Zwang für Lehrer und Schüler zur E-Smog-Didaktik?
Prof. Dr. Werner Thiede
Liskircherstraße 15, 93049 Regensburg
Die digitale Bildung an deutschen Schulen zu verbessern, ist ein politisches Ziel der Bundesregierung und der Länder. Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer etwa wünscht sich, dass die digitale Revolution „in allen Lebensbereichen, von den Schulen bis zur Kultur“, die Herrschaft ergreift. Offenbar geniert man sich nachhaltig angesichts des schlechten Abschneidens von Schülern in Deutschland bei einer internationalen Studie zu Computer-Kompetenzen im vorigen Jahr: Solch ein Image stehe im Widerspruch zum Anspruch einer fortschrittlichen Bildungsnation, heißt es.
Auch die Kirchen sind seit jeher für Bildung – und haben offenbar wenig gegen deren digitale Ausgestaltung einzuwenden. So hat die 11. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im November 2014 bekundet: „Als evangelische Kirche gestalten wir den digitalen Wandel mit und vertrauen auch in der digitalen Gesellschaft auf Gottes Begleitung.“ Doch unumstritten ist dieser Trend keineswegs.
Schädlich für die geistige Entfaltung von Kindern
Namentlich seit dem internationalen Bestseller „Digitale Demenz“ aus der Feder des Ulmer Hirnforschers Manfred Spitzer hat sich herumgesprochen, dass es nicht unproblematisch ist, bereits Minderjährige an digitale Geräte heranzuführen. Spitzer weiß: „Die Obama-Administration verfolgt das Ziel, bis 2017 jedem Schüler und Studenten ein E-Lehrbuch zur Verfügung zu stellen. Auch europäische Regierungen sind von einer Art digitalem Fieber ergriffen; sie wollen so schnell wie möglich die digitale Revolution in Klassenzimmern und Universitäten ausrufen.“ Doch nach wie vor wird die Wirkung entsprechender Geräte und Methoden aufs Lernen, ja auf das leibliche und seelische Befinden von Kindern und Jugendlichen viel zu wenig kritisch hinterfragt. Vielmehr erweist sich die „Digitalisierung der Bildung“ als Teil einer Gesamtstrategie für den Umbau zur Industrie 4.0, die sich riesige Gewinne ausrechnet.
Schon warnen weitere Wissenschaftler von der digitalen Revolution des Lernens. So heißt es in dem neuen Buch „Die Lüge der digitalen Bildung – Warum unsere Kinder das Lernen verlernen“ von Professor Gerald Lembke, Studiengangleiter für Digitale Medien in Mannheim, und Diplomvolkswirt Ingo Leipner: Wenn es nach Wirtschaft und Politik gehe, würden Kindergärten und Schulen massiv mit WLAN, Tablets und andere digitalen Wunderwaffen aufrüsten, während an Lehrern und Erziehern gespart werde. Die Bildschirme fräßen zusehends die Lebenszeit der Kinder – dabei sei es aus entwicklungspsychologischer Sicht fatal, vor dem zwölften Lebensjahr auf digitale Medien zu setzen. Die Autoren fragen: Wie sollen Kinder und Jugendliche ihre kognitiven Fähigkeiten entwickeln, wenn digitale Medien sie ständig aus der Wirklichkeit herausreißen? „Kinder brauchen eine starke Verwurzelung in der Realität, bevor sie in virtuelle Abenteuer stürzen. Ihr Gehirn entwickelt sich besser, wenn kein Tablet oder Smartphone reale Welterfahrung verhindert.“ Weiter geben Lembke und Leipner zu bedenken, dass in unserer ohnehin fragwürdigen Überwachungskultur die Überwachung des Lernverhaltens beim sogenannten E-Learning keineswegs zu begrüßen sei. Und sie zitieren die Hirnforscherin Gertraud Teuchert-Noodt: „Kinder werden quasi gezwungen, sich in Tablets und Co. zu vernarren. Das digitale Feuerwerk schneller Videos und bunter Animationen löst ein Reizbombardement aus, das auf den Hippocampus niedergeht. Sein Belohnungssystem überdreht, es werden unaufhaltsam pathologisch veränderte Frequenzen abgefeuert, die das Stammhirn massiv überfordern. Bestimmte Module reifen vermutlich zu schnell und unzulänglich. Das alles geschieht in einem Alter, in dem das Stirnhirn nicht im Ansatz in der Lage ist, die notwendige Kontrolle über kognitive Konflikte auszuüben. Wie ein traumatisches Erlebnis wird sich dieser Vollrausch auf das Stirnhirn auswirken, wenn weitere Negativfaktoren dazukommen. Ein Super-GAU bei der Gehirnentwicklung.“
Aus guten Gründen warnt nicht zuletzt der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus, von einer „totalen Computerisierung des Klassenzimmers“: Sie würde Flüchtigkeit und Konzentrationsmangel fördern sowie das Durchhaltevermögen verringern. Der schöne Umstand, dass E-Books den Schulranzen leichter machen, wiegt die offenkundigen Nachteile der digitalen Revolution gerade auch auf pädagogischem Gebiet nicht auf.
Kein Wunder, dass Ende Juli 2015 die Deutsche Presse-Agentur verbreitete: Smartphones, Tablets und Computer bleiben nach Meinung von Kinderärzten trotz neuester Entwicklungen schädlich für die geistige Entfaltung von Kindern. Das Argument, Kinder sollten möglichst früh an digitale Technik herangeführt werden, um später einer weithin digitalisierten Arbeitswelt gerecht zu werden, hält Till Reckert vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) wenig: „In unseren Praxen sehen wir eher das Gegenteil: Je mehr und je früherer Medienkonsum im Kindes- und Jugendalter, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder mit dem Leben und dann auch mit Medien nicht gut zurechtkommen.“ Er vermutet: „Wer früh und ausschließlich googelt, um zu seinen Informationen zu kommen, wird später ein schlechterer Rechercheur.“
Strahlengewitter im Klassenzimmer?
Hinzu kommt die allzu gern tabuisierte Problematik gepulster elektromagnetischer Hochfrequenz-Strahlung bei Tablets und Smartphones, die ja über gar keinen Kabelzugang verfügen. Wireless gilt als schick; doch die potentiellen gesundheitlichen Kurz- und Langzeitschädigungen durch entsprechende Technologien werden oft übertüncht durch ihre geradezu magische Faszinationskraft einerseits und wirtschaftliche Profit-Interessen andererseits. Peter Hensinger von der Verbraucherschutz-Organisation Diagnose-Funk weiß: „Die Ergebnisse internationaler Forschungen verdeutlichen die Brisanz des Smartphone- und WLAN-Hypes, besonders wenn in Zukunft in Schulklassen online mit Tablets gelernt werden soll: 30 surfende Schüler erzeugen im Klassenzimmer ein regelrechtes Strahlengewitter!“ Angesichts der Tatsache, dass Kinder und Jugendliche heutzutage oft stundenlang digitale Endgeräte nutzen und sich damit permanent einem Schädigungspotenzial aussetzen, ist der Einsatz von funkgestütztem Lernmaterial und WLAN-Strahlung an Schulen besonders im Wachstumsalter riskant.
Manche Mobilfunk-Studien belegen eine Vielzahl von Beeinträchtigungen weit unterhalb der geltenden Grenzwerte. Eine russische Verlautbarung zählt hierzu bei Kindern Störungen des Herzens und Störungen des Immunsystems sowie – für die Schule besonders bedeutsam – Kopfschmerzen, Tagesmüdigkeit, Reizbarkeit und Nervosität, Lern- und Verhaltensstörungen. Sogar der Chef des belgischen Mobilfunkbetreibers Belgacom hat noch vor wenigen Jahren Schülern geraten, kein WLAN zu nutzen. In diesem kritischen Sinn gab es auch WLAN-kritische Empfehlungen der deutschen Bundesregierung, des bayerischen Landtags und des Philologenverbands Baden-Württemberg. Diese Warnungen scheinen aber inzwischen vergessen, da man breitflächig daran geht, immer mehr Schulen systematisch mit WLAN auszustatten. In einer Presseinformation des Umweltbundesamtes hieß es noch 2013: „WLAN-Access-Points, WLAN-Router und Basisstationen von Schnurlostelefonen kommen am besten in den Flur oder einen anderen Raum, in dem man sich nicht dauernd aufhält.“ Eine Recherche der Verbraucherorganisation Diagnose-Funk kam mittlerweile auf 38 Studien zu WLAN, die dessen Risikopotential nachweisen. Ist das den digital fanatisierten Bildungspolitikern egal? Hatte nicht erst voriges Jahr der Ärztearbeitskreis Digitale Medien Stuttgart, dem 20 Medizinerinnen und Mediziner aus Baden-Württemberg angehören, die Einführung von Tablets, Smartphones und WLAN als Unterrichtsmedien an Schulen als unkritische Übernahme eines Fortschritts-Hypes gebrandmarkt? In einem Offenen Brief bemängelten die Ärzte, dass die aus der Wissenschaft und Medizin vorgebrachten Bedenken zur Nutzung digitaler Medien in den Schulen nicht beachtet würden.
Auch eine international zusammengesetzte Wissenschaftler-Vereinigung namens BioInitiative Working Group warnt inzwischen entschieden vor dem Einsatz drahtloser Technologie in Schulen: „Grundsätzlich handelt es sich um ein nicht reguliertes Experiment an der Gesundheit und dem Lernverhalten von Kindern. Mikrowellen von Wireless-Technologie unterbrechen Denkvorgänge – was könnte für das Lernen schlimmer sein?“ Technologie lasse sich auf eine sicherere Art und Weise über drahtgebundene Geräte einsetzen, da diese nicht die Mengen an biologisch zerstörender Mikrowellenstrahlung produzieren. Der kanadische Strahlenexperte Darius Leszczynski hält fest: „Wir können mit Recht darüber besorgt sein, was mit Kindern geschehen könnte, die sehr jung sind und sieben bis acht Stunden kontinuierlich der Wi-Fi-Strahlung ausgesetzt sind. Es ist eine verantwortungsvolle Vorsichtsmaßnahme, den Wi-Fi-Betrieb in den Schulen zu verbieten.“ Eine digitale E-Smog-Didaktik sollte sich nicht als pädagogische Selbstverständlichkeit etablieren dürfen.
Kirchliches Wächteramt angesichts der digitalen Revolution
Bildungspolitik muss ganzheitlich verstanden werden, also Leib und Seele mit berücksichtigen. Sie darf nicht zum Türöffner für ökonomische Verwertungsinteressen werden. Will sie Medienkompetenz erreichen, so kann diese gerade nicht darin bestehen, junge Menschen den Medien gezwungenermaßen auszuliefern, sondern ihnen Mündigkeit, also auch mögliche Kritik und Distanz ihnen gegenüber beizubringen. Der Lehrer Arne Ulbricht zum Beispiel votiert in seinem gerade erschienenen Buch „Schule ohne Lehrer?“ entschieden dafür, die Schulen sollen doch in erster Linie Alternativen zum dauerhaften Internetkonsum aufzeigen.
Kirchen könnten und sollten namentlich über die ihnen verbundene Religionslehrerschaft dazu beitragen, dass die Freiheit im Umgang mit digitalen Geräten gewährleistet bleibt. Dazu gehört auch die negative Freiheit, sie wegen ihrer bedenklichen Eigenschaften nach Möglichkeit zu meiden oder sehr begrenzt zu verwenden. Im Sommergespräch der evangelischen Akademie Tutzing haben kürzlich die Professorin Johanna Haberer und die IT-Spezialistin und Juristin Yvonne Hofstetter eindrücklich vor den Unfreiheiten gewarnt, die sich durch die Digitalisierung unserer Kultur auftun. Und sie haben hierbei die wichtige Rolle der Kirchen unterstrichen: Wenn nicht von ihnen her, von woher sonst sollten wache, technologiekritische Einwände gegenüber der alles überrollenden High-Tech-Revolution unserer Tage kommen? Hat dies nicht jüngst sogar Papst Franziskus in seiner Enzyklika Laudato si deutlich gemacht? 2015 wurden kirchlicherseits endlich andere Töne als bisher laut.
Nachdem Kirchen von jeher in Sachen humane Bildung eine führende kulturelle Rolle inne hatten, sollten sie in der Tat auch angesichts der Ambivalenzen einer „digitalen“ Bildung das Wort ergreifen und deutlich erklären: In den Schulen dürfen weder Kinder und Jugendliche noch die Lehrerschaft zur Akzeptanz einer umstrittenen Technologie gezwungen werden. Ist doch, wie schon vor fast 70 Jahren der Philosoph Max Scheler deutlich gemacht hat, der Gedanke der Bildung nicht von der Idee der Humanisierung zu trennen. Und beim Prinzip der Menschlichkeit muss es aus christlicher Sicht namentlich auch auf dem Bildungssektor bleiben – gegen die Interessen eines digitalisierungsfanatischen Posthumanismus, der sich in unseren Tagen breit macht. Der Feuilletonist Eckhard Fuhr warnt mit Recht: „Die digitale Revolution droht die bürgerliche Kultur zu zerstören, auch wenn im Internet noch so heiß über neue Bürgerlichkeit diskutiert wird.“ Es ist an der Zeit, dass Theologie und Kirche die Zeichen der Zeit erkennen und sich bereit zeigen, für den Erhalt einer analogen Bildungskultur einzutreten.
Werner Thiede ist evangelischer Pfarrer und apl. Professor für Systematische Theologie an
der Universität Erlangen-Nürnberg und Publizist. Sein neuestes Buch heißt „Digitaler Turmbau zu Babel. Der Technikwahn und seine Folgen“ (München 2015).
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