Die Macht der Bilder und die Ohnmacht der Vernunft

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Prof. Dr. Hartmut Wagner
Hochschule der Bildenden Künste, Keplerstraße 3, 66117 Saarbrücken

Flüchtlinge aus dem Nahen Osten oder aus Afrika, ein ertrunkener syrischer Junge an der türkischen Riviera, brennende Flüchtlingsheime, ausländerfeindlicher Mob, ein „Je suis Charlie“-Button – heute; die brennenden Türme vom 11. September 2001, die Benetton-Werbung der 80er, ein vietnamesisches Mädchen, das schreiend vor Schmerz und Angst auf einer Straße rennt, Willy Brandt, der vor dem Mahnmal des Warschauer Ghetto-Aufstandes kniet – gestern: Unser Gedächtnis stellt jedem Ereignis das passende Bild zur Seite. Mehr denn je präsentiert sich unser Leben in Bildern.

Worin besteht nun die Macht der Bilder? Liegt sie darin, dass sich kaum jemand ihrer suggestiven Wirkung entziehen kann? Bilder sind Zeichen. Sie zeigen uns etwas und bedienen sich dabei unterschiedlicher Symbole. Wir können diese Zeichen und Symbole entziffern und gelangen zu bestimmten Schlussfolgerungen. Bilder gehören zu den besonderen Zeichen. So wie den Buchstaben bei einem Text, kommt der ästhetischen Ausdruckskraft der Bilder eine besondere Rolle zu. Doch das Bild ist nicht der unbezweifelbare Garant vergangener Wirklichkeit, für das wir es halten. Bilder und Fotos entfalten ihre eigene Dynamik. Gerade weil ein Bild nicht einfach wahr ist, bedarf der Betrachter einer ästhetischen Aufklärung ebenso wie einer kritischen Sicht des Bilderreservoirs. Ein Bild mag auf den ersten Blick noch so eindeutig und wahrhaftig erscheinen, es kann uns auf den zweiten Blick zugleich Rätsel aufgeben. Häufig erweisen sich öffentliche Darstellung, Betrachtung und Deutung des Dargestellten als komplexen, zwischen Bild und Betrachter angelegten Vorgang: Es ist dann nicht einfach ein vor unseren Augen liegendes Ereignis. Deshalb ist daneben immer auch die Frage zu stellen: Was muss man zeigen? Und weiter: Was darf man zeigen?

In der Tat zeigen sich und wirken Bilder besonders. Weil sie, wie es heißt, mehr sagen als tausend Worte. Vor allem weil sie zeitlich und räumlich Entferntes kompakt, gleichsam auf einen Schlag und unausweichlich vergegenwärtigen. Will ich einen Text nicht zur Kenntnis nehmen, so genügt das bloße Nichthinsehen. Ich sehe zwar Buchstaben, der Sinn des Textes, sein eigentlicher Inhalt, erschließt sich aber erst durch das Lesen. Dem Bild kann ich indes nur durch aktives Wegsehen ausweichen. Das setzt aber immer bereits eine Wahrnehmung voraus, wie flüchtig auch immer diese sein mag. Wegen ihrer Präsenz und unmittelbaren Repräsentanz, kombiniert mit dem Schein von Authentizität, werden Abbildungen besondere, bisweilen magische Kräfte zugeschrieben.

Die Wirkung der Bilder ist höchst vielfältig: Sie informieren oder desinformieren, erzählen oder verschweigen, unterhalten oder langweilen, stellen dar oder verweisen, zeigen oder verbergen, rütteln auf oder stumpfen ab, verhüllen oder decken 

auf, dokumentieren nüchtern oder mobilisieren Gefühle, ob tiefsitzende Ängste oder entfesselte Leidenschaften.

Gerade diese Doppelgesichtigkeit der Bilder hat auch immer wieder Zweifel an ihrer Legitimität hervorgerufen: In der griechischen Antike galt für den Philosophen Platon die bildnerische Kunst als eine besondere Form des Truges. Das biblische Bilderverbot („Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht!“) führte zu einem blutigen Zwist zwischen Bilderstürmern und Bilderverehrern. Der Umgang mit Bildern war auch in der Reformation heftig umstritten. Zunächst stellte sich bei der Aneignung katholischer Gotteshäuser durch die Protestanten die Frage, ob man nur Heiligenfiguren und -darstellungen entfernen oder die Kirchen völlig ausräumen solle. Während Martin Luther und seine Anhänger besonders nach ihrer Erfahrung mit den Verheerungen und Exzessen des Bildersturms solche Bilder, die mit den reformatorischen Glaubensinhalten konform gingen, religiös legitimierten, verwarfen andere Reformatoren wie Zwingli und Calvin sämtliche bildlichen Darstellungen in Gottesdiensträumen oder zu sonstigem religiösen Gebrauch. In der Kunstgeschichte der frühen Neuzeit transportierten auch in der Folgezeit die Malerei und die Bildhauerei immer wieder eindrucksvolle Beispiele für eine ästhetische Darstellung des befreiten Menschen und nahmen dabei politisch Partei gegen die feudalistische Ordnung. Und die Fotografie und der Film im 19. und 20. Jahrhundert schufen eine nie gekannte und kaum kontrollierte Bilderfülle, die zunehmend Zweifel an der Authentizität der Abbildungen hervorriefen. Und wir im 21. Jahrhundert erleben durch die digitalen Medien auch noch eine Enteignung unseres Selbst durch Internet, Facebook, Instagramm, Computerspiele und vieles mehr, dessen Auswirkungen auf unseren Alltag, unser tägliches Leben, auf unser kulturelles wie religiöses Selbstverständnis kaum absehbar ist. Mittlerweile muss man befürchten, dass ein Bild, einmal in die digitalen Medien gelangt, nicht mehr, auch nicht zum eigenen Schutz, gelöscht werden kann. Sie sehen: Für Bilder gibt es Gründe, mit Bildern können aber auch Abgründe verbunden sein.

Ein Bild erschütterte die Welt in den letzten Wochen in besonderer Weise: Ein kleiner Junge liegt am Strand, das Gesicht im Sand, die Arme sind nach hinten gestreckt, sein rotes T-Shirt und seine blauen Hosen sind durchnässt. Wir sehen ein ertrunkenes Flüchtlingskind, das an einem Strand im türkischen Bodrum angespült wurde. Der Junge war erst drei Jahre alt und stammte aus Syrien. Er ist einer von vielen. Dieses Bild des toten Jungen sorgt weltweit für Bestürzung. „Ein Foto, um die Welt zum Schweigen zu bringen“, kommentierte eine italienische Zeitung das Foto von der im Sand liegenden Jungenleiche. „Der Untergang Europas“, schreibt eine spanische Zeitung. „Was, wenn nicht dieses Bild eines an den Strand gespülten syrischen Kindes, wird die europäische Haltung gegenüber Flüchtlingen ändern?“, fragt eine britische Zeitung. Verdichtet dieses Bild die Welt tatsächlich zu einem Symbol, die Welt des Krieges, in der wir leben, die Welt der Flucht, der Vertreibung? Es ist ein stilles Bild, das macht es so anrührend. Und deshalb ist es so unerträglich.

Deshalb lauten unsere ersten Fragen: Durfte man das Bild des toten Kindes zeigen? Verletzt das Foto nicht seine Würde? Oder: Musste man es gar zeigen, weil seine Würde schon viel früher verletzt worden war, durch Krieg, durch Vertreibung und Flucht? Und: Warum hat dieses Bild so viele Menschen berührt? Sicherlich ist es das Bild eines Kindes, was unsere Seelen erreicht; eines kleinen schutzlosen Menschen, dem wir unseren Schutz und unsere Hilfe nicht zu Teil werden lassen konnten. Doch genügt die Tatsache, dass ein Bild journalistisch ein starkes und großes Symbol ist, seine Veröffentlichung zu rechtfertigen? Ist es bestimmt von dem Willen um Aufklärung oder ist nicht eher der Wunsch, über große Gefühle die Auflage zu steigern und die Aufmerksamkeit zu erhöhen, maßgeblich? Letztlich gerät das Ganze zu einer Frage des journalistischen Ethos, des sittlichen Verantwortungsbewusstsein einer Journalistin oder eines Journalisten. Ich persönlich hätte das Bild in jedem Fall nicht ohne Text veröffentlicht; mit Hinweisen auf die Fluchtursachen, auf die konkrete Geschichte, auf die politische Gesamtlage im Nahen und Mittleren Osten, auf seine Familie und seine Herkunft. Das Bild des Jungen ist ein unfassbar lauter Ruf, der aber sehr leise formuliert ist. Mitten im großen Lärm steht die Zeit still.

Wir begehen heute den Reformationstag. Und wenn wir über die Wirkung von Bildern sprechen, dann sollten wir weniger über den reformatorischen Bildersturm sprechen, wir sollten vielmehr in besonderer Weise über die der Reformation vorausgehende Medienrevolution reden. Luther schrieb, die Bilder seien „zum Ansehen, als Zeugnis, als Gedächtnis und als Zeichen geeignet und erlaubt“. Bemerkenswert erscheint dabei, dass die Bilderdiskussion im 16. Jahrhundert bereits einige Elemente der aktuellen Diskussion in sich birgt. Die unterschiedliche Rolle der Bilder war ebenso Thema wie ihr Bedeutungsgehalt und ihre Orientierung an Wahrhaftigkeit und Wirklichkeit. Darüber hinaus war die Reformation aber vor allem auch ein Medienereignis, in dem einschneidende geisteswissenschaftlich-theologische Erkenntnisse und kommunikationsgeschichtliche Fortschritte zusammenfielen und sich gegenseitig bedingten. Heute, 500 Jahre nach der „Medienrevolution“, die mit der Entwicklung von Massendruckverfahren einherging, erleben wir durch die Digitalisierung unserer Kommunikationsmittel Umbrüche, die vergleichbar tiefe, wenn nicht gar noch gravierendere Veränderungen unserer Lebenswelten mit sich bringen können. 

„Ich glaube nur, was ich sehe“ – dieser einfache Satz verweist darauf, dass wir ein scheinbar kaum erschütterbares Grundvertrauen in das Sichtbare haben. Geschichtliche Zusammenhänge werden gestern und heute durch die Medien vermittelt. War das Schlüsselmedium in der Reformationszeit der Buchdruck, der diese Rolle einige Hundert Jahre beibehielt, so dienen Filmbilder und Fotos als Abbilder des Gegenwärtigen, als unbezweifelbare Garanten einer medialen Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert. Heute bestimmen die digitalen Medien unsere Wahrnehmung und Darstellung der Wirklichkeit. Das Internet ist nicht mehr nur Medium oder Technik, es ist regelrecht ein Lebensraum geworden; und es ist ein Forum der Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung. Ebenso ist es ökonomischer Umschlagplatz (vom Homebanking, über das Online-Shopping bis zum Aktienhandel). Es ist die unumstritten dominierende Technologie für die Gestaltung unserer Zukunft. Nicht zuletzt deshalb ist darauf zu achten, dass auch im Falle der digitalen Medien Grundwerte wie Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Solidarität, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaat nicht auf dem Altar einer alles verschlingenden Koalition von technischen Fortschrittsoptimismus und ökonomischen Gewinnstreben geopfert werden.

Von Bildern wird erwartet, dass sie eine äußere Realität unmittelbarer wiedergeben als Sprache oder Text und so unser historisches Bewusstsein entscheidend prägen. Die Welt wird uns nicht mehr erzählt, sondern in einer wahren Bilderflut vorgeführt. Es gilt der Satz: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“ Die digitale Bilderflut beschleunigt diesen Trend noch entschieden: Seit zehn Jahren steigt allein im Internet die Zahl der Bilder explosionsartig an. Zehn Milliarden Aufnahmen sammeln sich in einzelnen Plattformen. Filme werden pro Minute mit 100 Stunden Videomaterial heruntergeladen. Und mit Smartphone ist alles für jedermann sichtbar. Wir erleben die Menschen auf der Straße zunehmend in eine stumme Zwiesprache mit sich selbst und ihrem Handy vertieft.

Die Fotografie hat die Aufgabe, die Realität abzubilden, zumindest Analogien zu ihr herzustellen. Die klassische Funktionsweise des Fotoapparates suggeriert Authentizität und technische Wertneutralität. Doch Bilder sind niemals nur Abbild von Realität. Fotos illustrieren nicht, sondern sie geben das, was sie darstellen, eigentätig wieder. Die Eigentätigkeit bezieht sich auf die Subjekte, welche die Bilder produzieren, – die Rolle des Fotografen ist dabei keinesfalls die eines „unschuldigen Beobachters“. Bilder und Fotos werden durch die Vorannahmen und Sichtweisen ihrer Produzenten strukturiert. Sie sind immer schon beschriftete beziehungsweise kommentierte Bilder. Bilder und Fotos liefern, ähnlich den Berichten von Zeitzeugen, die Interpretation eines Ereignisses aus einem bestimmten Blickwinkel, subjektiv, manchmal parteiisch, mitunter manipulativ. Neben dem Einfluss des Fotografen auf „sein“ Bild gibt es unzählige andere Möglichkeiten der Manipulation oder Montage. Bilder können lügen. Das Wegretuschieren von in Ungnade gefallenen Personen in Diktaturen mag als bekanntes Beispiel dienen. Auf diesem Weg soll das Gedächtnis gelöscht werden. Konnte man das Retuschieren auf älteren Fotos oftmals noch erahnen, weil die technischen Möglichkeiten Grenzen setzten, so sind der Manipulation durch digitale Fotografie und Bildbearbeitungsprogramme Tür und Tor geöffnet.

Der Macht der Bilder kann nur durch ihren kritischen Gebrauch kontrolliert werden. Technischer Fortschritt muss sich immer daran messen, ob er zugleich humaner Fortschritt ist. Wenn wir uns ganz einem technischen und ökonomischen Denken verschreiben, dann droht die Humanität verloren zu gehen. Technik ist kein Selbstzweck und die Welt der Bilder ist an ethische Grundsätze und das Ethos eines verantwortungsvollen Umgangs mit den Bildern gebunden.

Wir haben die Gutenberg-Galaxie hinter uns gelassen. Man wird sagen können: Nicht der Schriftunkundige ist der Analphabet der Zukunft, sondern der Bildunkundige. Doch was nützen uns diese Einsichten: Welche Schlüsse ziehen wir aus Bildern, die, im Dienste einer Despotie, Tatsachen verdrehen, die Geschichte verfälschen, Diktatoren als gütige Familienväter zelebrieren? Wie reagieren wir auf massenmedial inszenierte Bildsequenzen, die uns bestimmte gesellschaftliche oder wirtschaftliche Prozesse näherbringen und dabei den sehr einseitig verteilten Nutzen für die Menschen vergessen, ja verschleiern? Wie nehmen wir eine Werbeindustrie wahr, die sich darin übertrifft die Qualitäten eines Produktes anzupreisen, dessen Unschädlichkeit nicht einmal erwiesen ist? Was sagt uns jenes Bild des syrischen Jungen, das zu Recht so viel Entsetzen auslöste?

Mahnen uns die Bilder, die Welt gerechter zu machen? Fordern sie uns auf, keine Kriege mehr zu führen? Appellieren sie an uns, die Gier nach Macht und Geld zurückzudrängen und Mitmenschlichkeit, Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit zum Durchbruch zu verhelfen, die Natur und unsere Mitgeschöpfe nicht als Rohstoff zu behandeln? Vielleicht versuchen die Bilder das sogar; dann liegt es an uns, dass die Welt immer noch so ist, wie sie ist.

Kanzelrede im Reformationsgottesdienst am 31. Oktober 2015 in der Stiftskirche St. Arnual. Zur Veröffentlichung vorgeschlagen von Frank-Matthias Hofmann, Johanna-Wendel-Straße 15, 66119 Saarbrücken.

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