Über den zunehmenden Verlust einer ‚Kultur des Dankes’

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Oder: Lohnt es sich, heute noch ‚danke’ zu sagen?

Michael Behnke
Oklahomastraße 12, 66482 Zweibrücken

Ich wurde während meines Dienstes an der Schule schon sehr oft mit Austauschprogrammen, Studien- und Klassenfahrten betraut, meist in Stellvertretung eines erkrankten Kollegen oder weil man keinen Kollegen für eine solche Fahrt finden konnte. Was mir nach solchen Fahrten immer öfter auffiel und welche Schlüsse ich daraus ziehe, will ich nun exemplarisch an einer Exkursion während meines letztjährigen Kanada-Aufenthaltes zeigen.

Alle kanadischen und deutschen Schüler (insgesamt 56 Personen) hatten einen Tagestrip nach Toronto unternommen. Ein pensioniertes Lehrerehepaar, Lou und Rick Leroux, hatten sich auch in diesem Jahr unentgeltlich bereit erklärt, die Stadtführung zu übernehmen. Dank der kompetenten Führung der beiden hatten wir alle einen wunderbaren und erlebnisreichen Tag erlebt. Wieder zurück an der I.S.S. („Inisdale Secondray School“ in Barrie, der kanadischen Partnerstadt von Zweibrücken) fällt mir etwas auf: Beim Aussteigen gehen alle kanadischen Schüler an Rick Leroux und seiner Frau vorbei und bedanken sich herzlich bei ihnen, wohingegen unsere Schüler acht- und grußlos den Bus verlassen. Bei anderen Fahrten machte ich dieselbe Beobachtung und sie sollte sich bis zum Ende des Austausches wiederholen: Kanadier bedankten sich permanent auf herzliche Weise, unsere Schüler hingegen nahmen es stumm zur Kenntnis. So wurde auch uns Begleitlehrern mehrmals öffentlich dafür gedankt, dass wir unsere Ferien geopfert und unsere Familien allein gelassen haben, um diesen Austausch zu ermöglichen. Zurück in Deutschland warteten zwar alle Eltern an der Schule auf ihre Kinder, aber weder Schüler noch Eltern äußerten uns gegenüber ein Wort des Dankes, als wir nach 15-stündiger Reise mit dem Baus ankamen. Innerhalb von fünf Minuten waren alle 28 Schüler in den Autos ihrer Eltern und verschwanden.

Im Grunde hätte ich mich über das „deutsche“ Verhalten gar nicht verwundert, war ich es doch gewöhnt von all den anderen Austauschprogrammen und sonstigen Unternehmungen, die ich begleitet hatte. Nun wunderte es mich doch und ich fragte mich: Warum haben wir Deutsche offenbar das Danken verlernt? Zunächst möchte ich weder Eltern noch Schülern niedere Motive wie Verachtung oder Arroganz oder auch nur Gleichgültigkeit vorwerfen, das wäre wahrlich falsch, bemerke ich doch bei mir selbst hin und wieder ein Mangel an Dankeskultur. Aber warum ist uns diese Haltung weitgehend verloren gegangen, ist sie doch Ausdruck unserer Achtung und Aufmerksamkeit gegenüber unseren Mitmenschen, die uns irgendeinen Gefallen getan haben.

Ich will nun den Versuch einer Antwort wagen, ohne den Anspruch zu erheben, damit den Kern der Sache getroffen zu haben. Zunächst drängt sich mir der Eindruck auf, dass wir alle, Lehrer, Eltern und Schüler, davon ausgehen, dass wir Lehrer ja für unseren Dienst gut bezahlt werden und wir bei der Begleitung eines Austauschs eben auch nur unseren Dienst tun, wofür eigens kein Dank mehr notwendig ist; zumal gerade bei dem Kanada-Austausch die Unkosten der Lehrer auf die Schüler umgelegt werden. Dazu kommt nun auch die wohl unterschwellige Wahrnehmung, dass wir Lehrer ja auch einen ziemlich großen Nutzen aus diesem Aufenthalt für uns ziehen dürften, denn warum anders hätten wir es denn sonst getan? Wir wurden frei in Familien betreut und bewirtet, haben sehr viele Bekanntschaften geknüpft, haben eine lange Reihe touristischer Attraktionen gesehen und erklärt bekommen, konnten unser Englisch wieder kostenlos auffrischen usw. All das sind ja „geldwerte“ Leistungen, die wir geschenkt bekamen und die wir nicht versteuern brauchen. Also warum sich darüber hinaus auch noch bedanken? Das wäre ja wohl übertrieben, oder? Da ich selbst nun auch Deutscher bin, stimmte ich diesen Gedanken sogar zu, denn ich denke offenbar selbst so. Also warum soviel Aufsehen übers Dank-Sagen?

Auf einer tieferen Ebene wird mir allerdings bewusst, dass wir Deutsche (oder Europäer, wer weiß?) offenbar unbewusst das Menschenbild des ökonomischen Mainstream internalisiert haben. Dieses Menschenbild geht davon aus, dass wir wesentlich „homo oeconomicus“ seien, die stets rational ihren eigenen Vorteil und Nutzen kalkulieren und verfolgen. Somit haben alle unsere Handlungen einen rational-egoistischen Sinn, nämlich den, unseren persönlichen Nutzen zu optimieren. Das trifft auch zu, wenn wir für andere etwas tun, denn selbst Altruismus, Freundlichkeit und Sympathie sind lediglich kalkulierte soziale „Investitionen“, die uns kurz- oder mittelfristig einen persönlichen Vorteil verschaffen sollen. Selbst wenn ich etwas gerne verschenke und ich keine Gegenleistung erwarte, habe ich in Wahrheit nur ein selbstsüchtiges Interesse, z.B. meine Lust auf Freude, optimiert. Flankiert und verstärkt wird das Bild vom „homo oeconomicus“ vom Darwinismus, wonach nur der „Tüchtigste“, also Angepassteste („the fittest“) überleben wird, und dem Menschenbild der Soziobiologie, die davon ausgeht, dass alle menschlichen Handlungen nur egoistischer und kompetetiver Natur seinen mit dem Ziel, das eigene Erbgut im Spiel zu halten.

Wenn nun dieses Menschenbild uns Deutsche unterschwellig geprägt hat – so meine Hypothese –, dann müssten sich Schüler und Eltern nicht bei uns Lehrern bedanken, sondern umgekehrt wir Lehrer bei den Eltern, die uns durch ihr finanzielles Engagement die Möglichkeit gegeben haben, Kanada zu ungemein günstigen Konditionen zu erleben. Das wäre logisch! Aber ist es nicht gleichzeitig absurd? Wie lässt sich das erklären?

Hier muss man wohl noch etwas tiefer graben und zwei soziale Modelle auseinander halten, die heute irgendwie diffus miteinander verwoben sind, sich aber vor einem zeitgeschichtlichen Hintergrund unterscheiden lassen. Vor nicht allzu langer Zeit – und mancher insbesondere ältere Kollege mag das immer noch so sehen – leistete man als Lehrer einen außergewöhnlichen Dienst für die Schulgemeinschaft, wenn man für andere, also zum Beispiel für eine Gruppe von Schülern, über das Pflichtdeputat hinaus Energie, Freizeit, Ferien, eine hohe Verantwortung, die Trennung von der Familie und das in der Regel beengte Wohnen in einer fremden Gastfamilie mit allen damit verbundenen persönlichen Einschränkungen als Opfer auf sich nahm. Dieser Kollege konnte darum auch von der Gemeinschaft im Gegenzug Dank und „Ehre“ mit Fug und Recht erwarten. Sein besonderes Opfer für die Gemeinschaft wurde von dieser in besonderer Weise gewürdigt und anerkannt.

Heute scheint ein anderes Denken zu herrschen. Anscheinend erfolgt jetzt ein rationales Kalkül darüber, ob sich die besonderen „Investitionen“ von Freizeit, Ferien usw. in ein schulisches Projekt namens Austausch für einen Kollegen in persönlicher Weise rentieren bzw. einen möglichen Profit erbringen könnten. Man investiert also im Blick auf eine entsprechende persönliche Option, verbunden mit der Frage: „Rechnet sich das für mich?“ (z.B. günstiges Kennenlernen eines fremden Landes, Auffrischung bzw. Vertiefung der Kompetenz in einer Fremdsprache, Aufbau von persönlichen Kontakten, die man für spätere Reisen nutzen kann, die Option einer Beförderung usw.).

Nach diesem Modell übernimmt ein Kollege ein solches Programm prinzipiell für sich selbst und im Sinne der Wahrnehmung seiner eigenen Interessen und nicht für andere. Wenn er sich im Rahmen eines Austauschprogramms dennoch für andere zur Verfügung stellt, dann gehört das lediglich zu seinem kalkulierten Kostenaufwand, den er so gering wie möglich zu halten versuchen wird. In diesem individualistischen „Nützlichkeitsmodell“ erübrigt sich natürlich jeder Dank, denn dieser ergibt sich ja in der abschließenden Bilanzierung des Projektes durch den Kollegen selbst. Ist das Projekt positiv entsprechend seiner Interessen verlaufen, so wird er seinen Profit mit innerer Genugtuung „einstreichen“. War es ein Flop, so wird er als gewiefter Geschäftsmann verstehen, seine „Verluste“ abzuschreiben und von weiteren Projekten dieser Art abzusehen. Sollten ihm dennoch einige Eltern für sein Engagement danken, wird er das eher verwundert und vielleicht verständnislos zur Kenntnis nehmen. Für ihn wird es keine entscheidende Rolle mehr spielen.

Vor diesem Hintergrund wird nun auch verständlich, warum sich gerade ältere Kollegen und überhaupt ältere und alte Menschen so oft über eine immer schwächer werdende Kultur des Dankes beklagen, denn sie wurden noch in einer Haltung erzogen, die einen unentgeltlichen Dienst an der Gemeinschaft als selbstverständlich nahe legte. Aber die persönlichen Haltungen sind heute offenbar dabei, sich grundlegend zu verändern. Dem uneigennützigen Dienst an der Gemeinschaft, verbunden mit Verzicht und persönlichem Opfer, folgt nun ein individualistischer Utilitarismus, bei dem sich der Einzelne nur noch im Dienst für seine eigenen Interessen sieht, die er selbst rational kalkuliert und evaluiert. Die Gesellschaft wird vor diesem Hintergrund zu einem rein funktionalen Geschehen des ständigen Wettbewerbs, in dem ein jeder im rein rational-ökonomischen Interesse bestrebt sein dürfte, seine Investitionen einzubringen und seine materiellen und immateriellen Profite – z.B. in Form von Geld und Lustgewinn – einzustreichen. Kurz: Die Gesellschaft wird zum allumfassenden Markt und jeder wird mit allem, was er tut, zum Marktteilnehmer, also zum Konsumenten und Produzenten, weil schlicht alles unter ökonomischen Gesichtspunkt gesehen wird.

Von ökonomischer Nächstenliebe und Pädagogik

Gibt es in unserer Gesellschaft Anzeichen für eine solche Entwicklung? Die Antwort ist unschwer zu erbringen. So klagen schon seit langem Personenverbände, die sich traditionell im Dienst an der Gesellschaft sehen, unter personeller Auszehrung: Chören, Vereinen, Gewerkschaften, Parteien, Wohlfahrtsverbänden und Kirchen zeigen dabei besonders die jungen und jüngeren Menschen den Rücken. Uneigennützige Arbeit ist „out – mega out“! Dafür werden Mini-Jobs verzweifelt gesucht. Der zeitliche Einsatz muss sich pekuniär lohnen und zwar möglichst steuerfrei, braucht man doch das Geld, um sich in einem Fitness-Studio einzukaufen, um in die Disko zu gehen, sich Reisen zu gönnen und ein Auto zu kaufen. Junge Menschen, die sich dennoch unentgeltlich engagieren, kommen hierbei schnell unter Erklärungszwang, denn irgendwie ist ihr Verhalten im Lichte der internalisierten „Selbstvermarktung“ „selbstschädigend“ oder ganz einfach „bescheuert“. Hier kommt in der Regel der Spruch: „Dafür kann ich mir nichts kaufen!“

Dieses individualistisch-ökonomistische Gesellschaftsmodell macht selbst vor Schulen, Kirchen, Krankenhäusern, Pflegediensten und Altenheimen nicht Halt, denn all diese traditionell gemeinnützigen Dienste – auch die kirchlichen! – wurden in den letzten Jahren in ihren Strukturen grundlegend „ökonomisiert“ und damit auf Effizienz und Rendite getrimmt, mit all ihren widrigen Begleiterscheinungen wie „Outsourcing“ und „Lohndumping“ für viele Mitarbeiter. Dazu kommt die Modulisierung und Mechanisierung der Arbeitsabläufe bis zum kleinsten Handgriff. Pflegekräfte mutieren dadurch zu seelenlosen Robotern, die nur so lange effektiv arbeiten können, so lange sie sich während ihres Dienstes jedes Mitgefühls und jeder Anteilnahme am Leiden des Patienten enthalten. Die Ökonomisierung in der Pflege nimmt insofern billigend in Kauf, aus empfindsamen, sozial engagierten Mitarbeitern abgestumpfte „Maschinen“ zu machen. Lässt sich dieses neue Arbeitskonzept innerhalb der kirchlichen Diakonie noch als tätige Nächstenliebe „verkaufen“?

In den Schulen werden seit Jahren die Klassen mit Lehrerstunden „bewirtschaftet“, Stunden für zusätzlichen Unterricht, müssen „erwirtschaftet“ werden und generell sollen alle pädagogischen Leistungen ständig „evaluiert“ und auf ihre „Effizienz“ hin  geprüft werden. Selbst in dem gegenwärtig favorisierten pädagogischen Konzept ist dieses Modell zu finden, das vom „konstruktivistischen Paradigma der Selbstsozialisation der Lernenden“[1] ausgeht. Da alles Wissen durch das „world-wide-web“ auch in den Schulen jederzeit zur Verfügung steht, geht es nun primär darum, den Schülern „Kompetenzen“ zu vermitteln, die sie in die Lage versetzen, eigenständig und kompetent Inhalte zu „präsentieren“. Sie müssen das nicht unbedingt in allen Einzelheiten verstanden haben, Hauptsache ist, dass sie selbstbewusst und rhetorisch gekonnt in der Lage sind, ihr „Produkt“ „an den Mann“ bzw. an die Klasse zu bringen. Wissen ist – so wird suggeriert – wie jedes andere Produkt prinzipiell herstellbar.

Wichtig ist insofern die Vermittlung der „Methoden“ zur Herstellung dieses „Produktes“. Kritisches eigenständiges und durchdringendes Denken bleibt dabei auf der Strecke, was offenbar billigend in Kauf genommen wird. Das Denken der Schüler wird durch diesen pädagogischen Ansatz an das individualistisch-utilitaristische Modell herangeführt, denn entscheidend für die Schüler ist im Endeffekt nicht das präsentierte Produkt, sondern der Profit in Form einer guten Note; und jeder Lehrer weiß, dass eine gute Note heute oft nichts anderes ist als ein veritabler Scheck, den man zu Hause bei Mama, Papa, Opa oder Tante einlösen kann. Auch in der Schule „dient“ insofern jeder Schüler seinen eigenen Interessen;  Schulchöre, Orchester, Arbeitsgemeinschaften dagegen leiden unter einem immer größeren Schwund interessierter Schüler.

Offenbar haben wir uns so sehr daran gewöhnt in „geldwerten“ Vorteilen zu denken, dass nicht nur traditionelle gesellschaftliche Gemeinschaften, Beziehungen und Verpflichtungen in den Hintergrund gedrängt wurden, vielmehr tun selbst wir Lehrer und Eltern eher unbewusst als bewusst vieles dafür, dieses neue Gesellschaftsmodell in den Köpfen junger Menschen zu verankern. Die heutige Verschiebung von Gemeinschaftsnormen zu Marktnormen hat der israelische Wirtschaftspsychologe Dan Ariely empirisch untersucht und beschrieben: „Wenn eine soziale Norm mit einer Marktnorm kollidiert, verschwindet erstere.“[2] Demnach vernichtet Geld sukzessive soziale Verbindlichkeiten. „Nur was einen Geldwert besitzt, ist … wertvoll. Auf diese Weise wird das Geld in der Moderne zu einer neuen Religion. Es stiftet Sicherheit, Gewissheit und verspricht Günstigenfalls auch eine gute Zukunft.“[3] Oder anders ausgedrückt: Die traditionell durch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft gestifteten sozialen Werte wie Sicherheit, Geborgenheit und Zukunft, werden nun für den Einzelnen durch Geld käuflich z.B. durch Versicherungen, Internet-Communities, Speed Dating, Chat Rooms usw. Danken muss man für all dies nicht mehr, nur noch bezahlen. Zu all dem muss man auch nicht mehr ein moralisch integres Mitglied einer Gemeinschaft sein, ein prall gefüllter Geldbeutel tut dies genauso.

Die ökonomisierte Gesellschaft und die christliche Botschaft

Der Verlust einer „Kultur des Dankes“ betrifft insofern nicht nur ein kleines Sahnehäubchen mitmenschlichen Umgangs, auf das man auch notfalls verzichten könnte. Es geht um mehr: Es ist schlicht ein äußeres Zeichen dafür, dass wir alle intensiv und mehr oder minder unbewusst daran arbeiten, unser Gesellschaftsmodell zu ändern. Das individualistisch-utilitaristische Marktmodell ist dabei, all unser Handeln und Denken zu durchdringen und wir fungieren hierbei als aktive Komplizen. Denn offenbar strebt der gesamtgesellschaftliche „Mainstream“ in diese Richtung. Nur dürfte das menschliche Miteinander dadurch um einiges kälter, distanzierter und gleichgültiger werden. Das neue Modell reduziert den Menschen auf seine persönlichen Interessen und die ständige Konkurrenz mit den anderen „Marktteilnehmern“. Dass der Mensch neben seinen egoistischen Interessen auch über Fähigkeiten wie Sympathie, Empathie und dem Streben nach Kooperation verfügt, gerät aus dem Blick und es besteht die Gefahr, dass diese menschlichen Kompetenzen verkümmern oder verloren gehen. Denn wenn das Modell vom „homo oeconomicus“ zusehends die Wirklichkeit codiert, wird es selbst irgendwann zur alles prägenden Wirklichkeit werden[4]. Kurz: Zum egoistischen „homo oeconomicus“ muss man erzogen werden, denn von seiner Natur her ist der Mensch keineswegs so schlicht egoistisch und eindimensional. Aber wie es scheint, sind wir alle dabei, mit Kräften dieses reduzierte Menschenbild in die Köpfe unserer Schüler und Kinder einzupflanzen.

Lohnt es sich, heute noch danke zu sagen? Ich will jedenfalls mehr darauf achten. Denn es geht hier nicht nur um eine schöne Konvention, es geht hier um nichts weniger als um mein „Seelenheil“. Die Konzentration auf den eigenen Nutzen als Lebensform nennt die Bibel schlicht „Habgier“ (Mk 7,22; Lk 12,15; Röm 1,29; Eph 4,19; 5,3; Col 3,5; 1.Thess 2,5; 6,18; 2.Ptr 2,3.14) und Dienst am Götzen „Mammon“ (Mt 6,24; Lk 16,9-13; Jak 5,1-6), der wie der Gott Moloch Menschenopfer fordert. Jesus und das frühe Christentum warnen eindringlich vor der Gefahr dieser Sünde und die kirchliche Tradition definiert die „Habgier“ als Todsünde. Man kann nicht Christ und habgierig zugleich sein. Beides schließt einander aus. „Man kann nicht Gott dienen und dem Mammon!“ Alle biblischen Texte machen das eindringlich deutlich, denn „Habgier“ bedeutet Abkehr von Gott und damit Abkehr vom Mitmenschen, der nur noch als lästiger Konkurrent, als Bittsteller oder als ausbeutbares „Humankapitel“ (cf. Jak 5,1-6) gesehen wird.

Ein Zweites kommt dazu: Der individualistisch-utilitaristische Ansatz impliziert das stete Bemühen des Einzelnen um radikale Selbstverwirklichung, Selbstverantwortung und persönliche Fitness, um im täglichen Konkurrenzkampf mithalten zu können. Dadurch ist es nichts anderes als eine Philosophie des steten Existenzkampfes und des Sieges, den nur die Besten gewinnen sollen, weil die „loser“ an ihrer Niederlage selbst schuld sind. Damit wird wieder einmal das „Recht des Stärkeren“ in unsere Gesellschaft eingeführt und unterminiert die allgemeinen Menschenrechte, unser Konzept von der sozialen Gerechtigkeit und unser christliches Menschenbild. In den Schulen kann man die ersten Früchte dieser Saat schon bestaunen. Denn unter Jugendlichen und Schülern erfreut sich dieses „Recht des Stärkeren“ einer immer größer werdenden Beliebtheit, denn das schlimmste Schimpfwort überhaupt ist im Moment „Du Opfer!“, und keiner will Opfer sein, denn damit ist man zum rechtlosen Außenseiter geworden, der dem allgemeinen Mobbing zum Fraß vorgeworfen wird.

Leider machen sich viele Kollegen das Ausmaß dieses Schimpfwortes nicht klar. Das Christentum wenigstens lebt von der Überzeugung, dass Gott vor allem auf der Seite der Opfer steht, hinter denen Christus selbst als schützender Anwalt die Hand über ihnen hält (Mt 25), deren Rechte er einfordert und die unter dem Segen seiner Seligpreisung stehen (Mt 5,3-11). Aber auch unser Sozialstaat sieht sich im Rahmen des gesellschaftlichen Ausgleichs auf der Seite der „Opfer“ und bietet ihnen eine materielle Grundversorgung. Besonders bedenklich erscheint es mir aber vor unserem geschichtlichen Hintergrund, dass es heute auf einmal wieder gesellschaftsfähig sein sollte, offen und abwertend über „Opfer“ zu reden. Damit öffneten sich wieder die Türen weit für soziale Ausgrenzungsprozesse, die wir heute nicht mehr für möglich gehalten haben[5].

Das individualistisch-ökonomistische Modell des gesellschaftlichen Mainstreams droht durch seine Folgewirkungen tiefe Wunden in unser human geprägtes Staats- und Sozialmodell, aber auch in unser christliches Welt- und Menschenbild zu schlagen, wenn wir weiterhin zulassen, dass alle unsere Lebensbereiche mit dem ökonomischen Paradigma durchdrungen werden. Es wird zwar mit dem neuen Paradigma viele Sieger geben, jedoch werden diese fröhlich auf den Gräbern von Hekatomben ihrer Opfern tanzen; sie werden die neuen Menschen sein.

Wie schrieb Nietzsche doch so trefflich und prophetisch über diesen neuen Menschen, den „Übermenschen“?

„Er ist kälter, härter, unbedenklicher und ohne Furcht vor der ‚Meinung’; es fehlen ihm die Tugenden, welche mit der ‚Achtung’ und dem Geachtet-werden zusammenhängen, überhaupt alles, was zur ‚Tugend der Herde’ gehört…. Er will kein ‚teilnehmendes’ Herz.“[6]

Entspricht das nicht der Lebensform des stahlharten und skrupellosen, allein auf seinen Vorteil bedachten Kapitalisten, zu dem uns das neue Paradigma machen will? Eine Welt ohne Liebe, ohne Mitgefühl, ohne bergende Gemeinschaft? Ein Leben ohne Vergebung, ohne barmherzige Hilfe, ohne Dank?

[1] Siehe dazu: Michael Felten, Schluss mit dem Bildungsgerede! Eine Anstiftung zu pädagogischem Eigensinn, Gütersloh 2012, S.44.

[2] Dan Ariely, Denken hilft zwar, nützt aber nichts. Warum wir immer wieder unvernünftige Entscheidungen treffen, 2008, S. 105.

[3] Richard David Precht, Die Kunst kein Egoist zu sein, München 2010, S. 318.

[4] Auf diesen Gedanken macht besonders Frank Schirrmacher aufmerksam: „Die Seele, die aus der Kälte kam“, in: DER SPIEGEL 7/2013, S.114.

[5] Giorgio Agamben sieht in seiner Trilogie zum „Homo Sacer“ diese Ausgrenzungsprozesse auch in den modernen demokratischen Gesellschaften am Werke.

[6] Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Der Wille zur Macht, Stuttgart 1964, S.641f.

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