Wie bei Schleiermacher „Philosophie und Ethik in der Religion ihre Einheit finden“

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Helmut Aßmann

Herzogstraße 74, 67435 Neustadt-Gimmeldingen

Und „wie sich die Gemeinschaft mit der Vollkommenheit und Seligkeit des Erlösers in der einzelnen Seele ausdrückt“

 

In der zweiten Rede – „Über die Religion – Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ aus dem Jahr 1799 – bezeichnet Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher die Religion als das Höhere gegenüber Philosophie und Ethik. Jeder Religionslehrer, der sich mit dem Fach Ethik an der Schule auseinanderzusetzen hatte und dabei wohl auch in Konkurrenz zu einem Kollegen stand, der das Fach Philosophie studiert hatte und Ethikunterricht erteilte, wird bei der These Schleiermachers erfreut aufhorchen. Es gibt hier also eine Lösung für das vertrackte Problem zwischen Religionsunterricht und Ethikunterricht, das an unsern Schulen meist so gelöst wird, dass die Schüler sich für eines von beiden entscheiden müssen, wobei der Ethikunterricht  vorwiegend von Ungetauften, Beschnittenen oder Dissidenten gewählt wird.

Ich hatte während meiner Unterrichtstätigkeit an zwei Ludwigshafener Gymnasien gelegentlich Gastrollen im Ethikunterricht zu spielen. Dabei stellte ich Folgendes fest: Ganz schlecht kam es bei den moslemischen Schülern an, wenn ich etwa Karl Barths Kritik des Religionsbegriffs entfaltete, wonach das Christentum keine Religion sei. Ich war dabei wohl vermeintlich im Begriff, das Feindbild des Islam, sprich: die christliche Religion, abzubauen oder gar aufzulösen. Dem Kollegen, der das Fach Ethik jedoch unterrichtete, gefiel die vorgetragene Theologie und er bestätigte mir, ich habe meine Aufgabe mit Erfolg gelöst. Ein anderer Kollege bat mich einmal zu den Schülern zu sprechen und ich setzte ein bei Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. „Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan. Und: Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“

Das wurde von den Ethikschülern dahingehend kommentiert, dass sie in ihrer Abiturzeitung von der Unfreiheit der Heiden sprachen, womit sie anscheinend ironisierend sich selbst meinten. Ein lehrreiches Missverständnis. Erkennt man doch daran, dass Luther sich in seiner Zeit an eine Gesellschaft wendete, in der es als selbstverständlich galt, dass jeder getauft und somit formal ein Christ war, während wir die Konfessionalisierung des Christentums und die Pluralisierung der Gesellschaft voraussetzen können. Eine Randgruppe bildeten für Luther die Juden, deren Rechte von Kaiser und Reich garantiert wurden, die ihm aber aus theologischen, christologisch-soteriologischen Gründen ein Dorn im Auge waren. Gleichwohl war ihm bewusst, dass die Juden die Sohnschaft, die Bundesschlüsse, die Verheißungen, die Väter, das Gesetz haben und dass schließlich der Christus nach dem Fleisch einer von ihnen ist, der da ist Gott über alles (Röm 9,5), mithin die Grundlagen der christlichen Ethik und die Grundlagen der christlichen Religion.

Für Schleiermacher waren die Ethik und die Philosophie, die er mit Kants kategorischem Imperativ einerseits und der platonischen Ideenlehre andererseits gleichsetzte, weit auseinander. Was er anstrebte, war keineswegs nur die Vermittlung zwischen der Kritik der Praktischen Vernunft, die die Religion ganz auf das Gebiet der Ethik verwies, und der Lehre Platos von den Ideen des Wahren, Schönen und Guten, mithin eine Vermittlung zwischen Philosophie und Ethik, sondern die Bestimmung dessen, was Religion und Frömmigkeit ihrem Wesen nach und im Unterschied von den beiden ersteren sind. Wenn nämlich in der Religion Ethik und Philosophie ihre Einheit finden, wie er in der zweiten Rede schreibt, muss diese eine eigene Wahrheit besitzen, die von der Wahrheit der Ethik und der Philosophie zu unterscheiden ist.

In der Dialektik hatte Schleiermacher seine Lehre vom Menschen entfaltet. Dort bestimmte er den Menschen als ein Wesen aus Vernunft, Wille und Gefühl. Daraus folgt für ihn, dass der Wille der Gegenstand der Ethik ist, die Vernunft der Gegenstand der Philosophie und das Gefühl der Gegenstand der Religion.

In § 3 der Glaubenslehre von 1830/1831definiert Schleiermacher sein Verständnis von Frömmigkeit. Er sagt: „Die Frömmigkeit, welche die Basis aller kirchlichen Gemeinschaften ausmacht, ist rein für sich betrachtet weder ein Wissen noch ein Thun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewusstseins.“

Das unmittelbare Selbstbewusstsein als der Ort der Frömmigkeit ist vom gegenständlichen Selbstbewusstsein zu  unterscheiden, das im Unterschied zu diesem vermitteltes Selbstbewusstsein ist. In § 4 unterscheidet Schleiermacher „das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit“ als Gefühl von allen andern Gefühlen dadurch, „daß wir uns unserer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung zu Gott bewußt sind“.

Religion ist also Gefühl, Gefühl ist Frömmigkeit, Frömmigkeit ist unmittelbares Selbstbewusstsein, unmittelbares Selbstbewusstsein ist schlechthinniges Abhängigkeitsbewusstsein, schlechthinniges Abhängigkeitsbewusstsein ist das Bewusstsein, in Beziehung zu Gott zu sein, das heißt, es ist Gottesbewusstsein, wie Schleiermacher es im ersten Teil der Glaubenslehre in den §§ 50-56 ausführt, wo er die Eigenschaften Gottes aus dem frommen Selbstbewusstsein des Menschen deduziert und nicht aus dem Begriff Gottes, wie es die Scholastik getan hat, indem sie die Gotteslehre zum Gegenstand der reinen Vernunft gemacht hat; eine Vorgehensweise, die nach Kants „Kritik der reinen Vernunft“ – und darin folgt Schleiermacher Kant – keine Möglichkeit der Theologie mehr sein kann.

Eine Lehre von Gott lässt sich also nur aus dem frommen Selbstbewusstsein entfalten, nicht aus der Vernunft; sie ist Gegenstand der Religion, nicht der Philosophie. Diese Position Schleiermachers widerspricht auf eminente Weise der Vernunftreligion etwa eines Herbert von Cherbury, sowie auch Spinozas Pantheismus sive deus – sive natura.

Wenn nun der Wahrheitsanspruch der Religion in der Empirie der Frömmigkeit liegt, aus der allein die Lehren der Religion deduziert werden können, wie kann dann Schleiermacher in der zweiten Rede sagen, dass Philosophie und Ethik in der Religion ihre Einheit finden und diese dann im Vergleich zu jenen das Höhere ist, da immer dann, wenn zwei in einem Dritten ihre Einheit finden, das Dritte im Verhältnis zu jenen das Höhere ist? Dieser Gedanke enthält eine „Phänomenologie des Geistes“ mit der Religion als höchster Geistestätigkeit.

In seinem gleichnamigen Werk hat Hegel 1807 den Gedanke ausgesprochen, dass These und Antithese in der Synthese aufgehoben sind, und das heißt, dass sie in ihr ihre Einheit finden. Wie bei Schleiermacher die Religion das Höhere im Verhältnis zu Philosophie und Ethik ist, ist auch bei Hegel die Synthese das Höhere im Verhältnis zu These und Antithese, die in der Synthese ihre Einheit finden. Während aber bei Hegel die Dialektik des Geistes zur Dialektik der Geschichte wird, bezieht Schleiermacher, der seine „Reden über die Religion“ bereits 1799, also acht Jahre vor Hegels „Phänomenologie des Geistes“ veröffentlich hatte, den Geist auf die christliche Glaubenslehre. Dabei geht Schleiermacher von der Idee der Religion aus, nicht von der Idee Gottes. Schleiermachers Lehre von der Einheit von Philosophie und Ethik in der Religion ist eine Religionsphänomenologie, die er in den Lehnsätzen aus der Religionsphilosophie in den §§ 7-10 der Einleitung zur Glaubenslehre ausführt.

Martin Redeker hat in seinem Vorwort zur 7. Auflage der „Christlichen Glaubenslehre“ (1960, Berlin) S. XXXII kritisch angemerkt: „Die christlich frommen Gemütszustände sind nicht identisch mit der Offenbarung, die christliche Glaubenserfahrung ist das Medium der Offenbarung, aber nicht die Offenbarung selbst. Die Antithese gegen die scholastisch-theologische Denkweise hat Schleiermacher dazu verführt, daß er diesen Sachverhalt nicht klar genug hervorgehoben hat. Mit dieser Einschränkung darf man vielleicht behaupten:  Schleiermachers theologische Denkmethode und seine Zerstörung der scholastischen Denkweise ist die Anwendung der Lehren des dritten Artikels vom Hl. Geist auf die Prinzipien des theologischen Denkens, eine Anerkennung, die selbst Karl Barth, wenn auch mit gewissen Einschränkungen dem Verfasser der Glaubenslehre zugesteht (Dogmatik im Grundriss, 1947, S. 160 f.).“

Wenn Schleiermacher in den Reden die Religion die höchste Geistestätigkeit des Menschen nennt, müssen die Lehren der Religion aus dieser Geistestätigkeit entfaltet werden, das heißt aber aus dem Geist des Menschen, nicht aus dem Geist Gottes. Ich glaube nicht, dass Schleiermacher, wie Martin Redeker schreibt, „die Lehren des dritten Artikels vom Heiligen Geist auf die Prinzipien des theologischen Denkens“ angewandt hat, sondern dass er von der Lehre von der Religion als höchster Geistestätigkeit des Menschen aus die theologischen Lehrsätze entfaltet hat, wie sie aus dem frommen Selbstbewusstsein hervorgehen.

Was für Schleiermacher schwierig ist, ist die Beantwortung der Frage, wie der Christus als der historische Ursprung des frommen Selbstbewusstseins zu denken ist, weil ohne ihn sein System eine Synthese von persönlicher Glaubenserfahrung einerseits und den Lehnsätzen aus der Ethik, der Religionsphilosophie und der Apologetik andererseits wäre, mithin aus Wissenschaften, die wir heute als Kulturanthropologie, Religionsphänomenologie und  Theologie bezeichnen.

Diese Frage zu beantworten ist die Aufgabe der Christologie, die Schleiermacher in den §§ 91-112 der Glaubenslehre behandelt unter der Überschrift „Vom Zustande des Christen, sofern er sich der göttlichen Gnade bewusst ist“. Ob es ihm gelungen ist, diese Frage zu beantworten, kann im Rahmen dieser Abhandlung nicht beantwortet werden. Die Methodik seines Vorgehens ist zunächst die einer klassischen Dogmatik wie etwa der „loci theologici“  Philipp Melanchthons, wenn er in einem ersten Hauptstück von der Person Christi und vom Geschäft Christi und in einem zweiten Hauptstück von der Wiedergeburt und der Heiligung handelt. Neu ist dagegen der Ansatz Schleiermachers, wenn er das zweite Hauptstück einleitet mit den Worten: „Von der Art, wie sich die Gemeinschaft mit der Vollkommenheit und Seligkeit des Erlösers in der einzelnen Seele ausdrückt.“ Diese Bestimmung erinnert in ihrer Betonung der Gemeinschaft mit Christus an die §§ 75-85 des Heidelberger Katechismus, in denen er, sieht man einmal von der rüden Zurückweisung der katholischen Messe ab, die Gemeinschaft des Einzelnen mit dem Christus beim Abendmahl einerseits und der Gemeindeglieder untereinander andererseits als die Bedeutung des Sakraments des Abendmahls kennzeichnet.

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