Bildungsaufgaben vom Staat und von anderen Trägern erfüllt werden und nicht wie im Mittelalter und der frühen Neuzeit von der Kirche wahrgenommen werden müssen

b. Die Herausforderungen und Krisen der Gegenwart, die Säkularisierung und Religionskritik, die Begegnung mit anderen Religionen und Parareligionen wie religiös verbrämtem Nationalismus, szientistischem Naturalismus oder Konsumismus verschränken sich mit der Aufgabe einer lebenslangen Neuformulierung des Glaubens und führen zu ganz erheblichen Reflexions-, Diskurs- und Erfahrungsbedürfnissen. Wenn man ihnen nicht gerecht wird, besteht die Gefahr, dass die christliche Botschaft sprachlos, unverständlich und missverstanden wird. Ebenso besteht die Gefahr, dass sie als irrelevant von künftigen Generationen beiseitegeschoben werden könnte, ohne dass diese sie richtig kennengelernt haben.

Konkret bedeutet theologische und spirituelle Bildung drei Dinge:

– Explizite theologische und spirituelle Bildungsangebote sind zu stärken.

– Bildungsaktivitäten, die nicht explizit theologisch sind, können dennoch in ihrem Stil Spiritualität und Theologie mitkommunizieren.

– Der Bildungsbegriff sollte auch theologisch gedacht sein.

I. Explizite theologische Bildungsangebote stärken!

Im Vorbereitungskreis waren wir uns einig, dass zur Bildung auch die Predigt, Bibelstunden und explizit Veranstaltungen über Theologie und Spiritualität gehören. Solche Angebote sind dann explizit theologische und spirituelle Bildungsangebote, wenn sie die Bibel und die großen Texte der theologischen Tradition als „gute Bücher“ lesen, über die es sich lohnt, nachzudenken und stets neue offene Diskurse zu führen. Paul Ricoeurs Bücher „Penser la Bible“ und seine frühen Auslegungen zum Sündenfall und menschlicher Freiheits- und Schulderfahrung sind großartige Beispiele, wie ein solches Nachdenken aussehen kann. Die Vermittlung historischen Wissens zur Bibel und ihrer Umwelt – ein Flaggschiff theologischer Bildungsarbeit vergangener Jahrzehnte, sollte meines Erachtens nicht abgeschwächt werden, aber stärker mit existentiellen, persönlichen, spirituellen, interreligiösen, ethischen und dogmatischen Fragestellungen verbunden werden. Besonders anregend erscheint mir der Vergleich biblischer Geschichte mit Literatur und Kunst (vgl. dazu etwa Karl-Josef Kuschel 2020). Explizit Theologische und spirituelle Bildungsangebote beinhalten auch Fragen der Kirchengeschichte und der Religionskritik, des Interreligiösen Dialogs, der Philosophie, der Ethik. Schließlich sollte es meines Erachtens auch ein mit anderen Kirchen und Religionen abgestimmtes, die Praxis christlicher Spiritualität in den Mittelpunkt stellendes Angebot geben. 

Wichtig ist bei diesen Angeboten, dass man nicht mit einem vereinfachten, an Paul Tillich angelehnten Frage und Antwortschema arbeitet und nur Fragen behandelt, die de facto heute explizit gestellt werden und nicht auch, wie Tillich wollte, Fragen stellt, die sich aus der Zeitsituation dann ergeben, wenn man sie existentiell interpretiert. Wichtig ist auch, dass Theologie nicht einfach nur Antworten liefert, sondern ebenso Fragen an uns und an unsere Lebensart stellt. Gott ist nicht nur ein Antwortgeber, er stellt schon in der Bibel immer wieder Fragen, Fragen über Fragen an uns: Von „Adam, wo bist Du?“ Über „Wo ist Dein Bruder, Kain?“ über „Wo warst Du als ich die Welt gegründet habe?“ an Hiob über: „Wer denkt ihr, dass ich sei?“ Und: „Wollt auch ihr gehen?“ an die Jünger zu „Wer ist dem unter die Räuber Gefallenen zum Nächsten geworden?“

Wichtig ist auch, dass explizit theologische und spirituelle Bildungsangebote auf theologische und spirituelle Weise unternommen werden. Dies betrifft nach meinem Vorschlag die Orientierung an grundlegenden Ausrichtungen, die kirchliches Bildungshandeln von allgemeinem Bildungshandeln unterscheiden. Eine offene und veränderliche Liste könnte die sechs folgenden Punkte enthalten:

– Bildungsgerechtigkeit in einem umfassenden Sinne

– Rechtfertigungslehre in einem unverkürzten Sinne

– Freiheitsliebende Bildung

– Liebe und Empathie in einem unbeschränkten Sinne

– Orientierung an individuellem und gemeinsamem Sinn

– Handeln aus Versöhnung und auf Versöhnung hin

Da diese 6 Punkte noch etwas erweitert werden, erläutere ich sie in Abschnitt II.

II. Bildungsaktivitäten, die nicht explizit theologisch sind, können dennoch in ihrem Stil Theologie mitkommunizieren

Kirchliche Bildungsangebote sind immer wieder auch nicht explizit theologisch oder spirituell. Große Teile der Aktivität sind eher von Theologischem und Spirituellem entfernt, auch etwa im Religionsunterricht. Aber auch hier sollen nach meinem Vorschlag die genannten theologischen und spirituellen Stile des Bildungshandelns eine Rolle spielen.

Hinzu kommt deshalb hier ein grundlegender Punkt: 

1. Keine Scheu vor Bezugnahme auf explizit theologische und spirituelle Bildung

„Wertneutrale Wissenschaft“ (Max Weber) und religiös- und weltanschaulich neutrale Schule sind weniger unproblematische Selbstverständlichkeiten als man gemeinhin meint. In der Schule fördern diese Einstellungen in ihrem Ergebnis wahrscheinlich naturalistische und nihilistische Einstellungen bei den Schülerinnen und Schülern, weil in vielen Fächern Lehrer die Wirklichkeit als eine Wirklichkeit ohne übergeordneten Sinn mit rein immanent naturalistischen Begründungen präsentieren. Religiöse Verhaltensweisen wie Beten, Konfirmandenunterricht besuchen, Weihnachtsbäume aufstellen oder Geld für Brot für die Welt spenden, die früher weit verbreitet waren, werden zunehmend gerade auch in der Schule und ohne dass jemand dies als Ziel absichtlich verfolgen würde, ex-kulturiert. Es stellen sich Fragen, ob, wenn weniger Schülerinnen und Schüler den Religionsunterricht besuchen, überhaupt irgendwo thematisiert wird, dass die Texte von Genesis 1 und 2 uns etwas sagen können, obwohl sie durch Geologie und Biologie angeblich „widerlegt“ sind. Wer wird den Schülern noch ein Verständnis für die mythische Redeweise einer anderen Kultur vermitteln? Wer wird Orte finden, um kritisch über die psychisch belastenden und ethisch problematischen Auslegungsmöglichkeiten und Inhalte der Bibel zu sprechen? Ich nenne nur das Problem von biblisch begründetem Antisemitismus. 

Hinzukommt, dass viele Schüler diese Texte gar nicht kennen. Sie sind bis zu einem gewissen Grad „religiöse Analphabeten“. Religiöse Alphabetisierung ist deshalb in Ländern wie Großbritannien und Frankreich als Bildungsaufgabe erkannt worden. Sie wird auch auf uns verstärkt zukommen.

Noch dringender als dieser ohnehin schon für die Kirche bedrückende Bildungsnotstand scheint mir die zunehmende Schwierigkeit zu sein, eine positive Einstellung von Kindern und Jugendlichen zur Teilnahme am Unterricht aufzubauen. Disziplinprobleme und Gewalt unter Schülern gab es immer schon, aber wenn man sie nicht mehr durch Angst vor den Lehrern in den Griff bekommen kann, stellt sich die Frage, welche Möglichkeiten man als Lehrerin oder Lehrer noch hat. In der ganzen Welt gibt es demgegenüber Schulkonzepte, die die Werte und soziale Verhaltensweisen viel mehr Aufmerksamkeit schenken als in deutschen Standardschulen üblich. In USA findet man demgegenüber Community work und Engagement für verantwortlichen Umgang mit Themen wie der Klimakrise oder Black Lives matter in den Schulen. Am vergangenen Wochenende war ich auf einer Veranstaltung im Britischen Oberhaus, bei der die „Charter for Forgiveness and Reconciliation“ vorgestellt wurde. Bei dieser Veranstaltung waren auch einige Lehrerinnen aus den Nishkamschulen (www.nishkamschooltrust.org). Es handelt sich um multireligiöse, auf gemeinsamen Vorstellungen von „virtues“, Tugenden beruhende Schulen. Ins Leben gerufen sind diese Schulen von der Sikh-Community. Lehrer und Schüler kommen von unterschiedlichen religiösen Hintergründen. Die Leitmotive der Nishkamschulen sind: inspiriert durch Glauben; Lernen von der Weisheit der Religionen; geleitet von Tugenden; mitfühlenden verantwortlichen Menschen Nahrung geben („Faith inspired: Learning from the wisdom of religions; Virtues-led: Nurturing compassionate responsible human beings”). Als Zusatz für Grundschüler, die oft in problematischen Umfeldern aufwachen: Sicher und glücklich (“Save and happy”) sollen die Kinder sein. Die Lehrerinnen berichteten, dass sie mit Disziplinproblemen viel weniger zu tun haben als in den „normalen“ Schulen, in denen sie früher unterrichtet haben. Berichtet wurde auch, wie sie den Ukrainekrieg behandeln. Die Kinder hatten zum Beispiel die Aufgabe, ein Gebet aus ihrer religiösen Sicht, das gleichermaßen für ukrainische und russische Kinder ist, zu schreiben. Typische Arbeit findet mit einem gelben Pass statt, in dem Tugenden stehen und Handlungsweisen, die sie zu Ausdruck bringen und einüben. Ein Beispiel ist Dankbarkeit, sie wird ausgedrückt, indem man in einer Weise, die den andern besonders freut, Danke sagt. In der Schule sollen durchgängig diese Tugenden eingeübt werden. Wenn Schwierigkeiten auftreten, wird gefragt, welche Tugend nicht hinreichend berücksichtigt wurde. Auch, ganz im aristotelischen Sinn, wird über das zu viel und zu wenig, über das für die Situation Angemessene (phronesis) und über die Gemeinschaft, in der man lebt, diskursiv reflektiert. 

Man wird das britische Modell nicht einfach in die Pfalz übertragen können. Ich denke aber, es wäre aus evangelischer Sicht wichtig, auch hierzulande unter den Themen Glaube (in dem allgemeinen Sinn, der sich etwa auch bei Paul Tillich [2020] findet), Tugenden als Kapazitäten, Multireligiosität und Verantwortung für die Welt, Glück und Sicherheit für Kinder, über Schule neu nachzudenken. Eine religionsfreundliche, pluralistische, ethisch aufbauende Schule könnte von amerikanischen, britischen und anderen Vorbildern lernen und eine wichtige neue Richtung in die Pädagogik in Deutschland einbringen. Jedenfalls scheint es mir wichtig, explizit Theologisches und Spirituelles nicht auf besondere Veranstaltungen zu beschränken, sondern überall den Kontakt dazu zu suchen. Es gibt rechtliche Einschränkungen, aber unnötige Akte der „Selbstsäkularisierung“ (Wolfgang Huber) ergeben als kirchliches Handeln keinen Sinn. 

2. Bildungsgerechtigkeit in einem umfassenden Sinne

Gerechtigkeit ist von der Hebräischen Bibel an ein zentrales Thema des christlichen Glaubens. Mit einer alten Definition heißt Gerechtigkeit, dass jeder das Seine erhält. Daraus folgt einmal, dass jede und jeder in die Bildungsgerechtigkeit eingeschlossen sein soll. Gruppen, die leicht ausgeschlossen oder benachteiligt werden wie zum Beispiel arme, kranke, scheinbar unbegabte, hörbehinderte, schwerstbehinderte, alte Menschen, Menschen anderer Religion und Nationalität, sollen in einem guten kirchlichen Bildungskonzept einbezogen sein und „das Ihre“ erhalten. Es geht deshalb nicht vorrangig um Elitenförderung oder um exklusive Angebote für Menschen, die es sich leisten können, sondern immer auch um Nachteilsausgleich. 

Die Frage ist: Was ist „das Seine“, das jeder Einzelne erhalten soll. Schnell kommt dabei die zweite Frage auf, wer bestimmen könnte, was das jeweils Seine für jemanden ist. Im Rahmen dieses Impulsreferats ist es nicht möglich, eine konkrete und umfassende Antwort zu geben. Diese würde unter anderem eine Auseinandersetzung mit den bildungstheoretischen Debatten und den gemachten Erfahrungen der letzten Jahrzehnte erfordern. Eine erste Antwort könnte aber sein, dass wir uns Zeit nehmen, darüber nachzudenken, was das Seine jeweils ist. Was denken wir, könnte das Angemessene sein, was wir dieser oder jener Gruppe als Bildung geben sollten? Wie verhält sich dies zu dem, was die Gruppe selbst sagt? Ich weiß, dass dies praktisch sehr schwer umzusetzen ist, Bildungsgerechtigkeit würde aber verlangen, dass neben und vor der Frage, ob genügend Teilnehmer kommen werden und ob man dafür Finanzierungen finden kann, auch die Frage gestellt wird, ob wir allen Gruppen das bieten, was in einem tieferen Sinne das Ihre ist, das sie erhalten sollten. Mit den Antworten auf diese Fragen müsste man dann nach Finanzierungen suchen und Teilnehmer werben.

3. Rechtfertigungslehre in einem unverkürzten Sinne

Die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade wurde mit guten Argumenten in Verbindung gebracht mit einer Haltung der bedingungslosen Anerkennung des andern und des Eingestehens eigener Sünde. Vor allem der letzte Punkt ist anspruchsvoll. Leider leben wir in einer Welt, in der Menschen, die ihre Sünden bekennen, durch Medien, öffentliche Meinung, manchmal auch durch Vorgesetzte oder gar durch Gerichte, nur allzu leicht aus der „guten Gesellschaft, der Leute mit einer reinen Weste“ ausgegrenzt werden können. Es wäre wichtig, soweit es geht, uns gegenseitig dazu zu ermutigen, hier einen anderen Weg zu gehen, wenn wir in der Bildung auch die Menschen im Sinne des Evangeliums bilden wollen. Wir sollten es lernen, Fehler einzugestehen und uns als Sünder, nicht als Gerechte zu präsentieren. Das Evangelium ist jedenfalls für Sünder und nicht für Gerechte (Luk 19,10). Gerechte werden von Jesus geradezu links liegen gelassen.

Auch Anerkennung ist sehr wichtig, zumal vielen Menschen, etwa in schlecht bezahlten Berufen, diese Anerkennung weitgehend vorenthalten wird. Auch denen in Schulen, die schlechte Noten haben, kann man viel Gutes tun, wenn man sie wertschätzt und anerkennt. Anerkennung kann erst einmal das Bewusstsein dafür schaffen, wie wunderbar jeder Mensch geschaffen ist und wie wunderbar er bleibt, trotz Hässlichkeit, Sünde, Schuld, Versagen. 

Zur Rechtfertigung gehört zudem noch etwas weiteres, was in der neueren evangelischen Rezeption weitgehend fehlt. Durch die Begegnung mit dem Andern werden wir erst zu dem Menschen, der wir wesentlich sind. Martin Buber hat dies sehr treffend in „Ich und Du“ (1923 zit. nach Buber 2019) beschrieben. Nur durch die Begegnung mit einem menschlichen Du werde ich zu einem wesenhaften Selbst, das ganz und heil sein kann (Buber 2019, 39). In dieser Begegnung ist die Begegnung mit dem ewigen Du immer implizit (Buber 2019, 82). Wer ein verwesentlichendes Gespräch geführt hat und dabei Wahrheit gefunden hat, wird mehr und mehr er selbst. Er hat auch Gott, der die Wahrheit in Person ist, berührt. Die ältere evangelische Buber-Rezeption bei Friedrich Gogarten und mehr noch bei Emil Brunner in seinem Buch „Wahrheit als Begegnung“ hatte das gewusst. Deshalb glaube ich, dass wir nicht unbedingt einen eigenen Punkt „Begegnungspädagogik“ brauchen, sondern ihn der Rechtfertigungslehre zuordnen können. Aber wir brauchen, um die Rechtfertigungslehre voll zu verstehen, den Juden Martin Buber. Christliche Bildungsarbeit muss tiefe Begegnungen ermöglichen. Sie muss auch Aufmerksamkeit von Personen, die ein Gegenüber sein können, schenken. Zuviel stille Freiarbeit oder Arbeit mit Internetressourcen steht in der Gefahr den Lernenden nicht genügend menschliches Gegenüber und „Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit“ (Michael Tomasello) zu geben.

Solche Begegnungen geschehen nach Buber „aus Gnade“. Sie sind unverfügbar. Die wichtigen Ausführungen von Harmut Rosa sowohl zu Resonanz (2018), als deren Beispiel er Bubers Ich-Du-Begegnung nennt, als auch zu Unverfügbarkeit (2020), sind essentiell für eine christliche Bildungskonzeption. Für eine pädagogische Umsetzung gibt das Buch Hartmut Rosa/Hartmut Endres, Resonanzpädagogik gute erste Anregungen.

4..Freiheitsliebende Bildung

Immanuel Kant hat seine unlängst von Otfried Höffe (2015) interessant reaktualisierten Bildungsvorstellungen ganz auf dem Prinzip der Freiheit aufgebaut. Praktische Freiheit wird durch jede neue Fähigkeit vermehrt, die jemand lernt. Dabei ist wichtig, Freiheit ist nicht einfach tun können, was man wünscht, sondern sich zu seinen Wünschen und Gefühlen verhalten zu können, Freiheit zweiter Stufe wie Peter Bieri in „Das Handwerk der Freiheit“ (Frankfurt: Fischer 2003) beschrieben hat. Durch diese Freiheit höherer Ordnung werden neue Freiheitsgrade entdeckt. Wenn Paulus schreibt: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Steht daher fest und lasst euch nicht wieder ein Joch der Knechtschaft auflegen!“ so meint er damit höhere Freiheitsgrade, die es Menschen erlauben, sich gegen den Wunsch zur Geborgenheit in der Konformität mit den Glaubensgenossen und gegen das „Sicherheit über alles“ Denken zu verhalten und gegen autoritäre Ansprüche religiöser Autoritäten aus der eigenen Religion, gegen Angstmacherei in einen Raum der Freiheit und des Vertrauens auf Gottes Liebe einzutreten. Freiheit ist deshalb immer auch Freiheit unter Wünschen, Motiven und Gefühlen eine gewisse Wahl zu treffen, eine gewisse Richtung einschlagen. Solche Freiheit wird zum Beispiel erreicht, wenn Menschen trotz Verletzungen, Verstörtsein, Trauer und Zorn, anderen vergeben können. Eine zweite praktische Erfahrung mit besonderen Schulen ist die aus Kolumbien. Im Zuge des Friedensabkommens ernennt dort jede Schule einen Lehrer zum Friedenslehrer (catedra de la paz). Er bringt ganz besonders die Anliegen der Friedenspädagogik und der friedlichen Konfliktlösung in der eigenen Schule zur Geltung. Bestimmte Schulen gehen noch viel weiter und haben sich der Bewegung der Escuelas de Paz y Reconciliación angeschlossen. Es geht zum Beispiel darum, sich gegenseitig vergeben zu lernen. 

5. Liebe und Empathie in einem unbeschränkten Sinne

Das Wort Empathie/Einfühlungsvermögen wurde – wen wird es wundern – von einem Pfälzer entdeckt, dem Philosophen Theodor Lipps. 1851 in Wallhalben als Sohn eines evangelischen Pfarrers geboren, legte er 1872 in Speyer das erste theologische Examen ab. Es gibt zwar in Wallalben eine Theodor-Lipps-Straße, aber ansonsten wird er in der Pfalz meines Wissens nicht geehrt oder seiner gedacht, obwohl er auch in Rheingönheim gelebt und in Zweibrücken zur Schule gegangen ist. Vielleicht könnte dieser empathische Pfälzer eine gewisse Identifikationsfigur sein.

Je mehr in der Theologie Jesu und Gottes Mitfühlen mit uns thematisiert wurde (vgl. Sobrino 1992) und je mehr Neurowissenschaftler, Psychologen und Pädagogen herausgefunden haben, wie wichtig Einfühlung in andere für ein menschliches Miteinander sind, um so mehr wird es unmöglich, über christliche Bildung zu reden, ohne Empathie als ein zentrales Thema zu entfalten. Empathie sollte dabei ohne Ausschluss funktionieren und wir sollten mit allen, in dem Maße, in dem wir es können, Mitgefühl entwickeln und dies taktvoll, warmherzig und durch unser Handeln zeigen. Auch Feinde, auch weit entfernt lebende Menschen, die Hunger leiden, verdienen unser Mitgefühl. Warme und liebevolle Empathie ist eine Form der Liebe. 

6. Orientierung an individuellem und gemeinsamem Sinn

Der Mensch ist, wie Viktor Frankl betont hat, ein sinnorientiertes Lebewesen. Kirchliche Bildung sollte Menschen helfen, ihren individuellen Sinn im Leben, ihre Berufung, präziser zu finden und sie sollte ihnen helfen, sie zu leben. Dabei spielen Werte als „Sinnuniversalien“ (Frankl) und Verantwortung vor den Aufgaben der Zukunft eine wichtige Rolle. 

Das besondere christlicher Bildungsarbeit könnte sein, dass zu den Menschen der Glaube gebracht wird, dass jeder Mensch, jedes Ereignis, selbst das scheinbar Widersinnigste, Behinderung, Tod und Gewalt im Raum der Botschaft des gekreuzigten Gottes, des Reich Gottes und im Angesicht der Liebe Gottes, Sinn hat. Dieser Sinn kann nicht von außen vorgegeben werden, aber von den Betroffenen gefunden werden. Zwischen Hochschätzung des Individuellen und seiner großen und einzigartigen „Binnenkomplexität“ (Reckwitz 2017) und der Verantwortung für Gemeinschaften von der Familie über das Dorf, die Schule, die Kirche, den Staat bis zur Menschheit entstehen oft belastende Konflikte (vgl. Rose 2022). Diese Konflikte stellen für viele Menschen die Frage nach Versöhnung. 

7. Handeln aus Versöhnung und auf Versöhnung hin

Nach 2. Korinther 5,18-20 war Gott in Christus und hat die Welt mit sich selbst versöhnt. Daraus folgt, dass für Christen alles Handeln unter der Prämisse der bereits geschehenen Versöhnung steht. Deshalb ist es für Christen leicht, alles Handeln auf Versöhnung auszurichten. Versöhnung ist dabei keine Wirklichkeit, die geschaffen werden muss oder die unerreichbare Utopie bleibt, sonders die bereits geschehene Versöhnung ist Ausgangspunkt versöhnlichen Handelns. Versöhnung bedeutet die Heilung von Beziehungen nach schweren Vorkommnissen. Dies schließt auch die Beziehung zu uns selbst ein. Christliches Bildungshandeln sollte immer darauf ausgerichtet sein, dass Versöhnlichkeit eingebracht wird in das, was getan wird. Dies ist eine massive Kritik gegen die Tendenz, Konsequenz und Bestrafung als notwendig streng durchzuführende Erziehungsmaßnahmen zu repristinieren. Unter dem Deckmantel der Konsequenz, der Gleichbehandlung und der Regelbefolgung wird nach meiner Wahrnehmung immer noch, ja sogar zunehmend empathielose Gesetzlichkeit in Schulen praktiziert und gar nicht mehr darauf geachtet, dass Schüler*innen mit schwierigen Elternhäusern oder psychischen und physischen Krankheiten zu kämpfen haben. Solch neuer schwarzer, oder zumindest grauer Pädagogik sollten wir entgegentreten. 

Es ist wichtig, dass junge Menschen, aber nicht nur sie, sondern alle mit denen wir es in Bildungsarbeit zu haben, spüren, dass die Bildenden keine Maskenträger oder Rollenspieler, sondern ganz sie selbst sind: vertrauenswürdige Menschen, die selber auf dem Weg sind, Zweifelnde, Hoffende, Menschen, die etwas gefunden haben, auf alle Fälle lernende und Menschen, die sie liebhaben. Ohne die Liebe, wären alles sowieso nichts. Nach Paulus wären wir bloße Wichtigtuer und Krachmacher (1. Kor 13,1: „ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle“). Das wollen wir nicht sein. Wir stehen zu den Menschen und wollen, dass ihr Leben ein erfülltes Leben ist. Wir sind bereit, uns vor sie zu stellen, wenn andere sie abwerten wollen und fördern sie, wenn sie es brauchen, auch ohne es artikulieren zu können. Nicht jeder kann alles auf diesem Gebiet zeitmäßig oder auch psychisch leisten. Aber als Kirche stehen wir bei den Menschen. 

III. Der Bildungsbegriff soll auch theologisch gedacht sein

Nach all dem Gesagten, müssen wir auch über den Bildungsbegriff theologisch nachdenken. Ein traditionelle Denkfigur leitet Bildung von dem Bild Gottes ab, zu dem der Mensch geschaffen ist. Diese Ableitung ist historisch zuverlässig, aber sie ist nicht hinreichend geschützt gegen Missverständnisse.

In ihrem Roman „Die Welt der schönen Bilder“ beschreibt Simone de Beauvoir, wie sie davon abkam, ihre Tochter zu einem schönen Bild zu erziehen, das sie sich gemacht hatte. Bertold Brecht hatte dies auch schon in einer unvergesslichen Geschichte gefasst: Der Titel der Geschichte ist: Wenn Herr K. einen Menschen liebte. „Was tun Sie“, wurde Herr K. gefragt, „wenn Sie einen Menschen lieben?“ „Ich mache einen Entwurf von ihm“, sagte Herr K., „und sorge, dass er ihm ähnlich wird.“ „Wer? Der Entwurf?“ „Nein“, sagte Herr K., „der Mensch.“ 

Christliche Erziehung unter dem Zeichen der Rechtfertigung und der Freiheit kann es nicht akzeptieren, dass Menschen bestimmten Bildern angepasst werden, etwa von optimierter Schönheit und Fitness oder von umfassender Kompetenz, optimal abgestimmt auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes. Auch einem theologischen Ideal von einem Menschen sollten wir absagen.

Theologische Bildung sollte gar nicht am „Bild“ orientiert sein, sondern am Bilden, an der Tätigkeit des Aufbauens, des Material zur Verfügung Stellens zur Selbstbildung im Dialog. Nicht das Bild, sondern das im englischen Wort „to build“, aufbauen, aufbewahrte Sinnpotential sollte uns leiten. Ein theologischer Bildungsbegriff, wie ich ihn skizziert habe, orientiert sich daran, dass Menschen die Begegnung mit anderen brauchen, um sie selbst werden können. Wir waren alle als kleine Kinder schwach und brauchen immer wieder andere, um zu lernen. Diese Angewiesenheit auf andere führt uns zusammen und stellt gleichzeitig jedes Lehren und Bilden in eine große Verantwortung. „Gegenseitig reichen wir uns das Himmelsbrot des Selbstseins“, sagte Martin Buber poetisch. Jan Amos Commenius stellt sich die Frage, ob im Paradies auch Schulen gewesen seien. Er beantwortete diese Frage mit einem enthusiastischen „Ja“. Bildung ist dann christlich theologische Bildung, wenn in der ganzen Plackerei, in den Konflikten und in den Misserfolgen, diese paradiesische Seite von Bildung, das Evangelium und nicht nur das Gesetz, zum Vorschein kommt.

Literatur:

Brunner, Emil 1938: Wahrheit als Begegnung. 6 Vorlesungen über das christliche Wahrheitsverständnis. Zürich: TVZ.

Buber, Martin 2019: „Ich und Du“ (EA 1923). In: Martin Buber Werkausgabe. Bd. 4 Schriften über das dialogische Prinzip. München: Gütersloher Verlagshaus 37-109.

James, William 1987a: „A Pluralistic Universe“. Writings 1902-1910. Hrsg. V. Bruce Kuklick. The Library of America. New York: Penguin Random House.625-819.

James, William 1987b: „A Pluralistic Mystic“. Writings 1902-1910. Hrsg. V. Bruce Kuklick. The Library of America. New York: Penguin Random House.1294-1313.

Kuschel, Karl-Josef 2020: Ein ungeheurer Stoff für einen Schriftsteller. Meisterwerke der Begegnung von Bibel und Literatur im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Katholisches Bibelwerk.

Höffe, Otfried 2015: Kritik der Freiheit, München: Beck.

LaCocque, André/Ricoeur, Paul 1998: Paul: Penser la bible. Paris: Seuil.

Negel, Joachim 2022: Das Virus und der liebe Gott. Unzeitgemäße Betrachtungen. Freiburg im Brsg.: Herder.

Reckwitz, Andreas 2017: Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Frankfurt: Suhrkamp.

Ricoeur, Paul 2009 (EA 1960): Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II. Baden-Baden: Karl Alber Verlag

Rosa, Hartmut 2016: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp.

Rosa, Hartmut 2018: Unverfügbarkeit (Unruhe bewahren). Salzburg: Residenz.

Rosa, Hartmut/Endres, Wolfgang: Resonanzpädagogik. Wenn es im Klassenzimmer knistert. Weinheim/Basel: Beltz.

Rose, Miriam 2022: Ethik der Individualität. Skizze eines theologischen Programms. ZEE 66 (1), 9-23.

Sobrino, Jon 1992: El Principio misericordia. Bajar de la cruz a los pueblos crucificados. Santander: Sal Terrae 1992.

Tillich, Paul 2020 (EA 1957): Dynamik des Glaubens (Dynamics of Faith). Neu übersetzt, eingeleitet und mit einem Kommentar versehen von Werner Schüßler. Berlin/Boston: de Gruyter.

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