Gottesdienst mit Nichtchristen

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Dietrich Lauter
Kirchgasse 1, 06406 Bernburg

Einführung

Gottesdienst mit Nichtchristen – dieses Thema wurde natürlich für die Situation in Anhalt formuliert, wie ich sie seit 2001 erlebe. 85% der Menschen sind konfessionslos – wir leben in dem Landstrich Deutschlands, der die geringste Christendichte aufweist und zugleich die höchste Kirchendichte – in der Landparochie, deren Pfarrer ich in den letzten Jahren neben meinem Kreisoberpfarramt war, gibt es für gut 500 Gemeindeglieder acht Kirchengebäude. Religionslosigkeit ist normal, zum Teil in der 3. und 4. Generation. Die Kenntnis von christlichen Inhalten und Abläufen gehört nicht mehr zum Allgemeinwissen. Kirchen werden im Urlaub besichtigt, aber zuhause in Anhalt nicht betreten – das gilt für einen relevanten Teil der Bevölkerung, vor allem auch auf dem Lande.

Daneben erlebe ich eine Kirche, die vor allem durch ihre DDR-Geschichte in weiten Teilen eher als binnenbezogene existiert und in der Offenheit und die Anwesenheit von „Fremden“ für viele immer noch (ver)störend wirken.

Dennoch entdecke ich Anknüpfungspunkte zu den Nichtchristen an allen Ecken und Enden – bei den allgemeinen Themen wie Werteverlust, Gemeinschaft, Gerechtigkeit und Frieden ebenso wie gerade im Bereich der interessierteren Menschen, die feststellen, dass bei der Suche nach Antworten auf Sinnfragen die Kirche der einzige Gesprächspartner ist. Auch wenn wir eine kleine Minderheit sind, wir sind mit unserer Botschaft mittendrin und – in einer Gesellschaft, in der eben auch Orientierungslosigkeit der Normalfall ist – meines Erachtens nötiger denn je. Wir haben dabei auch gute Chancen, Menschen neu zu interessieren und wenigstens einige zu gewinnen, wenn wir Formen finden, die Konfessionslosen anzusprechen und im Gespräch zu bleiben. Dies ist allerdings eine Kunst, die in einer Kirche mit „volkskirchlicher Tradition“ kaum geübt wurde.

So habe ich mich sehr darüber gefreut, dass ich bei der Frühjahrstagung der Anhaltischen Landessynode im April 2016 die Möglichkeit hatte, zu dieser Thematik einen Impuls zum Gespräch zu geben. Der geeignete Ort dafür fand sich im Tagesordnungspunkt „Roter Faden Gottesdienst“. Dies ist ein Projekt der laufenden Sitzungsperiode der Landessynode, deren Präsidium ich seit 2012 angehöre. Wir haben uns trotz der vollen Tagesordnung mit Berichten, Gesetzen, Haushaltsplänen etc. jedesmal den Luxus erlaubt, einen Akzent zum Thema „Gottesdienst“ zu setzen. Es ging u.a. um die Wurzeln unseres Gottesdienstes im Judentum, um den geistlichen Aspekt des Kollektenwesens, um das Abendmahl allgemein und mit Kindern im Besonderen. In diesem Rahmen durfte ich bei meiner letzten Synodaltagung etwas zum Thema „Gottesdienst mit Nichtchristen“ beitragen, woraus dann auch ein wenig eine „Vermächtnisrede“ geworden ist, wie es ein Synodaler formulierte.

Auch wenn die Schilderungen aus Anhalt für die Leserinnen und Leser des Pfälzischen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatts u.U. etwas exotisch erscheinen mögen, hoffe ich, dass meine Thesen auch ihnen etwas Anregung zum Nachdenken über unserer Gottesdienste und die Anbahnung des Gesprächs mit denen, die den Kontakt zur Kirche – als Mitglieder oder Nichtmitglieder – verloren haben, bieten. Der gesellschaftliche Paradigmenwechsel wird vermutlich ja doch auch an der idyllischen Pfalz, die unser Herrgott als sein Lieblingsland auserkoren hat, nicht ganz vorbeigehen.

Biblischer Impuls

„Gott, der die Welt gemacht hat und alles, was darin ist, er, der Herr des Himmels und der Erde, wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind. Auch lässt er sich nicht von Menschenhänden dienen wie einer, der etwas nötig hätte, da er doch selber jedermann Leben und Odem und alles gibt. Und er hat aus einem Menschen das ganze Menschengeschlecht gemacht, damit sie auf dem ganzen Erdboden wohnen, und er hat festgesetzt, wie lange sie bestehen und in welchen Grenzen sie wohnen sollen, damit sie Gott suchen sollen, ob sie ihn wohl fühlen und finden könnten; und fürwahr, er ist nicht ferne von einem jeden unter uns. Denn in ihm leben und weben und sind wir. (…) Zwar hat Gott über die Zeit der Unwissenheit hinweggesehen; nun aber gebietet er den Menschen, dass alle an allen Enden Buße tun. Denn er hat einen Tag festgesetzt, an dem er den Erdkreis richten will mit Gerechtigkeit durch einen Mann, den er dazu bestimmt hat, und hat jedermann den Glauben angeboten, indem er ihn von den Toten auferweckt hat. Als sie von der Auferstehung der Toten hörten, begannen die einen zu spotten; die andern aber sprachen: Wir wollen dich darüber ein andermal weiterhören.“ Apg 17, 24-28a.30-31

Keinem unter uns ist Gott fern“ Vorsicht vor Fehlinterpretationen! Das sagt Paulus (nach Lukas) zu Heiden! Würde er das auch zu anhaltischen Atheisten oder Moslems sagen?

Prozentual sind wir ja sowieso gut in Anhalt, aber am Heiligen Abend schlagen wir alle Rekorde: Gottesdienstquoten von über 100%, d.h. mehr Gottesdienstbesucher als Gemeindeglieder, sind im ländlichen Bereich keine Seltenheit. Aber wir wissen: Diese Menschen sind nicht alle Gemeindeglieder; viele, wenn nicht gar die Mehrzahl, sind Nichtchristen. Ob wir uns darüber freuen sollten, darüber gehen die Meinungen gelegentlich auseinander; manchmal macht sich Unmut breit, zumal ja die Erfahrung zu zeigen scheint, dass die wenigsten ein zweites Mal im Jahr kommen. Es geht jedoch nicht nur um den 24. Dezember. Es geht um nahezu alle Feste, bei denen eine breitere Beteiligung erreicht werden kann, Gelegenheiten, bei denen die Nicht- oder Nichtmehr-Christen an Gottesdiensten teilnehmen.

Goldene Konfirmation: Da kommen nichtchristliche Angehörige mit, da geht es um ein Wiederanknüpfen von Ehemals-Christen – von der Einstellung zu diesen Menschen hängt v.a. bei der Feier des Abendmahls viel ab.

Konfirmation: Da nehmen auch Eltern und Freunde teil, die nicht der Kirche angehören, da kommt u.U. auch die Klassenlehrerin, die auch bei den anderen mit zur Jugendweihe geht, da gibt es gelegentlich neugierige Gäste, Klassenkameradinnen – werden sie angesprochen, einbezogen oder eher als Zuschauer oder Zaungäste angesehen? Und bei uns sind auch noch Jugendliche dabei, die als Ungetaufte an der Konfirmandengruppe teilgenommen haben.

Taufe: Selten sind alle Beteiligten in der Kirche; oft sind Eltern, Paten und Gäste nicht-kirchlich. Und dann gibt es noch die „Taufzeugen“, so etwas wie Paten zweiter Klasse. Was hat das mit der Verantwortung für das Kind zu tun?

Trauung: Da gibt es (meist) die/den nichtkirchliche/n Partner/in und entsprechend Familienangehörige. Die Gäste und Neugierigen sind in der Regel mehrheitlich nicht religiös gebunden, aber hören erfahrungsgemäß sehr aufmerksam zu; übrigens ist im Gespräch auch oft der nicht der Kirche angehörende Partner sehr interessiert.

Gibt es wirklich einen Grund, noch zwischen einer Trauung und einem Gottesdienst anlässlich einer Eheschließung zu differenzieren? Welche Begründung gibt es, einem nicht der Kirche angehörenden Paar den Segen für den gemeinsamen Lebensweg vorzuenthalten? Ließe sich das wie in anderen Ländern machen – eine Segenshandlung (gegen eine angemessene Gebühr) für Nichtchristen, die dann ganz gewiss auch eine missionarische Gelegenheit sein könnte?

Beerdigung: Bei Trauerfeiern hören die Menschen, fast immer mehrheitlich Nichtchristen, besonders aufmerksam zu. Wenn die Situation sensibel aufgenommen wird und Worte des Glaubens in hilfreicher und verständlicher Weise dazu in Beziehung gesetzt werden, lässt sich sehr viel von der Hoffnung, die der Glaube schenkt, vermitteln. Erschreckend viele Mitglieder werden leider nicht mehr kirchlich bestattet, dafür wird häufiger der Wunsch geäußert, einen nicht der Kirche Angehörigen zu bestatten. Was spricht dagegen außer Argumenten der Kirchenzucht?

Theologisch: Was tun wir eigentlich bei einer christlichen Trauerfeier? Trauernde Angehörige begleiten, über Leben und Sterben im Horizont der biblischen Überlieferung nachdenken, Fürbitte halten – was davon können oder sollen wir im Fall eines Ausgetretenen oder Nichtgetauften nicht tun?

Gottesdienst im Freien: Zugang für Ehepartner, Neugierige – ganz entscheidend ist, wie etwas gesagt wird, und dass etwas dabei ist, womit auch der Nichtchrist etwas anfangen kann. Dabei kommt es nicht nur auf gute inhaltliche Vorbereitung an (das zuerst!), sondern auch auf Atmosphäre (v.a. Gestaltung und Musik). Vor allem spielt eine authentische persönliche Ansprache und die Übertragbarkeit des Gesagten für den Alltag eine Rolle.

St. Martin: Das ist der Klassiker unter den Veranstaltungen zur Wertevermittlung in oder außerhalb der Kirche, in Kooperation mit verschiedenen Partnern – für die Mehrheit der Teilnehmerinnen ist das Christliche eher fremd. Auch das kann man kritisieren, weil die ja nur wegen des Laternenumzugs, der Hörnchen und des Biers kommen. 

Unterm Strich

Es sind mehr Nichtchristen in unseren Gottesdiensten als wir gemeinhin denken – und das gerade bei Kasualien, besonderen Gelegenheiten, bei den großen Gottesdiensten. Unsere Gottesdienste sind öffentlicher als wir glauben. In unserer Parochie gilt das für 25 der 70 Gottesdienste in 2015, an den gut 70% aller Besucher teilnahmen. Und ich mache die Erfahrung: die Nichtchristen hören zu, nicht selten aufmerksamer als die Christen!

Erstaunlich ist, wie viele Gottesdienste dennoch in einer Weise stattfinden, als gäbe es die Nichtchristen nicht, dies gilt auch dann, wenn solche anwesend sind. „Wir bekennen unseren Glauben“ – wer das Apostolikum nicht kann, hat Pech gehabt (das erwischt manchmal auch Christen). Was vermittelt das? Wir bekennen – du gehörst nicht dazu. 

Natürlich gibt es auch in unserer Parochie die von vielen als die „normalen“ bezeichneten Gottesdienste, in die sich kein Nichtchrist verirrt. Das sind die kleinen in unseren Dörfern, deren potentielle Teilnehmerinnen meist namentlich bekannt sind. Diese Gottesdienste haben ihr Recht – aber haben sie auch Zukunft? Und was ist an ihnen „normal“?

Zu diesen Gottesdiensten lädt übrigens auch kaum jemand einen Nichtchristen ein. Denn gerade so lieben viele ihren Gottesdienst. Das hat mit Geborgenheit und Vertrautheit zu tun, weniger mit Offenheit für Fremdes und Fremde. 

Denkanstöße

·         Zunächst einmal ein Vorschlag zur Selbsterforschung: Wollen wir sie wirklich, die anderen, die, die wir nicht kennen, die, die nicht unsere Lieder singen, die komischen, die kritischen, gar die Fremden?

·         Können wir uns daran gewöhnen, unsere zentrale und wichtigste Veranstaltung, den Gottesdienst, grundsätzlich und in jedem einzelnen Fall als Gelegenheit zu begreifen, Menschen neu anzusprechen?

·         Können wir jedem Christenmenschen zumuten, sich in Menschen hineinzuversetzen, die völlig kirchenfremd sind und in eine Veranstaltung geraten, deren Sinn und Ablauf sie von ihren bisherigen Erfahrungen her nicht verstehen? Wenn uns die dazu nötige Sensibilität fehlt, wollen/sollten wir sie zu erwerben suchen?

·         Gottesdienst erscheint oft als Veranstaltung nur für Eingeweihte (Liturgie, Gebete, schwer verständliche oder schwer verdauliche Bibeltexte, die ohne Erklärung gelesen werden); gewiss, man kann nicht immer alles erklären, aber gibt es da vielleicht einen „Goldenen Mittelweg“, um Menschen mit hineinzunehmen, die nicht wissen, wann sie was zu antworten oder zu singen haben? 

·         Gelingt es uns, die „Nichtchristen“ differenziert zu betrachten? Da gibt es die Ausgetretenen und diejenigen, die nie getauft wurden. Da gibt es die vielen, die sagen, dass sie „ihren Glauben haben“, aber Probleme mit dem „Bodenpersonal“. Billigen wir ihnen ein Recht darauf zu? Ist das „Extra ecclesiam nulla salus“ (es gibt kein Heil außerhalb der Kirche) Bestandteil der protestantischen Dogmatik?

·         Das christliche Abendland, die europäischen Werte – die werden ja auch von denen als ihr Erbe begriffen, die nicht der Kirche angehören. Gibt es darüber einen offenen Dialog mit ihnen? Oder haben wir da unsere eigene Geschichtswahrnehmung und ärgern uns im Grund darüber, dass sie versuchen, uns etwas, was eigentlich nur uns gehört, wegzunehmen? Wenn wir in den gemeinsamen Dialog einsteigen, werden wir dann nicht vielleicht entdecken, wie viel den einen oder anderen Nichtchristen mit uns verbindet?

Empfehlungen

·         Theologisch: grundsätzlich davon ausgehen, dass Gottes keinem fern ist und seine Liebe allen Menschen gilt.

·         Festhalten, dass Glaube unverfügbar und freiwillig ist und weder vererbt noch verordnet werden kann. 

·         Immer deutlich machen, dass jede und jeder die Nähe zur Kirche frei wählen kann. Deshalb aufpassen, dass nichts von Zwang und Bevormundung zu spüren ist.

·         Ekklesiologisch: den Unterschied von Kirchenzugehörigkeit und Vereinsmitgliedschaft (aus Beitrag folgt ein Anrecht auf Leistung, ohne Beitrag keine Ansprüche) wahrnehmen – wir sind eben etwas anders als eine Art ADAC für die Reise durchs irdische Jammertal.

·         Im Bewusstsein festhalten, dass alle unsere Gottesdienste öffentliche Veranstaltungen sind, d.h. jeder Versuchung entgegentreten, sie nur als unsere (Insider-)Veranstaltungen zu begreifen. 

·         Gottesdienste nicht als selbstverständliche Routine begreifen, sondern verstehen, dass sie ein „Luxus“ sind – eine Stunde in der Woche, in der wir uns etwas Wunderbares sagen lassen können, wo wir ehrlich vor Gott und zu uns selbst sein können, wo wir nichts leisten müssen, wo wir Kraft schöpfen können. Diesen Luxus sollten wir allen gönnen! Dafür können wir unbefangen werben.

·         Es gilt, die Chancen zu nutzen, bei denen Nichtmitglieder an Gottesdiensten teilnehmen, und vor allem die Zahl solcher Gelegenheiten zu erhöhen – mit persönlicher Ansprache, guter Werbung (Inhalt und Form).

·         Kleine Hilfestellungen sind dabei sinnvoll: ein abgedrucktes Vater Unser, ein (neues?) Credo, ein Gebetstext, der liturgische Ablauf. Das schafft Verhaltenssicherheit für Ungeübte; gute Texte werden gerne mitgenommen – gerade von Menschen, die keine Bibel haben und keine Kirchenzeitung lesen.

Generell: Jeder Gottesdienst sollte so gehalten und gestaltet werden, dass auch ein unerwartet dazu kommender Nichtchrist sich angesprochen und einbezogen fühlen und etwas für sich mitnehmen kann. Dabei gilt es, sensibel zu sein: es zählen nicht nur Worte und Inhalte, es wirken auch Blicke, Haltung, Grüßen oder Nicht-Grüßen…

Wenn wir so etwas von Gottes Menschenfreundlichkeit ausstrahlen und das in Worten und Mienen deutlich wird, dann bereiten wir den Boden dafür, dass Nichtchristen ihr Verhältnis zu Kirche und Glauben ändern können, und schaffen unserer Kirche ein Umfeld, in dem Christen als „Sauerteig“ wirken können.

Im Kern geht es um eine Veränderung unserer Einstellung gegenüber den nicht der Kirche angehörenden Menschen; diese ist notwendig angesichts der sich verändernden Gesellschaft. Denn im Verhältnis von Christen zu Nichtchristen ist gesellschaftlich ein Paradigmenwechsel eingetreten, den wir wahrzunehmen und auch innerlich nachzuvollziehen haben mit den entsprechenden Konsequenzen für unser kirchliches Handeln.

Das Verhältnis von Christen zu Nichtchristen hat eine gewaltige Wandlung durchgemacht

Über Jahrhunderte ging man im Mittelalter davon aus, dass die Christen mit ihrer katholischen Kirche sozusagen im Besitz der Wahrheit seien. Andersgläubige waren zu missionieren oder zu bekämpfen (oder eine Mischung von beidem).

In der Zeit des landeskirchlichen Kirchenregiments war das konfessionelle Christsein das „Normale“. Abweichungen (Christen anderer Konfession, Andersgläubige, Menschen mit anderem Hintergrund) wurden selten und ungern toleriert, in jedem Fall eher abgewertet. Die Abwendung vom Glauben seitens der eigenen Mitglieder war lange Zeit strafbar. Das Recht, aus der Kirche auszutreten, nahm so den Charakter einer emanzipatorischen Handlung an – ich finde das beschämend für eine christliche Kirche; unter den Folgen leiden wir bis heute.

In beiden Phasen war eine interessierte Zuwendung zu den „anderen“ nicht vorgesehen. Vieles in unserem Kirchenverständnis und auch in der Kirchenordnung stammt aus diesen Phasen.

In der DDR verkehrten sich die Verhältnisse: Seitens der Staatspartei wurde die Hinwendung zur „wissenschaftlichen Weltanschauung“ und die Abkehr vom christlichen Glauben propagiert. Plötzlich war Christsein nicht mehr „normal“. Die Kirche sollte sich auf das Ihre, das ihr zähneknirschend zugestanden wurde, beschränken. Eine werbende Zuwendung zu den Nichtchristen war – unter anderen Vorzeichen – wiederum nicht vorgesehen.

In der Grundstruktur änderte sich aber wenig. Nun hatten die anderen die Wahrheit gepachtet, was wie zuvor mit den Mitteln der Staatsmacht privilegiert wurde.

Nach der Wende musste man sich neu orientieren: Erneut waren die Kirchen anerkannt, sie wurden staatlicherseits respektiert, ja gefördert. Aber sie blieben Minderheit in einer mehrheitlich nicht mehr atheistischen, sondern konfessionslosen oder glaubensvergessenen Umgebung (und das wird sich auch nicht mehr ändern). 

Das entscheidend Neue aber ist nun, dass sich keiner mehr im Besitz einer irgendwie durchzusetzenden Wahrheit wähnen darf. Niemand kann die alleinige Deutungshoheit über die Welt beanspruchen, weder die Kirche, noch irgendeine Partei oder Weltanschauung.

Die bevorzugte Reaktion auf diese Entwicklung scheint mir zu sein, dass sich die Kirche auf die verbliebenen Mitglieder, d.h. vor allem die bekannten und aktiven Mitglieder (immer noch eine Minderheit der Mitglieder) konzentriert. Die Ergebnisse der letzten EKD-Mitgliedschaftsstudie werden dafür als Bestätigung genommen: Lasst uns mit denen gut arbeiten, die wir haben. Die Kirchenfernen anzusprechen ist „vergebliche Liebesmüh“. Ersehnt wird eine Art Freikirche, allerdings – aus finanziellen Gründen – mit den öffentlich-rechtlichen Rahmenbedingungen.

Ich halte das für falsch und auch unserem Auftrag, die frohe Botschaft aller Welt auszurichten, nicht angemessen. Allerdings müssen wir uns neu besinnen, welche Rolle wir da z.B. als Christengemeinde innerhalb der Bürgergemeinde zu spielen haben, wenn der Anspruch, den alleinseligmachenden Glauben zu haben, so nicht mehr gelten kann? Erklären, bekennen, das Gespräch suchen, andere aushalten …

Abschluss: „Darüber wollen wir ein andermal mehr hören“ (Apg 17,31) – am Ende der paulinischen Predigt steht kein großes Interesse, aber doch ein Stückchen Neugier, vielleicht sogar Aufgeschlossenheit.

Das erreicht zu haben, hielte ich für das Ziel in jedem Gottesdienst, an dem Nichtchristen teilnehmen. Das gilt auch und gerade an Heilig Abend. Es geht darum, Neugier zu wecken auf das, was aus diesem Kind wird. Aber wenn es wirklich gelingt, Nichtchristen neugierig zu machen, dann müssen wir uns überlegen, was wir ihnen anbieten, wozu wir sie einladen. Haben wir mehr als den Standard-Gottesdienst für Insider zu bieten? Die Leute kommen ja auch beim erneuten Besuch nicht in erster Linie zu einem Gottesdienst, sondern zu einem Ereignis/Erlebnis, von dem sie, wenn es gut gelingt, auch ein paar Anstöße zu religiösem Denken mitnehmen. Es wäre aber naiv, eine „Bekehrung“ in dem Sinne zu erwarten, dass urplötzlich das Bedürfnis erwacht, an einem agendarischen Kleinstgottesdienst teilzunehmen. Wenn eine Reihe von Menschen außer am Heiligen Abend dann auch noch einmal im Sommer zu einem besonderen Gottesdienst (im Freien oder in der Mühle beim Mühlenfest) und im Herbst zum Erntedank in der Maschinenhalle und im November zu St. Martin kommen, dann haben diese Nichtchristen schon einen für gesamt-deutsche Protestanten überdurchschnittlich hohen Gottesdienstbesuch – das wäre doch schon einmal ein Anfang!

Nachbemerkung

Ich habe alle meine Überlegungen ohne Rücksicht auf die Ordnungen und Regelungen unserer Tradition angestellt. Die berechtigte Frage ist: Was wäre, wenn alle es so machen würden wie ich? Ich gebe zu, ich weiß es nicht, aber ich denke, die Angst vor dem Zusammenbruch der Kirche ist unbegründet.

Umgekehrt habe ich eine Menge Fragen, wenn ich mir vorstelle, wie es in unserer Kirche weitergehen soll, wenn alle sich bei jeder der o.g. Gelegenheiten erst einmal daran orientieren, was Tradition ist, was in der „Ordnung des Kirchlichen Lebens“ steht, wenn die erste Frage stets ist, was alles nicht geht, und wo wir hinkämen, wenn jeder ohne Beitragsleistung (gar ohne Taufe) in den Genuss unserer Dienstleistungen (mir scheint, als solche betrachtet man sie) käme.

Vermutlich denkt jeder, dass der jeweils andere Gefahr läuft, den Auftrag zu verfehlen und der Kirche zu schaden. Wir werden uns gegenseitig in geschwisterlicher Toleranz zu ertragen haben.

Am Schluss lade ich ein, eine Liedstrophe (EG 170,2) zu singen, die hier vermutlich alle kennen. Ich singe das gern und denke mir dabei, dass da ganz sicher kein gestufter Segen (der volle für Getaufte und Kirchensteuerzahler, ein etwas sparsamerer z.B. für nicht der Kirche angehörige Paten und ein ganz kleiner für die Heiden) gemeint ist.

„Keiner kann allein Segen sich bewahren. / Weil du reichlich gibst, müssen wir nicht sparen. / Segen kann gedeih‘n, wo wir alles teilen, / schlimmen Schaden heilen, lieben und verzeih‘n.“

Referat bei der Tagung der Landessynode der Evangelischen Landeskirche Anhalts am 8./9. April 2016. Der Autor war Pfarrer der Pfälzischen Landeskirche und seit 2001 Kreisoberpfarrer in der Evangelischen Landeskirche Anhalts.

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