Zur gegenwärtigen Lage der Kirchen in der Ukraine

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Prof. Dr. Reinhard Thöle D.D.
Theol. Fakultät der Universität Halle-Wittenberg, Frankeplatz 1, 06110 Halle

Das Wort „Ukraine“ bedeutet „Grenzland“ und bezeichnete ursprünglich die Regionen an der Grenze zur Steppe, die die Grenze zwischen der nomadischen und sesshaften Bevölkerung war. Bis heute ist die Ukraine ein Grenzland zwischen mitteleuropäischer und osteuropäischer

Kultur geblieben.

Um die gegenwärtige Situation der Kirchen und auch die politischen Auseinandersetzungen zu verstehen, muss man sich die Grunddaten der geschichtlichen und damit eng verbundenen der kirchengeschichtlichen Identitäten der Ukraine vor Augen halten.

Ostkirchliche Wurzeln

Im Jahr 988 geschah der Überlieferung nach die Taufe des Rus‘-Volkes von Kiew im Dnipro auf Befehl des Großfürsten Wladimir. Das Christentum wurde zur Staatsreligion im Kiewer Reich. Die Gründungsüberlieferung berichtet, dass Abgesandte vom christlichen Gottesdienst in Konstantinopel so überwältigt gewesen seien, dass sie für ihr Land die orthodoxe Glaubenstradition übernehmen wollten. Die Metropolie von Kiew blieb bis zum 15. Jahrhundert von Konstantinopel abhängig.

Im Jahr 1240 wurde Kiew durch den Mongolensturm zerstört. Als neues kirchliches Zentrum bildete sich um 1300 Wladimir und dann 1326 Moskau heraus. Dort wurden seit 1447 die Metropoliten ohne Nachfrage in Konstantinopel ernannt. Nach dem Fall Konstantinopels 1453 kam im Zusammenhang mit der Autokratorenherrschaft der Moskauer Herrscher die Theorie vom Dritten Rom auf. Erst 1589 wurde Moskau von Patriarch Jeremias II selbst auf einer Reise nach Moskau zum Patriarchat erhoben und an fünfter Stelle der Rangordnung den anderen Patriarchaten zugeordnet.

Wechselnde politische Zugehörigkeiten

Mitte des 14. Jahrhunderts geriet ein Teil der Kiewer Metropolie unter polnische und litauische Herrschaft. Die Metropolie spaltete sich 1448 in einen Moskauer und einen Kiewer Teil. Der Teil, der in das polnisch-litauische Staatsgebiet (1596) eingegliedert wurde, verhandelte mit Rom und schloss 1595 eine Union ab. Rom ging aber auf die Vorstellung der Kiewer Gesandten nicht ein und betrachtete die neu gebildete Unionskirche nicht mehr als Kiewer Metropolie. Im Jahr 1620 wurde eine parallele orthodoxe Hierarchiie in dem Moskauer Teil der Kiewer Metropolie gebildet.

Durch die Teilung des polnischen Reiches fielen 1722 die Kirchen der Gebiete im russischen Zarenreiches an die Orthodoxie zurück, in den Gebieten, die an die Donaumonarchie fielen, wurde die unierte Kirche gefördert. 1807 wurde in Lemberg die unierte Metropolie von Halytsch (Galizien) zum Zentrum der Unionskirche eingesetzt.

National-religiöses Erwachen

Mitte des 18. Jahrhunderts erfolgt eine national-religiöse Erweckungsbewegung. Die Leibeigenschaft war abgeschafft worden. Taras Schewtschenko verschafft der ukrainischen Sprache literarische Geltung, in unierten Priesterseminaren kursieren ukrainisch-sprachige Bücher. Der unierte Großerzbischof Andrey Sheptizckyi (1901 bis 1944) entwickelt kirchenpolitische Visionen einer einheitlichen Ukraine auch in den östlichen Gebieten.

In politisch schwierigen Zeiten erfolgen 1918/19 in Kiew und Lemberg vergebliche Proklamationen staatlicher Unabhängigkeit. Das Abkommen von Riga 1920/21 gliedert weite Teile der Ukraine wieder dem polnischen Staat ein. Stalin will eine Abspaltung der Ukraine verhindern und 1932/33 das bäuerlich geprägte Land mit einer Hungersnot schwächen.

In der Orthodoxen Kirche bildet sich die Autokephalie-Bewegung mit dem Ziel, eine eigene von Moskau unabhängige Hierarchie zu haben und die Gottesdienste in ukrainischer Sprache und nicht in Kirchenslawisch feiern zu können. Die autokephale Kirche weiht ihr Bischöfe zuerst selbst, wird dann nach Einmarsch der Deutschen Wehrmacht dem für die orthodoxen Kirchen auf „deutschem Territorium“ zuständigen Metropolit Seraphim Lade unterstellt und gerät damit in die Zusammenhänge der Kirchenpolitik des Dritten Reiches.

Um 1920 entsteht die Ukrainische Lutherische Kirche aus einer Erweckungsbewegung der Ukrainischen Griechisch-katholischen Kirche und veröffentlicht 1930 ihr Gottesdienstbuch in ukrainischer Sprache, das die Grundzüge der Johannes-Chrysostomos-Liturgie behält.

Mit dem Vorrücken der Roten Armee wird die Hierarchie der autokephalen Kirche gezwungen, nach Nordamerika zu emigrieren, und die unierte Kirche wird aufgelöst und in den Untergrund gedrängt. Großerzbischof Josif Slipyi wird eingesetzt, 1945 verhaftet und erst 1963 ins römische Exil entlassen. Alles orthodoxe und ostkirchliche Leben wird offiziell dem Moskauer Patriarchat unterstellt. Das Moskauer Patriarchat macht zudem schwere Zeiten der Verfolgungen durch.

Nach der Wende

Nach der politischen Wende um 1990 wird die Russische Orthodoxe Kirche vor allem in der Westukraine durch die wiederentstehende Griechisch-katholische Kirche und durch die aus dem Exil zurückkehrende Ukrainische Autokephale Kirche verdrängt und es entstehen Konflikte um Kirchen, Güter und um politischen Einfluss.

Als spektakuläres Ereignis galt, dass 1992 der 94-jährige autokephale Patriarch Mstyslaw (Skrypnik) aus den USA zurückkehren konnte. Das Patriarchat Kiew wurde ausrufen, diese Patriarchat aber von den anderen orthodoxen Kirchen nicht anerkannt. Nach dem Tode seines Nachfolgers, des Patriarchen Volodymyr spaltete sich diese Kirche in die Kirche des Kiewer Patriarchates (UOK-KP) mit dem ehemaligen von Moskau exkommunizierten und laisierten Patriarchen Philareth an der Spitze, und der kleinere Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche, die auf den Patriarchentitel verzichtete. Die russischsprachige orthodoxe Bevölkerung östlich des Dnipro blieb mehrheitlich den Hierarchen treu, die dem Patriarchat Moskau unterstanden. Moskau gewährte ihrem Teil der Kirchen in der Ukraine den autonomen Status, das bedeutet eine Teil-Selbstständigkeit.

Für Aufsehen sorgte, dass im Jahr 2005 die Ukrainische griechisch-katholische Kirche ihren Hauptsitz von Lviv/ Lemberg nach Kiew verlegte und eine Kathedrale am Ostufer des Dnipro errichtete. Diese unierte Kirche betrachtet und betet für ihr Oberhaupt, das offiziell den Titel „Großerzbischof“ trägt, schon seit langer Zeit als „Patriarchen“ und möchte die Anerkennung eines unierten Patriarchates nach den Statuten des katholischen Ostkirchenrechtes in Rom erreichen.

Die Grenzen zwischen den Konfessionen scheinen fließend zu verlaufen. Eine grobe Einschätzung würde ca. 40 % der Christen beim Kiewer Patriarchat, 30 % beim Moskauer Patriarchat, 15 % bei der griechisch-katholischen Kirche, 3 % bei der autokephalen Kirche sehen. Die polnisch geprägte römisch-katholische Kirche hat vielleicht ebenfalls 3 %. Die protestantischen Kirchen, zu denen auch die deutschstämmigen und die ukrainischen Lutheraner und die transkarpatische reformierte Kirchen gehören, haben vielleicht 4 % der Bevölkerung, unter ihnen sind die Baptisten und die Gemeinden der Pfingstbewegung die größten. 

Aktuelle Positionen 

Nach der Angliederung der Krim an Russland belässt das Moskauer Patriarchat seine dortigen Gemeinden unter der autonomen ukrainischen Kirche in Kiew und unterstellt sie nicht Moskau direkt. Moskau hält sich auch bei der Wahl des Nachfolgers des im Sommer verstorbenen Ersthierarchen Wladimir/Wolodimyr zurück. Trotz Bejahung ihrer russischen Wurzel scheint die große Mehrheit der Gläubigen die russischen politischen Aktionen zu missbilligen und die autonome ukrainische Kirche des Moskauer Patriarchates verliert Gemeinden an das Patriarchat Kiew.

Der „All-Ukrainian Council of Churches“, eine Art „Arbeitsgemeinschaft der christlichen Kirchen in der Ukraine“, erklärt einschließlich der Vertreter der autonomen Kirche zur politischen Lage am 23. Februar 2014: „Die territoriale Integrität der Ukraine, die Unabhängigkeit, die uns von Gott gegeben wurde, ist von großer Bedeutung für unser Volk. Darum haben wir nicht das Recht zu ihrer Trennung, die eine Sünde gegenüber Gott und gegenüber der zukünftigen Generationen unseres Volkes ist.“ Am 7. März 2014 wird diese Erklärung vom 23. Februar bekräftigt: „Wir verurteilen die Provokationen, die Konfrontationen und Feindseligkeiten zwischen Menschen in verschiedenen Gebieten der Ukraine und zwischen verschiedenen ethnischen und religiösen Minderheiten hervorrufen sollen, und wir ermutigen die Regierung Abstand zu nehmen von jeglichen Aktivitäten, die interpretiert werden könnten, die Ukraine in religiöse, sprachliche, nationale, regionale oder anders begründete Spaltungen zu führen… Wir müssen das Äußerste tun, einen vereinten ukrainischen Staat zu erhalten.“

Vor der ersten Wahl am 15. Mai 2014 bekräftigen die Kirchen: „Wir rufen alle Bürger auf, zur Wahl zu gehen und einen Beitrag zur Wiederherstellung des Friedens in der Zukunft zu leisten. Unser Land braucht jetzt einen rechtmäßigen Präsidenten mit einem großen Vertrauensvorsprung. Wer die Durchführung der Wahl verhindern will, würde eine große Schuld vor Gott und dem ukrainischen Volk auf sich laden.“

Am 27. Mai 2014 gratuliert Patriarch Kyrill dem gewählten Präsidenten Petro Poroshenko:

„Zusammen mit vielen Menschen hoffe ich, dass die Macht und Autorität, die heute in Ihre Hände gelegt werden, zum Wohle der Ukraine in Ost und West, Nord und Süd dienen wird. Ich hoffe, das Blutvergießen wird für immer aufhören, und dass niemand für seine Weltsicht, oder kulturelle Wahl unterdrückt oder gedemütigt wird…das kirchliche Leben soll sich in Freiheit entwickeln können ohne staatliche und politische Beeinflussung oder Druck im Geist des Glaubens und der kanonischen Ordnung der Kirche…“ Alle Gemeinden der Russischen Orthodoxen Kirche werden unabhängig von ihrem Wohnort in gleicher Nähe zum Moskauer Patriarchen betrachtet.

Positionierungen im Propagandakrieg

Der gegenwärtige mit militärischen Mitteln geführte Konflikt im Osten der Ukraine wird natürlich von vielen Seiten mit entsprechender Propaganda begleitet. Ein Strang dieser Propaganda ist, dass Moskau den Konflikt auch als einen Krieg der Kiewer Regierung, die von Faschisten beeinflusst werde, gegen das eigene Volk in der Ostukraine darstellt.

Auf einer Internetseite des Moskauer Patriarchates wurde der Vorwurf erhoben, bewaffnete Mitglieder der griechisch-katholischen Kirchen und des orthodoxen Kiewer Patriarchates hätten in der Ukraine „moskautreue Priester beschimpft, gefoltert und verhaftet“. Gezielte Verfolgungen moskautreuer Priester wurden den „Unierten und Schismatikern“ zugeschrieben. Der Moskauer Patriarch wandte sich am 20. August 2014 sogar an die UNO, den Europarat und die OSZE mit der Forderung, sie solle Gewalt gegenüber moskautreuen orthodoxen Priestern nicht gleichgültig gegenüber stehen.

Die angeschuldigten Kirchen wiesen die Vorwürfe als von „Quellen russischer Propaganda“ geleitet zurück. Die griechisch-katholische Kirche erklärte, dass die Situation „die Tragödie des ganzen Volkes, der Anhänger aller Konfessionen und aller Schichten der Gesellschaft“ sei. Es sei unzulässig, den Konflikt auf die interkonfessionelle Ebene zu übertragen, dieses würde die Spaltungen in der ukrainischen Gesellschaft nur vertiefen.

Auf der anderen Seite warf der Vatikanbotschafter in Kiew, Erzbischof Thomas Gullickson, der russischen Regierung vor, einen unerklärten Krieg zu führen. „Der nichterklärte Krieg, den die Russische Föderation gegen die Ukraine führt, hat das ohnehin durch eigene und ausländische Plünderer, nicht nur Russland, schwer geprüfte Land destabilisiert… Die Gefahr der Unterdrückung der griechisch-katholischen Kirche besteht in allen Teilen der Ukraine, wenn Russland dort die Macht an sich reißt oder durch Terrorakte seine Aggression fortsetzt.“

Auf der Krim seien „einige, wenn nicht gar alle der dort tätigen katholischen Priester ständigen Drohungen der Behörden ausgesetzt“. Einige Geistliche hätten die Halbinsel bereits verlassen müssen. Positiv sei, dass die neue Regionalregierung offensichtlich die römisch-katholische Caritas der Krim anerkannt habe.

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